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V.

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Der Mann konnte sich nicht daran erinnern, wann er mit dem Nasenbohren angefangen hatte. Meist vergaß er, dass er diese lästige Angewohnheit pflegte. Nur in Augenblicken wie diesem, wenn ihn leicht belustigte und im Unterton angeekelte Blicke seiner Mitmenschen trafen, gefroren seine Bewegungen zu einem schuldbewussten Stillleben.

Noch immer war er nicht selbstbewusst genug, seine Zeigefinger, die in den Nasenlöchern ein Eigenleben zu führen schienen, im Moment der Entdeckung wie selbstverständlich an ihrem Platz zu belassen, als seien sie gerade erst nach langer Irrfahrt an ihrem anatomisch korrekten Bestimmungsort angekommen.

Er erinnerte sich an eine Skifreizeit, die er mit Freunden vor Jahren unternahm, damals als die Welt noch in Ordnung war und er noch nicht zum Nasenbohren Zuflucht nehmen musste. Damals hatte er noch eine Zukunft vor sich, eine, die es wirklich wert war so genannt zu werden. Damals gehörte er auch noch zu jenen, die die Nasenbohrer geflissentlich übersahen. Zu jenen, die peinlich berührt in die andere Richtung sahen, wenn klobige Fingerkuppen auf der Erkundung des Unsäglichen die Nasenbesitzer in ihren Gesichtern heimsuchten.

Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie ihm der ungeschlachte Mensch in dem grell gemusterten Pullover imponierte. Er imponierte ihm mit seinem extrovertierten Gehabe, seiner aufreizenden Lässigkeit, mit der er schwere Goldkettchen, eine fettige Langhaarfrisur und längst vernarbte Aknemale zur Schau trug. Ihm imponierte der ständig seine Form wechselnde Schmerbauch, der unter dem Pullover rollte und quoll und kurz davor schien, die Gürtelsperre der optimistisch eng geschnittenen Lederhose zu überwältigen, was freilich nie gelang. Ihm imponierte auch die zartgliedrige Brünette, die mit einem leeren Lächeln und fein ziseliertem Äußeren an jeder Äußerung ihres bis an die Brüllgrenze amüsierten Begleiters hing. Am meisten jedoch imponierte ihm die öffentliche Vorführung eines Rituals, das dieser Gast bis zur Perfektion kultiviert hatte.

Er war Nasenbohrer. Nicht irgendein Nasenbohrer, Gott bewahre. Obwohl den Beobachtern die heimliche Hierarchie der Nasenbohrer nicht bekannt war, obwohl sie nicht wussten, dass sich die Welt in Nasenbohrerligen einteilte. Eines aber ahnten sie instinktiv, als sie des Trumms von Zeigefinger ansichtig wurden, der sich in einen Abgrund schob, dessen Öffnung für seine Maße nicht gemacht war. Hier hatten sie es nicht mit einem verschämten Amateur, nicht mit einem Aussetzer in der täglichen Etikette, nicht mit einer gründlich missglückten Hygieneaktion zu tun, sondern mit einem genussreich und exhibitionistisch zelebrierten Profiauftritt. Und sie behielten recht.

Ein haariges Handgelenk drehte sich mit überraschender Präzision und brachte das klobige Werkzeug mit winzigen Korrekturen in eine aussichtsreiche Stellung. Der Nasenflügel blähte sich, die Fingerkuppe schien für einen Augenblick festzustecken, um sich dann mit einer Drehbewegung wieder zu befreien und das Grabungswerk fortzusetzen. Das alles ohne die mindeste Veränderung des begeisterten Gesichtsausdrucks des zu Zeigefinger und Nase gehörenden Mannes. Seine Stimme geriet etwas nasaler. Der volle Mund sprach um die hochgereckte Hand herum. Der Zeigefinger führte mit langsamer Präzision die vielfach einstudierten Bewegungen aus und vom Alkohol eingetrübte Augen erfassten das Halbrund der Zuhörer.

