Читать книгу Das Gorbatschow Vermächtnis - Achim Albrecht - Страница 11

Kapitel 5

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Orest bog den Ast der Blaufichte näher zu sich heran. Er konnte die Hunde hören. Sie waren noch weit entfernt, aber sie kamen näher. Sie hatten Witterung aufgenommen. Orest wusste, dass das Hundegebell seine Moral untergraben sollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Meute darauf abzurichten, lautlos auf Jagd zu gehen, aber lautlose Jagd war etwas für Scharfschützen und Hinterhalte. Hier ging es um eine andere Taktik. Das Wild sollte den Atem des Verfolgers im Nacken spüren. Es sollte mit der tödlichen Entschlossenheit der Verfolger konfrontiert werden, mit ihrer Überlegenheit.

,Ihr müsst das Panikzentrum im Hirn der Beute aktivieren‘, hatte ihr Ausbilder doziert und in rascher Folge Bilder eines Rehs auf die Leinwand geworfen. Furchtsam aufgerissene Augen, ein ängstliches Maul und der alles überlagernde Fluchtimpuls. Losrennen, kopflos, in irgendeine Richtung, Sprünge über Totholz und Gebüsche, ein wildes Davonjagen. Leichte Beute für die Jäger, die in einem losen Ring nur noch auf ihr Opfer warten mussten. Waffen im Anschlag. Die Hunde mit einem Befehl ruhiggestellt. Zu hören nur das Krachen von Gehölz und das Keuchen der gehetzten Kreatur, die bereits tot war, ohne es zu wissen.

,Eine Kriegslist‘, wiederholte Orest in seinen Gedanken. Es half ihm, Ruhe zu bewahren, wenn er zu sich selbst sprach, um sein Vorgehen auf Fehler zu prüfen. Nein, er hatte das Beste aus der Situation gemacht. Er fühlte, dass er ruhiger wurde. In der Ferne Trillerpfeifen. Dann wieder Hundegebell. Es blieben ihm noch ungefähr zehn Minuten. Mehr als genug Zeit, seine Tarnung besser zu organisieren.

Bald darauf das Knirschen des Schnees. Kein Hecheln, kein Bellen. Sie hatten die Hunde zurückgenommen. Das bedeutete, dass sie ihn entdeckt hatten. Das Geräusch vorwärts stapfender Militärstiefel im Tiefschnee brach ab. Stille. Orest widerstand der Versuchung, nach seinem Fernglas zu greifen. Sie würden die Fichtenschonung im Blick haben. Das Herabrieseln von Schnee oder die unnatürliche Bewegung einer Astspitze würde ihn verraten. Das wäre das Ende. Er spürte die Kälte kaum. Den gestrigen Tag hatte er überstanden, weil er nach seiner Flucht Körper und Gesicht dick mit Schmalz eingerieben hatte. Für das Fett und ein paar Würste war er das Risiko eingegangen, einen Bauernhof aufzusuchen. Er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, seine Spuren zu verwischen. Sie würden ihn ohnehin finden. Wichtiger war seine Versorgung und der Vorsprung, den er brauchte, um seinen Plan auszuführen. Wie ein Geist war er in der weißfleckigen Tarnkleidung aufgetaucht und wieder verschwunden, noch ehe die Bewohner des Bauernhofes auf ihn aufmerksam wurden.

Jetzt waren die Verfolger da. Hatten aufgeholt, weil er es ihnen erlaubte. Mit einer langsamen Kopfbewegung versuchte er die Konturen des nahen Birkenwäldchens zu erkennen. Dort würden sie sein. Er wusste nicht, mit wie vielen er es zu tun hatte. Sie hatten sich sicher in kleine Trupps aufgeteilt, um einen möglichst großen Fluchtradius abzusuchen. Sie warteten. Genau wie er. Es war ein Geduldsspiel. Ein Spiel auf Leben und Tod. Ihre Feldstecher würden ihnen nur dichten Bewuchs und dunkelgrünes Geäst zeigen. Solange er sich nicht bewegte, würde ihn seine Tarnung schützen. Orest atmete flach und regelmäßig.

