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III.

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Das Wohnstift hatte eine Eigenwahrnehmung, die sich von der Zeit der Planung bis zur Fertigstellung immer mehr von der Wirklichkeit entfernte. Bei der Ausschachtung des Fundaments wäre es noch damit einverstanden gewesen, als konfessionelles Altenheim bezeichnet zu werden. Das Gießen von Fundamenten war keine glamouröse Tätigkeit. Nackter Beton und rostige Eisenfinger in einem schmierigen Erdloch berechtigten nicht zu hochfliegenden Plänen. Noch konnte es sich nicht vorstellen, dass sich zu den kahlen Wänden und den roh verlegten Kabelschächten ein dauerhafter Glanz gesellen könnte.

Eine erste Sinnesänderung erfuhr das Wohnstift mit der Fertigstellung des Rohbaus. Nicht, dass die über sechs Etagen nach oben verlängerte Tristesse Anlass zu einem beginnenden Standesdünkel gegeben hätte. Leer klaffende Fensterhöhlen, nachlässig eingepasste Bautüren und ungeschlachter Putz ließen keine unmittelbare Besserung der Situation erwarten.

Was die Erwartungshaltung des Wohnstiftes änderte, war die sachte einsetzende Werbekampagne. In der Lokalpresse erschienen Anzeigen. Es war von der Fertigstellung erstklassiger Altersruhesitze die Rede. „Erstklassig“ klang vielversprechend. Es war eine Vokabel, die sich nicht gut mit „Altersheim“ kombinieren ließ. „Ruhesitz“ hingegen war die geadelte Variante. Sie bürgte für glattgesichtige, frisch frisierte und vitale Bewohner, für aktive Senioren in der Blüte der Zerfallsphase. Sie ließ den Bodensatz der Desorientierten und Gramgebeugten hinter sich zurück. „Ruhesitz“ war der Aufstieg in die gehobene Liga. „Leben mit Genuss“ war das Motto. Krankheit und Sterben rückten aus dem Fokus. Das Stift begann freier zu atmen.

Im nächsten Schritt streifte man die alten Gewänder vollends ab. Die konfessionelle Ausprägung des Stiftes wurde zugunsten einer kantenlosen, zukunftsorientierten Betreibergesellschaft aufgegeben und dem Stift übergestülpt. Soziale und kirchliche Verantwortung für den Nächsten wichen einer Managementidee vom renditestarken Wohnen in der genussorientierten zweiten Lebenshälfte. Aus dem immer noch schlichten „Altersruhesitz“ wurde eine in großen Lettern angepriesene „Seniorenresidenz am Stadtpark“.

Das Stift war an der Spitze angekommen. Der Stadtpark war einige Blocks entfernt und hatte seinen Namen nicht verdient. Aus den oberen Stockwerken des Stiftes konnte man vereinzelte Blicke auf dichte Baumkronen erhaschen, aber die Magie der Werbetrommeln tat ein Übriges und machte die Erwartung auf verschlungene Spazierpfade, auf Vogelgezwitscher und eine zahme Eichhörnchenpopulation lebendig. Der Stadtpark selbst war eine eher überschaubare und blasse Angelegenheit. Ebereschen und Eichen verteilten sich über ein buckliges Areal. Drei Pfade wanden sich an Parkbänken vorbei und die aufgestellten Mülleimer quollen zu jeder Zeit vor Verpackungsmüll über, ehe sich die Stadtreinigung nach langem Zögern dazu bequemte, ihnen vorübergehende Erleichterung zu verschaffen.

Die Realität änderte nichts an dem Hochgefühl des Stiftes. Neu eingekleidet und auf Wirkung gebürstet, lebte es sein Leben als Residenz. Die Zeichnungen des Bauträgers bewiesen, dass es zu Recht stolz war auf seine neue Identität. Man hatte die Zeichnungen von einem Künstler kolorieren lassen. Sie waren frisch und optimistisch. Der Park schien dichter und einladender zu sein, als man ihn in Erinnerung hatte. Er grenzte mit seinem Saum direkt an das gläserne Eingangsportal der Residenz. Holz, Chrom und Glas gaben sich ein Stelldichein und verwandelten den Neubau in glänzende Fluchten. Prächtig ausgeleuchtete Wohnungen mit erlesenen Möbeln lockten. Man plante Shops, Sportmöglichkeiten und ein Casino. Kein Kasino mit „K“, sondern ein solches mit „C“. Zerstreuung auf höchster Ebene. Bestnoten bis zum letzten Buchstaben. Gestyltes Alter und dienstbare Geister in einem verborgen liegenden Versorgungs- und Pflegetrakt. Dafür suchte man Investoren. Man nannte die Klientel Investoren.