Das Erstaunliche war, dass es niemanden gab, der auch nur den geringsten Anstoß an dem Anblick zu nehmen schien. Die Gesichter glänzten vor Zufriedenheit. Sie zeigten Spannung, Amüsement und eine aus der Aufregung geborene Hautfarbe. Die Mienen passten sich in ihrem Spiel der ausgelassenen Stimmung an. Zahnreihen bleckten und Augenbrauen hoben sich. Alles war wie immer. Alles war so, wie man es erwarten konnte, wenn man sich um einen mächtigen Platzhirsch scharte. Alles arrangierte sich, als ob es den heftig anstürmenden Zeigefinger im Nasenloch nicht gäbe oder vielmehr, als ob der sich bietende krude Anblick das Attribut „normal“ für sich in Anspruch nehmen durfte.

Kein angeekeltes Wegschauen, kein heimliches Kopfschütteln, keine herablassenden Blicke. Nichts dergleichen.

Damals in der Skifreizeit hatte diese Begebenheit unseren Mann wegen ihrer Ungewöhnlichkeit fasziniert. Er konnte sich dem Anblick des in der Nase steckenden Zeigefingers nicht entziehen. Er konnte sich nicht erklären, wie ein öffentlich vollführter Tabubruch derart ungesühnt blieb. Er konnte seine eigene Faszination nicht nachvollziehen und er beließ es dabei. Das Erlebnis verblasste, aber es verschwand nie aus den Kammern seines Gedächtnisses. Dann war er selbst zum Nasenbohrer geworden und die Erinnerung wurde lebendig. Er verstand besser. Verstand nur zu gut.

Wenn er es recht bedachte, war wohl die Nachricht vom Tod seiner Bekannten der Auslöser gewesen. Es war ein Schock. Schocks lösten Reaktionen aus. Reaktionen körperlicher und psychischer Natur. Fast erwachsene Kinder wurden Bettnässer und Daumenlutscher. Erwachsene wurden zu Rauchern und Trinkern oder drifteten der Tablettensucht entgegen. Ganz selten wurden Betroffene zu Nasenbohrern. Er war eine der Ausnahmen.

Schocknasenbohrer unterschieden sich erheblich von den Genussbohrern. Letztere standen zu ihrer Gewohnheit. Sie verteidigten ihre Freiheit auf Individualität. Sie trafen sich online in Chaträumen und erzählten sich Neuigkeiten über Rhinotillexomanie, wie man das Phänomen des Nasenbohrens in Fachkreisen nannte. Man erging sich in den jüngsten Forschungsergebnissen eines österreichischen Arztes, der das Nasenbohren als gesunde und schöne Angelegenheit deklarierte, als verkannte Hygieneverrichtung, die den Filter der Lunge reinigte und die Nase funktionsfähig erhielt. Selbst die unappetitlich erweiterte Abart des Nasenbohrens, die Fraktion der Nasenpopelesser, erhielt ihre Absolution. Die häufig zu klebrigen Kügelchen gerollten Rotzpartikel enthielten Keime und Bakterien, die durch ihre Aufnahme in den Darm ein wirksames Medikament darstellten. Soweit die Theorie.

Die Schocknasenbohrer hingegen wussten mit solchen Wahrheiten nichts anzufangen. Sie bedienten sich des Instruments des Nasenbohrens als Übersprunghandlung. Sie waren es, die von der Ächtung der Gesellschaft getroffen wurden. Sie waren es, die dies am allerwenigsten verdient hatten.

Der Mann wusste nicht, was aus Ellen geworden war. Er wusste noch nicht einmal, dass sie Sophie genannt wurde, als sie beide in das Zeugenschutzprogramm flüchteten. Für ihn war das gut so. Anders als Ellen hatte er Erfahrung. Erfahrung mit allen möglichen Dingen. Erfahrung mit Dingen, die sie in Schwierigkeiten gebracht hatten.

Man hatte sie festgenommen, kurz nachdem frische Containerware eingetroffen war. Wie immer war nicht die gesamte Ladung heil geblieben. Einige Stücke waren verdorben. Um die Leichen kümmerten sich die Aufräumer. Er war ein „Runner“. Seine Aufgabe war es, die Mädchen in den Unterkünften abzuliefern. Ellen war der „Boarder“. Sie wies den verängstigten Bündeln Mensch ihre Matratzen zu.