Das gleißende Licht der Magnesiumfackeln riss Helligkeitsfetzen aus der Nacht. Orest hatte seit Minuten ein zögerndes, wisperndes Gleiten gehört. Schneeschuhe vielleicht oder Skier. Für einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Er hatte die Zeit bis zu den schmalen Stunden der fortgeschrittenen Nacht damit verbracht nachzudenken und abwechselnd Muskelgruppen anzuspannen und wieder zu entspannen. So begegnete er der Kälte, die in ihn hineinkroch und dem Verspannungsschmerz, der keine Muskelkrämpfe auslösen durfte.

Aufgeschreckt durch die plötzliche Helligkeit flog eine Schar Blesshühner flügelschlagend auf. Orest drückte sein bis zur Unkenntlichkeit mit grünschwarzer Tarnfarbe bemaltes Gesicht enger an den Baumstamm. Vereiste Tannennadeln drangen durch den Stoff seiner Wollmütze. Sie waren jetzt ganz nahe. Die Fackeln würden sie in einem weiten Kreis in den Schnee gesteckt haben. Außerhalb des Kreises lauerten Schafschützen.

Schwere Schritte und ein ungeduldiges Scharren verrieten ihm, dass sie sich vergewissern wollten. Orest brauchte nur seine Ohren, um zu wissen, was geschah. Fünf Schritte links, vier Schritte nach oben bis an den Waldrand und dann fünf Schritte rechts. Im Schnee Spuren eines Wildwechsels. Unmöglich zu sagen, ob hier ein Mensch gegangen war oder nicht. Die Schritte entfernten sich und kamen wieder zurück. Orest wusste, dass der Hundeführer ein Nachtsichtgerät einsetzen würde. Das fahlgrüne Restlicht im Sucher würde dem Mann verraten, dass an dieser Stelle ein Wildwechsel war. Eine ideale Stelle für ein Versteck, das sich mit anderen Spuren tarnen konnte. Im Umkreis war der Schnee jungfräulich weiß und unberührt. Die empfindliche Hundenase würde die Witterung nicht verloren haben. Eine Magnesiumfackel nach der anderen erlosch mit einem Zischen. Der rötliche Lichtschein fiel in sich zusammen. Ein Windstoß fuhr mit eisigen Fingern über die Ebene. Schnee rieselte wie Puderzucker auf die gefrorene Erde.

Der Hund hatte sich neben den Spuren in den Schnee gesetzt. Das war das Zeichen, auf das die Jäger gewartet hatten. Die grelle Feuerkugel aus der Signalpistole löste hektische Aktivität aus. Sie hatten ihn. Sie mussten schnell sein. Er durfte nicht entkommen. Die vorrückenden Männer ließen eine Gasse frei, durch die sich ein dröhnendes Kettenfahrzeug vorwärts schob. Kurz vor dem Bereich, den die Leuchtkugel der Nacht abtrotzte, setzte die Kettenraupe eine Stahlwalze auf. Schnee und Geäst stoben auf. Sie mussten keine Rücksicht mehr nehmen. Sie wussten, wo er war.

Orest machte sich bereit. Das Motorengeräusch erfüllte den Raum um ihn herum. Der Boden vibrierte. Zu Orest war er geworden, weil er Klytämnestra erledigt hatte. Er hatte auf Befehl gehandelt, aber sie würden ihm nicht verzeihen. Für ihn würde keine Göttin Athene das Wort ergreifen. Es würde kein Plädoyer für seine Unschuld und keinen Freispruch geben. Stattdessen warteten auf ihn der Fluch der Erinnyen und die Ketten des Wahnsinns.