Viktor war einer von ihnen. Viktor war nicht beunruhigt, weil er seine Kräfte schwinden sah. Er ließ sich auch nicht von der Fassade der Einrichtung blenden. Er war als nüchterner Pragmatiker in schwierigen Zeiten aufgewachsen und würde als solcher von der Bühne abtreten. Er hatte seinen Weg gewählt. Wo andere sich bemühten, tiefe Fußstapfen zu hinterlassen, die nur schwer zu verwischen waren, bemühte sich Viktor darum, seine Abdrücke zu tilgen, so gut er es vermochte. Er war gut darin, sich am Rand des Geschehens aufzuhalten und keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb war er erfolgreich in seinem Beruf und seine Arbeitsethik färbte auf sein Privatleben ab.

Natürlich hatte sich Viktor verschiedene Objekte angeschaut. Wenn man ihre vollmundigen Versprechen und aufwendigen Fassaden auf das Wesentliche reduzierte, waren sie alle Sterbehilfeeinrichtungen mit geschulten Lächelgesichtern und einem medizinischen Apparat, der reibungslos funktionierte. Je nach Einrichtung erkaufte man sich Obdach und Nahrung, man erkaufte sich professionelle Herzlichkeit und geschultes Mitgefühl. Man konnte kaufen, was immer man sich leisten konnte, bis man sich seine individuelle Illusion von Familie zusammengestellt hatte.

Viktor wusste all das. Das Stift mit seiner neu gewonnenen Selbsteinschätzung konnte ihn nicht täuschen. Er machte sich keine Illusionen. Sein Beruf war es, andere von ihren Illusionen zu befreien.

Die Seniorenresidenz am Stadtpark sollte es sein, weil Hedwig es wollte. Viktor konnte Hedwig keinen Wunsch abschlagen. Sie hatte noch immer das Gemüt eines kleinen Mädchens, dessen Zöpfe dünner geworden und ergraut waren. Sie trug noch immer den gleichen Flechtkorb bei sich, der mit den Wunden des Alltags übersät war und sich von seinem Griff zu lösen drohte. Viktor hatte mehrfach versucht, Hedwig einen anderen Korb schmackhaft zu machen. Er hatte ihr geduldig erklärt, dass man verdiente Veteranen ruhen lassen musste, wenn ihre Zeit gekommen war. Er hatte ihr Körbe präsentiert, die raffiniert ausgestattet und mit erlesener Handwerkskunst gefertigt waren. Hedwig hatte genickt und die Körbe beiseite gestellt. Ihre braunen Augen und die aufgeworfenen Lippen sprachen ihre eigene Sprache.

Als Hedwig mehrere Dutzend Körbe besaß und die Ansammlung lästig zu werden begann, kapitulierte Viktor. Er kapitulierte immer vor Hedwig. Hedwig wusste das. Im entscheidenden Moment setzte sie ihr strahlendes Lächeln auf und sah Viktor mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck an. Er war ihr Held, ihr Spieleerfinder, ihr Schutzengel. Er war gut zu ihr und sie schenkte ihm ihre ganze Zuneigung. Sie gab sich damit zufrieden, dass Viktor in ihrer Nähe war. Sie verstand, warum er sie nicht zu sich holen konnte. Er hatte einen fordernden Beruf. Für die Zeiten ohne Viktor hatte Hedwig ihre Kaninchen. Sie waren ein guter Zeitvertreib.

Viktor dachte an das Jahr, als er der Kommission gegenübersaß. Es war ihm lästig, sich für einen Platz in der Seniorenresidenz bewerben zu müssen, aber so waren die Regeln. Das Alter brachte eine Fülle von Regelwerken mit sich. Das selbstbestimmte Leben verkroch sich allmählich in wenige Winkel. Der Rest wurde in Verhaltensvorschriften verpackt, wie sie nur für Kinder und Alte galten.