Was dann geschah, spielte sich außerhalb ihres Einflussbereichs ab. So sahen sie es, Ellen und er. Es war eine Geschäftsentscheidung, nichts Persönliches. Natürlich sträubten sich die Mädchen. Man musste sie an den Pritschen festketten. Es waren zu viele von ihnen. Sie waren krank, dehydriert und verwirrt. Sie schlugen um sich und schrien. Es war kein einfacher Job, aber er war gut bezahlt. Es ging nicht ohne Disziplin. Ohne Disziplin wären sie alle gefährdet gewesen. Die Tabletten und die Spritzen sorgten für Disziplin. In der Drogendämmerung unternahm man keine Fluchtversuche und plante keine Selbstmorde. Drogen machten friedlich und fügsam. Die Kunden liebten friedliche und fügsame Mädchen, frisch herausgeputzt und wohlunterrichtet.

Die Unterrichtung unternahmen andere, die mit amerikanischen Limousinen vorfuhren und mit Kennerblicken taxierten, was sie vorfanden. Sie machten ihre Späße mit den Mädchen. Man nannte sie „Zureiter“. Das Schreien war längst in ein Wimmern übergegangen. Wimmern war ein gutes Zeichen. Erhobene Arme über gesenkten Köpfen waren ein gutes Zeichen. Die Männer in den amerikanischen Limousinen liebten gute Zeichen. Ihren toten Augen entging keine Regung, während sich ihre Körper auf den Mädchen abarbeiteten.

Ellen und er nahmen an den Abrichtungssitzungen nicht teil. Es war nicht ihre Aufgabe und sie hatten kein Interesse daran. Zu viel Fleisch, zu viel Tragik, zu viele gebrochene Wesen. An solchen Tagen hatten sie noch mehr zu tun als sonst. Die Mädchen mussten hergerichtet und verköstigt werden. Die Zureiter machten alles komplizierter als nötig. Oft weigerten sie sich, die vereinbarten Summen auszuzahlen. Sie bemängelten den Zustand der Ware, wiesen auf Hautunreinheiten und ausgeschlagene Zähne hin, mäkelten über Ausschläge und Verschorfungen. Es war nicht immer einfach, aber schließlich kam man immer überein. Einige der Mädchen überlebten die Prozedur nicht. Man hatte diesen Schwund von Anfang an eingepreist. Die Zureiter besaßen einen unbestechlichen Blick für untaugliches Material und sie hatten Waffen. Sie waren es, die aussortierten, nicht Ellen oder er.

Ellen und er befanden sich ganz unten in der Befehlskette. Jeder konnte ihnen Befehle erteilen. Ohne sie wäre es den Mädchen noch viel schlimmer ergangen. Durch sie war kein einziges der Mädchen zu Schaden gekommen. Das war ein Fakt.

So sah es zum Glück auch die Staatsanwaltschaft, die ihnen für ihre volle Kooperationsbereitschaft als Kronzeugen einen Handel vorschlug. Nicht dass man sie mit Samthandschuhen anfasste. Im Gegenteil. Man traktierte sie mit Fotos misshandelter und geschändeter Mädchen, als ob sich Ellen und er an jedes Gesicht erinnern würden, das durch ihre Hände gegangen war. Es war nicht fair. Sie hatten eine bessere Behandlung verdient. Man stellte ihnen immer die gleichen Fragen und beschuldigte sie, als ob sie Verbrecher seien. Man drohte ihnen lange Haftstrafen an und schüchterte sie ein. Dann ließ man sie reden. Wochenlang redeten sie, bis man alles aus ihnen herausgequetscht hatte. Sie wurden in unterschiedlichen Haftanstalten untergebracht. Vor Gericht mussten sie nicht erscheinen.

Er hatte lange in seiner Zelle auf Nachricht gewartet. Minuten wurden zu Stunden und Stunden zu Tagen. Als man ihn abholte und auf seine neue Identität vorbereitete, war eine lange Zeit vergangen. Zu lange. Er hatte verlernt glücklich zu sein. Von Ellen hatte er nichts mehr gehört. Das musste so sein. Es gehört zum Programm. Nicht dass er traurig darüber gewesen wäre. Was ihn mit Ellen verband, war die Routine einer entspannten Arbeitsbeziehung. Mit Kollegen war es immer schön.

Dann erfuhr er von ihrer Hinrichtung. Noch am gleichen Tag begann er mit dem Nasenbohren.