Die Wälder hallten wider von dem Knacken der Äste, die Orest über die getarnte Bodensenke gelegt hatte. Blätter, tote Zweige und Schnee brachen ein. Ein halbes Dutzend Gewehrmündungen war auf die Grube gerichtet. Auf ein Zeichen setzte das Kettenfahrzeug zurück. Die Walze hielt es angehoben wie eine stählerne Riesenfaust, bereit zum vernichtenden Schlag.

„Licht!“ gebot eine befehlsgewohnte Stimme. Ein Strahler flammte auf. Der Spürhund ließ ein hohes Jaulen hören und warf sich gegen seine Leine. Der Geruch, dem er gefolgt war, strömte ungehindert aus der Senke. Plastiksäcke, Teile eines Tornisters, Kleidungsstücke. Irgendwo da unten musste sich auch ein Körper verbergen. Mehr tot als lebendig. Die Beute, nach der sie alle gierten.

„Es ist zu Ende. Kommen Sie langsam und unbewaffnet heraus“, rief der Anführer der Jäger. Seiner Stimme war die tiefe Befriedigung anzumerken.

Orest hatte auf das Stichwort gewartet. Trotz des jahrelangen Trainings fiel das Warten immer noch schwer. Noch einmal schossen ihm alle Optionen durch den Kopf. Dann sprang er.

Die 5.56 mm Munition der M 16 erledigte ihren Auftrag zuverlässig. Die Waffe war auf Dauerfeuer gestellt. Orest machte gar nicht erst den Versuch, präzise Feuerstöße abzugeben. Er wusste aus Erfahrung, dass er in seinem geschwächten Zustand und nach dem stundenlangen Hocken in einer Baumkrone, kein sicherer Schütze mehr war. Er hatte kalkuliert, dass Dauerfeuer beim Sprung seine Chancen zu überleben am meisten erhöhte.

Flüche und Schreie mischten sich mit Hundegebell. Orest hatte den Sprung gut angesetzt. Er brach neben der Grube durch die Schneedecke und versuchte, sich abzurollen. Seine Fußknöchel wurden durch den Aufprall auf dem gefrorenen Boden zusammengestaucht. Er hatte aufgehört zu feuern und brachte sich mit einem Hechtsprung aus der Reichweite des Scheinwerfers und der hoch aufgerichteten Stahlwalze. Hinter ihm hatte sich der zertrampelte Schnee rot gefärbt. Irgendjemand erwiderte das Feuer. Eine Salve strich über seinen Kopf hinweg. Orest wälzte sich herum und hielt den Atem an. Der Schmerz in seiner Schulter war intensiver als der in seinen Beinen. Wahrscheinlich hatte er sich das Schlüsselbein gebrochen. Er benötigte drei Feuerstöße, um den Scheinwerfer, der am Aufbau des Kettenfahrzeugs befestigt war, zu zerstören. Glas splitterte. Die Dunkelheit war überwältigend. Vereinzelte Gewehrsalven bellten auf.

„Feuer einstellen!“. Die Stimme hielt inne. „Lasst die Hunde los. Hierher mit den Hunden!“.

Orest wusste, dass er nicht mehr viel Zeit haben würde. Die Hunde würden ihn unschädlich machen. Sie brauchten kein Licht und keine Waffen. Orest hatte sein Möglichstes getan, um die Hunde irrezuführen. Seine verschwitzte Kleidung hatte er in Plastiksäcken in die Grube geworfen und sich selbst auf dem Bauernhof mit Jauche abgerieben und darüber Kleidung des Bauern angezogen. Er war sich ziemlich sicher gewesen, dass diese Maßnahmen ausreichen würden, die Hunde zur Grube zu führen, ohne dass sie auf den Menschen im Baumwipfel aufmerksam wurden. Sein Plan hatte funktioniert, aber jetzt half ihm nur noch Schnelligkeit.