Eine grauhaarige Dame mit strengem Blick und schmalen Lippen, die selbst nur einen Gänseschritt vom Alter entfernt war, fragte Viktor, was ihn nach seiner Ansicht qualifiziere, in der Residenz wohnen zu dürfen. Der wie ein Theologe wirkende Mittvierziger trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Er studierte seine Papiere und fragte Viktor nach dessen sozialem Engagement. Er machte den Eindruck, dass er jeden Bewerber nach dem sozialen Engagement fragte. Der Leiter der Residenz, ein löwenmähniger Mensch mit einer dröhnend jovialen Stimme wies darauf hin, dass das Haus bei allen Freiheiten, die man den Bewohnern zu gewähren bereit sei, Regeln habe. Er dehnte die Vokale, als wolle er das letzte Quäntchen Bedeutungsgehalt aus ihnen herausquetschen.

Viktor hatte sich vorbereitet. Er war immer vorbereitet. Sorgfältig hatte er die Dokumente für die Bonitätsprüfung zusammengestellt. Er hatte sich Antworten zu seinem Gesundheitszustand, seiner Motivation und seinen Vorstellungen von der Zukunft zurechtgelegt. Die Antworten waren wohlfeil und auf Wirkung poliert. Sie entsprachen nicht der vollen Wahrheit. Nichts, was man von Viktor zu wissen glaubte, entsprach der vollen Wahrheit.

Die größte Hürde war die Unterbringung von Hedwig. Als die ersten Prospekte von der Residenz eintrafen, klatschte Hedwig in die Hände. Das tat sie, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte. War sie sich unsicher, fächelte sie mit geöffneten Händen. Lehnte sie etwas ab, schob sie es entrüstet, mit angeekelter Miene und geballten Fäusten von sich weg. Hedwig war eine charakterfeste Persönlichkeit.

Viktor hatte einen großen Stapel Werbematerial vor sich liegen, als Hedwig ihre Entscheidung traf. Er beobachtete sie genau. Die Tatsache, dass sie nicht sprach und nie ohne die Begleitung eines Kaninchens gesehen wurde, verführte dazu, sie als zurückgeblieben einzuschätzen. Nichts war unzutreffender als dieser Eindruck. Hedwig war eine alte Frau geworden. Sie war mit Würde gealtert und konnte wie jeder ältere Mensch Hilfestellungen und Rücksichtnahme gebrauchen. Ansonsten aber wohnte in dem gedrungenen Körper der alten Frau ein scharfer Verstand, der sich lediglich weigerte, die Schranke von der Kindheit zur Erwachsenenwelt zu durchschreiten. Der traumatische Vorfall in jenen Kriegstagen hatte diese Entwicklung ausgelöst und Viktor verstand.

„Sie hat im Krieg Schreckliches durchgemacht und Heilung in der Kapsel ihrer bis dahin unbeschwerten Kindheit gefunden“, zitierte Viktor das ärztliche Bulletin, das den Allgemeinzustand von Hedwig charakterisierte. Nie hatte jemand danach gefragt, was der Frau im Kindesalter widerfahren sein mochte. Man konnte es sich vorstellen. Der Krieg ist ein grausamer Geselle, der auch vor Kinderseelen nicht haltmacht. Die verrohte Soldateska und das kleine Mädchen. Unvorstellbar. Unaussprechlich. Viktor nickte zu den betroffenen Mienen und beließ es dabei.

Dennoch bedauerte die Kommission. Man könne Hedwig nicht in die Residenz aufnehmen. Sie sei zu betreuungsintensiv. Auch könne man die Anwesenheit eines Kaninchens aus hygienischen Gründen auf keinen Fall dulden. Man müsse sich im Fall von Hedwig überlegen, ob eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung nicht sehr viel angemessener sei. Eine geballte Ansammlung Fachkompetenz bemühte sich um die freundliche Überredungskraft, die nötig sein würde, um den störrischen Alten, der sich als Viktor vorgestellt hatte, zu überzeugen.

Viktor war auf diesen Ausgang des Gesprächs gefasst. Er war vorbereitet, so wie er immer vorbereitet war. Hedwig hatte bei der Durchsicht der Unterlagen in die Hände geklatscht. Sie hatte es nicht unbedacht getan. Hedwig wollte eine Wohnung in der Residenz und sie sollte sie bekommen.