In der Schweiz fühlte er sich gut aufgehoben. Er war den Empfehlungen der Experten gefolgt und brachte in rascher Folge mehrere Umzüge hinter sich. Seine Spur erkaltete. Niemand war eingeweiht. Er handelte auf eigene Gefahr. Sein Äußeres glich sich den Fotos in den neuen Pässen an. Seine finanziellen Rücklagen aus besseren Tagen hatten noch nicht besorgniserregend gelitten. Er nahm sich Zeit zum Nachdenken und konnte keinen Fehler entdecken. Die Spur erkaltete immer mehr. Bald würde ihn niemand mehr aufspüren können und dann würde er sich neuen Aktivitäten widmen. Eine Zukunft wartete auf ihn. Eine Zukunft, in der seine Talente gebraucht wurden.

Bewacht wurde seine Zukunft von einem buckligen Berghang, der im Frühling ein Polster aus Blüten trug und voller Zuversicht zu einem Gebirgsmassiv schaute, das mit gezackten Schatten talwärts griff. Die Hütte mit Käserei war zu vermieten. Es war ein einfaches Quartier ohne Bequemlichkeiten. Die Wanderwege und eine Seilbahn führten in respektvoller Entfernung vorbei und der Senn war ein kauziger Mensch unbestimmten Alters, der seine Kühe mit einem breiten Singsang rief und seinem Logiergast keine Fragen stellte. In seiner Welt gab es die Jahreszeiten, das Vieh und den Käse und nicht viel Anderes von Bedeutung. Der Gast schätzte diese angeborene Diskretion. Nur manchmal saßen die beiden auf der roh gezimmerten Bank vor der Hütte und schauten, wie die blauen Schatten des Gebirges Besitz von der Landschaft ergriffen. Meist schwiegen sie zu Buttermilch und Moosbrot. Der Senn war einer der letzten Dörfler, der sich darauf verstand, Moosbrot herzustellen. Wenn es um Käse und Brot ging, fand er seine Stimme unter den Flechten seines Bartes und erzählte in langsamen, weichen Sätzen. Den Ausführungen waren die Schwermut anzuhören und das Unverständnis für die neue Zeit, die sich aus dem Rhythmus des Lebens hinausbeschleunigte.

Die schwarzen Fladen aus gestampftem, gebackenem Moos, das man an der Rinde einer harzhaltigen, grobborkigen Tanne und auch an der Lärchenrinde fand, schmeckten ein wenig bitter und nach entbehrungsreicher Vergangenheit. Es war gut so.

Zum Herbst hin wurden die Schatten schon am frühen Nachmittag besitzergreifend. Kalte Winde fegten die Wolkendecke beiseite und der klare Geruch nach Schnee lag in der Luft. Dorf um Dorf spaltete Holz und fuhr die letzten Vorräte ein.

Bald würde man mit den Kühen talwärts ziehen. Für den Gast wurde es Zeit. Er hatte genug von der Stille. Er hatte Insekten in ihrem Flug beobachtet. Er hatte gelernt, die Gerüche der Herdfeuer voneinander zu unterscheiden. Lange war er wachsam geblieben, hatte gelauscht und gespäht. Jeder Wanderer und jeder Drachenflieger erschien ihm verdächtig. Sein Herzschlag beschleunigte sich bei jedem Geräusch, das sich an sein Ohr stahl. Er schlief mit einer entsicherten Waffe unter dem Kopfkissen, als sei er ein Darsteller aus einem schlechten Roman. Nach Monaten konnte er sicher sein, dass seine Bemühungen erfolgreich waren. Seine Spur war endgültig verwischt. Niemand suchte ihn, denn es gab ihn nicht mehr.

Sein Gastgeber bestätigte ihn in seinen Vermutungen. Vorsichtige Nachfragen nach Neuankömmlingen und Ausländern in den Dörfern beantwortete der Senn mit einem Kopfschütteln. Von solchen Leuten hätte man gehört. Nachrichten verbreiteten sich rasch in den Bergen. Die Berge hatten Platz dafür. Neue Gesichter waren immer eine Nachricht. Auch der Gast des Senns war eine gewesen. Ein geschiedener, verbitterter Mann in den besten Jahren. Ein Journalist, der zur Ruhe kommen und ein Selbsterfahrungsbuch schreiben wollte. Nicht einer, der den Lauf der Berge störte, sondern einer, der sich in ihren Schutz begab. Ein zahlender, stiller Gast. Ein Gast, wie ihn die Dörfler mochten.