Sein Körper protestierte, als er sich an der stählernen Flanke der Raupe entlang tastete. Es war ein gewagtes Spiel, aber er hatte nichts zu verlieren. Mit erhobener Waffe positionierte er sich dort, wo er über sich das Führerhaus des Fahrzeugs vermutete. Er atmete zwischen zusammengebissenen Zähnen ein und aus und versuchte den Schmerz in seiner Schulter zu verdrängen. Dann ließ er das Sturmfeuerzeug aufflammen. Die gelbe Flamme tanzte einen Augenblick im Wind wie ein Derwisch, bevor Orest mit dem Kolben seiner Waffe zustieß. Mit einem Aufschrei stürzte ein schwerer Körper an Orest vorbei in die Dunkelheit. Orest konnte fühlen, wie sich Hundekörper durch die Nacht katapultierten. Er setzte das Fahrzeug mit einem gewaltigen Satz in Bewegung. Das Getriebe kreischte auf und die Ketten begannen zu mahlen.

„Schießt auf das Führerhaus!“, schrie eine überschnappende Stimme. „Hoch zielen!“.

Orest hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Raupe zu rangieren. Krachend zermalmte er junge Fichten in seinem Weg. Das Kettenfahrzeug nahm Fahrt auf. Um ihn herum explodierte die Nacht in rote Leuchtspuren. Orest duckte sich instinktiv. Hunde jaulten getroffen auf.

„Nicht die Hunde. Mein Gott, nicht die Hunde verletzen!“. Die Stimme klang entnervt.

Orest prüfte die Leuchtnadel seines Kompasses, während sich die Raupe mit höchster Geschwindigkeit einen Weg durch den immer tiefer werdenden Schnee ebnete. Noch eine letzte Kurskorrektur und er würde bald zu der Stelle kommen, an der er den Durchbruch wagen konnte.

Auf der anderen Seite würde ihm niemand mehr etwas anhaben können. Nur noch wenige Hundert Meter und er würde seine Knöchel und die Schulter behandeln lassen können.

Orest ahnte die Anwesenheit des Stacheldrahtverhaus eher, als er ihn sah. Er stellte die Maschine ab. Noch würde niemand von den Suchmannschaften wieder am Platz sein. Sie suchten nach dem Entflohenen und Flüchtige rannten stets nur in eine Richtung – weg vom Zaun. Orest griff in den Pulverschnee und ging nahe, ganz nahe an den Zaun heran. Dann blies er vorsichtig den Schnee wie eine Fahne aus Kristallen über den Stacheldraht. Er hatte richtig vermutet. In Höhe seines Kopfes und seiner Hüfte verliefen zwei Reihen kaum wahrnehmbarer Signaldrähte. Orest wusste, dass sie bei Berührung Selbstschussanlagen auslösen würden, die perfekt getarnt auf Opfer harrten. Sie waren mit Schrot geladen, der eine verheerende Wirkung hatte.

Zufrieden ging Orest zu seinem Fahrzeug zurück. Der Ausleger mit der Walze würde das Problem für ihn lösen.

Er suchte das Führerhaus nach einem schweren Gegenstand ab, mit dem er das Gaspedal beschweren konnte, um mit der Raupe den Todeszaun zu durchbrechen, als ein Pistolenlauf gegen seine Schläfe gedrückt wurde. Einer der Jäger hatte Orests Pläne durchschaut und sich die ganze Zeit hinter der Fahrerkabine versteckt gehalten.

„Und tot bis du …“, zitierte eine belustigte Stimme einen bekannten Reim. Überall auf dem Gelände wurde das Licht eingeschaltet. „Übung nicht bestanden“, konstatierte die Stimme hinter der Pistole nüchtern. „Noch einmal von vorne.“

Orest warf seine Paintball M 16 in den Schnee und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

„Und waschen Sie sich um Gottes willen, Mann“, fügte sein Ausbilder hinzu. „Sie stinken, als seien Sie in eine Jauchegrube gefallen.“

Das Gorbatschow Vermächtnis

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