Viktor besaß nur wenige Leidenschaften. Er trieb Sport und las, ernährte sich gesund und unternahm kurze Bildungsreisen, wann immer ihn sein Beruf in fremde Städte führte. Er führte ein kleinbürgerliches Leben, das neben den vereinzelt erforderlichen Tötungsdelikten flach und unaufgeregt verlief. Seine Tage versandeten in Routine und Gleichförmigkeit.

Eines aber weckte alle seine Instinkte. Dann war er wach und aufmerksam. Dieses Eine waren seine Dossiers. Dossiers waren die Leidenschaft von Viktor. Zwischen zwei harmlos wirkende gelbliche Aktendeckel pferchte er Schicksale. Eng beschriebene Karteikarten skizzierten Personen und ihre Gewohnheiten, ihre Stärken und Schwächen. Die Karteikarten waren in einem komplizierten System mit Kordel aneinandergefädelt. Manchmal gesellten sich Fotos hinzu. Aussagekräftige Fotos. Beschriftete Fotos mit Namen und Ortsangaben. Dann wieder große Bögen mit Anmerkungen in verschiedenen Farben und Pfeilen. Viktor glaubte nicht an Computer und die Segnungen von Speichermedien. Für ihn war das sinnliche Erleben wichtig. Sein Beruf war nicht digitaler Natur. Sein Beruf hatte mit Fleisch und Blut zu tun. Mit viel Fleisch und viel Blut. Also beschriftete er mit Sorgfalt seine Karteikarten, fädelte sie auf, wo sie zusammengehörten und legte den Rest lose in die Akte, alle an den ihnen zukommenden Platz, bis er ein lückenloses, chronologisches Profil seiner Klienten erstellt hatte. Das war er seinen Klienten schuldig.

Die Dossiers, die er erfolgreich abgeschlossen hatte, trug er in einem langen Spaziergang in den Wald, schlug sich ins Unterholz und verbrannte sie dort Stück für Stück. Wälder waren ideale Verschwörer. Sie galten als verschwiegen und leidenschaftslos. Viktor liebte Wälder. Sie hatten ihn noch nie enttäuscht.

Er nannte sein kleines Ritual „Rauchopfer“. Es war seine Art Abschied zu nehmen und loszulassen. Das Rauchopfer war mehr als die Beseitigung von Spuren. Es war eine Respektsbekundung und ein Selbstheilungsprozess.

Für das Rauchopfer wählte er stets neue Plätze, die er in Augenschein nahm und auf ihre Tauglichkeit untersuchte.

Dann wartete er auf einen Tag, der unangenehm feucht oder kalt zu werden versprach. Niemand sollte ihn stören. Er badete ausgiebig und rasierte den ganzen Körper. Er kleidete sich in Schwarz und nahm das Dossier zur Hand. Ein letztes Mal blätterte er und verweilte bei einzelnen Karten. Schließlich klappte er das Dossier mit einer energischen Bewegung zu und kreuzte den Aktendeckel mit einem roten Stift.

Das rote Zeichen war immer das letzte Merkmal, das sich in den Flammen des Feuers einrollte und verging. Mit einem abgebrochenen Aststück stand der alte Mann im Unterholz und starrte auf die rußige Masse zu seinen Füßen, die noch glühte und bald erlöschen würde. Er begann mit der Spitze des Astes die verkohlten Blätter zu zerstoßen und zu verreiben, bis ihre Struktur nicht mehr erkennbar war und die Informationen endgültig ausgetilgt waren, davongetragen von einer flimmernden Hitzezunge. Dann füllte der alte Mann die Überreste des Brandopfers in eine Aluschale und tilgte die Spuren des Feuers. Die Aluschale würde er in einen Müllcontainer entsorgen, zusammengeknüllt und erkaltet. Die richtige Stelle dafür hatte er bereits ausgesucht. Bald würde der Wald wieder unberührt daliegen.

Zum Abschluss des Rituals gönnte sich Viktor eine kleine Extravaganz. Nicht dass er betete oder andere komplizierte Verrichtungen vollzog. Er war ein praktischer Mensch, der nicht zur Esoterik neigte.