Er fröstelte, obwohl der Kohleofen eingeheizt war. Es roch nach getrockneten Kräutern und nach Winter. Er suchte mit dem Fernglas den Weg ab, der sich wie ein braunes Band über die Bergrücken legte. Seit dem Almabtrieb ruhte die Käserei. Ihre gereinigten Bottiche, Siebe und Kessel hatten den Winterschlaf bereits begonnen. Er fuhr mit den Händen über die gehobelten Flächen der einfachen Möbel. Einfach und zweckmäßig. Die innere Unruhe hatte sich mit den langsam verklingenden Kuhglocken verstärkt. Vereinzelt waren noch die Rufe der Tiere zu vernehmen gewesen, dann überfiel eine betäubende Stille, die bei ihm Beklemmung auslöste, die Hochalm.

Er sehnte sich den Jeep herbei, der ihn und seine wenigen Habseligkeiten abholen sollte. Er sehnte sich in gewisser Weise auch nach dem wortkargen Senn, von dem er sich mit einem kräftigen Händedruck verabschiedet hatte. Der graubärtige Mann hatte ihm versprochen, einen Wagen zu schicken, um ihn aufzusammeln und in die nächste Stadt zu bringen. Der Jeep ließ auf sich warten.

Als zwei Scheinwerferkegel über den Hügel rollten, sah er sich noch einmal um. Er hatte versprochen, das Feuer zu löschen und die Tür zu versperren. Daran würde er sich halten. Einen Augenblick lang dachte er daran, alle Flächen, mit denen seine Finger in Berührung gekommen waren, abzuwischen. Er schüttelte den Kopf und musste über seine eigene Einfältigkeit lächeln. Niemand würde sich die Mühe machen, eine einsam gelegene Hochalm in den Schweizer Bergen nach Fingerabdrücken zu untersuchen. Niemand von denen, die ihm nach dem Leben trachteten. Sie hatten andere Methoden. Weniger raffiniert, aber wirkungsvoll.

Sprengstoff war eine der Methoden, Feuer eine andere oder eine schnelle Kugel. Aufspüren und erledigen. Endgültig erledigen. Nicht leise und unbemerkt, sondern aufsehenerregend und abschreckend. So waren die Regeln des Gewerbes.

Die Scheinwerfer des Jeeps streiften die Hütte und wanderten bis zum Rand einer steil abfallenden Wiese, ehe sie sich verloren. Der Wagen würde noch eine Weile brauchen. Es war eine Eigenschaft der Berge, dass sie alles nahe zu sich heranholten und dann eine rasche Ankunft verhinderten. Manche schrieben dieses Phänomen den besonderen Luftschichten zu, die zu optischen Täuschungen führten und geringe Entfernungen vorgaukelten, wo noch stundenlange Märsche vonnöten waren. Die Erfahrenen jedoch und die Einheimischen wussten es besser. Sie wussten, dass Berge lebendige Wesen waren, die ihre eigenen Gesetze hatten. Sie reagierten mit Wetterstürzen und verhüllten ihre Gipfel, wenn man den Respekt vermissen ließ. Man musste sie besänftigen.

Der demütige Kletterer legte einen Stein auf eine wartende Pyramide von Steinen, bevor er sich an den Aufstieg machte. Das war das Zeichen für den Berg. Dann führte er den Gast mit sanfter Hand seinen Rücken hinauf und bewahrte ihn vor Unheil. Die anderen aber konnten ihre Geschichte nicht mehr erzählen, denn sie traten fehl, stürzten ab, erfroren im Eisnebel in Rufweite von Schutzhütten. Berge machten keine Kompromisse. Sie hatten viele Ewigkeiten Übung darin.

Der Gast hatte sein schmales Gepäck neben die Tür gestellt. Der angestrengte Motor des Jeeps war jetzt deutlich zu hören. Das Fahrzeug holperte über die unebenen Grassoden des Hügels.