Viktor fotografierte. Es war eine unbedeutende Geste. Eine Feuerstelle im Gewirr von Brombeerranken. Verbranntes Gras in der Nachbarschaft eines umgestürzten Baumstammes. Angekohltes Geäst in einer Fichtenschonung. Stillleben eines Abschiedes, anonym und endgültig. Die Schnappschüsse druckte Viktor aus. Mit der gleichen Kordel, mit der er die Karteikarten aneinander fädelte, befestigte er eine schlanke Phiole mit ein wenig Asche an dem Foto. Keine Beschriftung, keine Hinweise. Nichts, was auf die Herkunft oder den Sinn der Sammlung hindeuten könnte. Der alte Mann war kein Serienkiller. Er benötigte keine Fetische, um seine Taten rauschhaft nachzuvollziehen, bis der Trieb erneut machtvoll einsetzte und ihn über den Rand der Selbstbeherrschung trieb. Er war ein Handwerker. Er arbeitete auf Bestellung. Emotionslos, gründlich und leise. Ein Handwerker, wie man ihn gerne in sein Haus lässt, außer man ist die Person auf dem Foto.

Wegen Hedwig brach Viktor mit seinen Gewohnheiten. In dem von ihm verfassten Handbuch hieß es: „Vermeide eine offene Konfrontation, wenn du sie nicht unverzüglich und endgültig beenden kannst. Lass niemals Spuren zurück“.

Viktor gedachte die Konfrontation zu suchen und alles in der Schwebe zu lassen. Die Spuren sollten deutlich sichtbar zurückbleiben. Es war ein Risiko, aber eines, das er einzugehen gedachte. Immerhin konnte er sich dabei auf eine andere Regel berufen: „Wenn unvorhersehbare Umstände eintreten, sei flexibel und improvisiere.“ Das gedachte er zu tun. Hedwig war es ihm wert.

Das Dossier war unversehrt, als er es vorlegte. Viktor fühlte sich unwohl. Noch nie hatte er eines seiner wertvollen Stücke aus der Hand gegeben. Dieses Mal musste es sein. Er tröstete sich damit, dass es eine Ausnahme war. Eine Privatangelegenheit, die seine beruflichen Interessen nicht berührte. Er hatte viel Sorgfalt auf die Zusammenstellung der Informationen verwendet und mehr Bilder gemacht als gewöhnlich. Die Bilder waren am überzeugendsten.

Es war einfach gewesen. Behörden und Schulen steckten voller Gerüchte. Das Gleiche galt für Heime, auch wenn sie sich Residenz nannten. Man musste sich nur in die Cafeteria setzen und sie zu sich einladen. Aus allen Ecken wisperten sie. Die Betreiberin der Cafeteria, eine stämmige Frau mit einem losen Mundwerk, steuerte einige Bruchstücke bei. Bewohner ergingen sich in Spekulationen. Man zwinkerte und flüsterte. Auch Viktor zwinkerte und flüsterte. Er hatte Verständnis für die Mitteilungsbedürftigkeit seiner Mitmenschen. Er hatte auch Verständnis für ihre Bitten um Diskretion. Schließlich ging es nicht um Missstände, die man laut und öffentlich anprangern musste, sondern um Skandale, die unter der Decke gehalten werden wollten.

Viktor griff die saftigsten Stücke heraus und machte sich daran zu recherchieren. Schon bald beschriftete er die ersten Karteikarten. Er sah Register ein, besuchte Gerichte, klopfte bei Notaren an und verbrachte zahllose Nächte mit seiner Kamera.

Immer wirkte er unscheinbar. Immer hatte er eine plausible Erklärung parat. Man vergaß ihn, sobald er gegangen war. Nur ein alter Mann, höflich und zerstreut. Vielleicht ein bisschen naseweis und ganz entschieden hilflos. Ein alter Mann wie tausend andere alte Männer.

So dachten auch die Mitglieder der Aufnahmekommission der Residenz, als er ihnen gegenübersaß. Für sie war er ein potenzieller Kunde und ein ausreichender Kontostand in menschlicher Gestalt. Da hatte Viktor seine Arbeit schon gemacht.

Er verabschiedete sich von der Kommission mit einer steifen Verbeugung. Der Höflichkeit musste Genüge getan werden. So hatte er es gelernt. So hatte er es praktiziert. Den Rest übernahm das Dossier im gelben Umschlag. Viktor zögerte den Raum zu verlassen.