Der Fahrer war ein bärtiger, weißhaariger Mann, der sich kerzengerade hielt. Er hatte einen kräftigen Händedruck und Augen, die ihn um einiges jünger erscheinen ließen. Der Hüttengast stellte sich als „Tonio“ vor. „Tonio“ war der Name in dem Pass, den er gerade verwendete. In der Einsamkeit der Berge hatte er sich mit dem Namen angefreundet. Vielleicht würde er ihn behalten. Den Namen „Tonio“ umgab der Klang weltoffener Fröhlichkeit.

Der Fahrer bemühte sich um das Gepäck. Mit einer entschiedenen Handbewegung lehnte er das Hilfeangebot seines Gastes ab. Das Alter hatte auch bei ihm seine Spuren hinterlassen. Bei ihm und seinem Jeep, dessen bullige Kühlerhaube wie ein Urwelttier aufragte.

Tonio war überrascht, als er den Stich spürte. Es war ein Brennen über dem Handgelenk, das sich wellenförmig ausbreitete. Er tastete nach der Stelle. Der plötzlich einsetzende Schmerz raubte ihm den Atem. Seine Arme sanken kraftlos herab. Die Holzbohlen der Terrasse schlugen nach seinem Gesicht, als sein Körper nach vorn kippte. Ein klar konturierter Mond, kraftvoll und pockennarbig glitt über den Gebirgsrand. Er verschenkte ein silbriges Licht. Mondlicht zum Abschied, dachte Tonio. Der Schmerz begann zu verschwinden und machte einer Taubheit Platz.

Ein Gesicht schob sich vor das seine. Geübte Arme machten sich an ihm zu schaffen. Die Augen hinter der Brille wirkten groß und ruhig. Sie schwammen im Mondlicht. Die Augen des Fahrers ruhten auf ihm. Tonio rang nach Luft. Er keuchte mit geöffnetem Mund. Er machte Anstalten zu sprechen. Der Fahrer schüttelte den Kopf. Es war eine kleine Geste. Tonio legte den Kopf in den Nacken. Er fühlte, wie sein Körper erkaltete. Der Winter war gekommen. Der Winter und der Fahrer. Beide wussten, was zu tun war.

Tonio hörte die Stimme und spürte die Hand, die seinen Kopf stützte, bis der Mond und das Gesicht wieder in seine Welt rückten. Das Gesicht war jetzt bartlos und hager, die Stimme kultiviert und ohne jeden Akzent. Bartlose Gesichter brauchten keinen Akzent.

„Die Chippewa sind von Natur aus tapfer und rachsüchtig“, begann die Stimme. Die Sätze rauschten an Tonio vorbei. Es waren Sätze, die der Fahrer für die Richtigen hielt. Die richtigen Sätze für einen Mann kurz vor dem Atemstillstand. „Manchmal züchtigt der Ehemann seine Frau, indem er ihr den fleischigen Teil der Nase wegbeißt. Die Frauen erachten dies für schlimmer als den Tod, bedeutet es doch den Verlust ihrer Schönheit und ein sichtbares Maß für Vergehen und Strafe.“

Die Stimme beendete ihren Monolog. Das bartlose Gesicht lächelte. Der Mond hatte sich zu seiner vollen Größe erhoben. Das Haar des Fahrers glänzte silbern. Es war perfekt gescheitelt. Tonios Welt war matt und schwarz geworden, nur noch ein Wispern und ein Haufen durcheinandergewirbelter Seiten. Er bemerkte nicht mehr, wie ihn zwei Arme mühsam in den Jeep wuchteten. Er hatte abgeschlossen. Abgeschlossen mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft.

Minuten später rumpelte das Fahrzeug mit abgeblendeten Scheinwerfern talwärts. Tastend suchte es nach der Baumgrenze. Sein Ziel war eine Fichtenschonung, deren Ruhe selten gestört wurde. Die Bäume erkannten den Fahrer des Wagens und verhielten sich ruhig. Er hatte ihnen in den vergangenen Wochen mehrere Besuche abgestattet. Heute Nacht würde er eine ausgehobene Grube füllen.

Anschließend hatte er noch einen weiteren Termin in einem anderen Wald. Er hatte ihn schon ausgesucht.

Ein kleines Feuer würde seinen Frieden nicht stören.

Der Engelmacher

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