Die Metamorphose der grauhaarigen Dame mit den schmalen Lippen war erstaunlich, als sie die ersten Bilder sah. Der silberne Stift entglitt ihrer Hand, ihre blassgrauen Augen drehten sich in den Höhlen nach oben, als suchten sie verzweifelt nach Halt und ihr Mund verzerrte sich zu einer grotesken Grimasse. Der löwenmähnige Geschäftsführer der Residenz beeilte sich, seine Verwaltungsleiterin aufzufangen. Er hatte Übung darin. Man konnte es auf den Bildern sehen. Auch wenn sie nicht gestochen scharf waren, wirkten sie auf den Betrachter sehr erhellend. Die Posen, die der Geschäftsführer und seine Verwaltungsleiterin in dem Geräteraum der Residenz einnahmen, waren interessant und vielseitig. Für eine ältere Dame besaß die Frau erstaunlich feste Brüste und ein diabolisches Temperament, das weit über ihre fade Alltagsmaske hinausreichte. Der Löwenmähnige trug fest eingerammte Pfauenfedern an einer Stelle, an die Viktor keine Fremdmaterie an sich herangelassen hätte. Managementaufgaben beflügelten offenbar zu erstaunlichen Taten.

Viktor erinnerte sich an die Schreie, die Bisse, das infantile Gegurre und an seine unbequeme Position hinter einem Hochregal. Die Pfauenfedern ragten hoch auf, als der Geschäftsführer mit einem gutturalen Hecheln zustieß und die Verwaltungsleiterin unter dem Ansturm seines Körpers kapitulierte. Einer ihrer mageren Arme fuchtelte in Rodeomanier durch die Luft. Immer wenn die flache Hand auf den Rücken ihres Reiters klatschte, schrie sie: „Hoppa, Hoppa.“

Es war jammerschade, dass die Bilder das Ausmaß der Lust zwischen Staubsaugerbeuteln und Flüssigseife nicht ausreichend wiedergeben konnten. Es fehlte die Tonspur zur Vollkommenheit. Das schien auch der Löwenmähnige zu bemängeln, denn er brüllte mit hochrotem Kopf, als er der Bilder ansichtig wurde. Unsanft legte er die noch immer nach Luft und Fassung ringende Verwaltungsleiterin beiseite und griff nach dem alten Mann. „Unverschämtheit, Erpressung und Polizei“, bellte er in immer neuen Variationen heraus und beruhigte sich erst, als eine Stahlrute friedensstiftend mit seiner Schläfe kollidierte. „Hoppa“, sagte die Stimme des alten Mannes sanft. Die Verwaltungsleiterin stöhnte auf. Der Löwenmähnige kollabierte und lag halb auf seiner Geliebten. Zur Vervollständigung des Ensembles hätte man nur noch Pfauenfedern an der richtigen Stelle in den Mann hineinstecken müssen und alles hätte wieder seinen Anfang nehmen können.

Viktor sprach mit großem Ernst. Nicht umsonst hatte er die beiden zu einem Gespräch unter sechs Augen in einen Nebenraum gebeten. Viktor redete nicht von den Bildern. Er redete nicht von Ehebruch und Perversion. Das waren unappetitliche Dinge, die den Boden bereiten sollten. Den Boden für die wichtigen Fakten.

Fakt war, dass in der Residenz Gelder veruntreut wurden. Es waren Schmiergelder eines Baulöwen geflossen. Ein Wäschereiunternehmen und eine Reinigungsfirma hatten sich in langfristige Verträge eingekauft. Testamente verstorbener Bewohner bedachten Personen mit Vermächtnissen, die zum Pflegepersonal gehörten. Ein Anteil davon floss auf Konten des Geschäftsführers. Viktor ließ Papier um Papier zu Boden fallen. Die Papiere fielen wie Urteilssprüche.

Es war still geworden im Raum. Jemand hämmerte gegen die verschlossene Tür und fragte, ob alles in Ordnung sei. Die Stahlrute wippte in Viktors Hand. Der Löwenmähnige lag über der Grauhaarigen. Es war alles in bester Ordnung. Drei Augenpaare trafen sich nach einem Moment der Unsicherheit. Sie forschten sich aus. Noch immer war alles in bester Ordnung.

Hedwig klatschte in die Hände, als Viktor ihr die gute Nachricht überbrachte. Er hatte eine Kopie des Dossiers angefertigt. Dieses würde er nicht vernichten. Der Fall war noch nicht abgeschlossen.

Der Wald musste warten.

Der Engelmacher

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