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VI.

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Das Nachkriegsdeutschland war eine Wundertüte. Eine Wundertüte mit Scharten und Mängeln. Unter dem Schutt, den Entbehrungen und den Hungerwintern machte sich der Aufschwung bereit. Er sickerte in die Ortschaften, swingte in den Radios, begleitete die alliierten Hilfslieferungen.

Viktor war einer von denen, die es verstanden zu organisieren. Er nutzte die Schwarzmärkte, um sich Zigaretten zu erflüstern, Damenstrümpfe mit Naht und andere Dinge, die er sofort wieder in Lebensmittel und Stoffe umsetzte. Er hatte verstanden, dass die Waren niemals ruhen durften, wenn man an das Wunder der Geldvermehrung glaubte.

Mehr noch als Lucky Strikes und Nylons war eine andere Ware begehrt. Man sprach nicht über sie, ja man wagte es noch nicht einmal an sie zu denken, so unerhört war ihr Auftreten. Schwarze Musik, wollüstige Verrenkungen beim Tanz, grell bemalte Münder und Alkohol in langstieligen Gläsern begleiteten die Zeit des Aufbruchs. Die Jahre des Wirtschaftswunders begannen sich schwach am Horizont abzuzeichnen. Eine Zeit der Sittenlosigkeit und der Amerikanisierung, die zu vollenden suchte, was die 20er Jahre nicht zu Ende bringen konnten. Für Viktor war diese Welt wie gemacht. Er bewegte sich in ihren Reihen mit traumwandlerischer Sicherheit, ein junger Mann, aufrecht, bedächtig und mit flinken Augen, denen nichts entging.

Als er das erste Mal die neue Ware anbot, brannte sie in seiner Jackentasche. Er war nervös, viel nervöser als der dunkelhäutige GI, der ihm mit einem breiten Lachen das Heft in die Hände drückte. Viktor war sich bewusst, dass er errötete, während er prüfend die Seiten umblätterte. Die Scham hielt ihn davon ab, mehr als einen kurzen Blick auf die Ungeheuerlichkeiten zu werfen, die in dem Magazin abgebildet waren. Manchmal handelte es sich um Zeichnungen, oft aber um Fotografien. Die Frauen auf den Bildern starrten mit stark geschminkten Augen aus den Blättern heraus. Ihre Blicke waren lasziv und schuldig. Es waren Sünderinnen in Unterwäsche mit Spitzen und Farben, die dazu gemacht waren, den Blutdruck von Männern in die Höhe zu treiben und ihre Moral zu untergraben. Schwarze Strümpfe unter rosa Korsagen. Beine, die sich in hochhackigen Schuhen himmelwärts reckten, feuchte Lippen und Fleisch. Viel Fleisch. Nicht das Fleisch, das man sah, wenn die Frauen mit umgebundenen Kopftüchern und gebräunten Gesichtern die Feldarbeit verrichteten. Nicht das Fleisch, das die Bürokräfte in weiten Pullovern und züchtigen Röcken zeigten. Nein, es war das Fleisch hochgereckter Pobacken und entblößter Brüste. Manikürte und gelackte Nägel vergruben sich in behaarten Spalten, wo sie Dinge taten, die das Bild aussparte.

Die Bilder wollten, dass der Beobachter selbst etwas tat. Sie luden ein. Trieben. Verlangten. Viktor konnte es fühlen. Er krümmte sich und wandte sich von dem GI ab, der ihn mit einem wissenden Augenzwinkern bedachte.

Viktor nannte seine Dienstleistung „Kunstkalender“. Sorgfältig trennte er die Seiten der Magazine auseinander und legte sie in seinem engen Mansardenzimmer aus. Auf einen Zeigestock gestützt betrachtete er sein Werk und begann mit der Zusammenstellung.

Für den Eintritt in die Erwachsenenwelt hatte auch er Opfer bringen müssen. Seine Stimme war rau und tief geworden. Akne spross an seinem Kinn und verunzierte seine Stirn. Er hatte einen Kampf mit seinen Eltern ausgefochten und sich dazu entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen.

Was ihm blieb, war der Instinkt zum Spieleerfinden. Und so erfand er Erwachsenenspiele. Der Kunstkalender hatte Monate und die Monate hatten Themen. Die abgebildeten Frauen verkörperten die Themen. Manchmal hatten die Frauen Gesellschaft. Das waren die besonders wertvollen Bilder. Für sie suchte Viktor schöne Monate aus. Monate, wie den März, den Juli oder den Oktober. Bald kombinierte er mit verwegenem Mut und wachsender Zuversicht. Der Nachschub war gesichert. Amerika war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und das Land der unbegrenzten Ressourcen. Viktor hörte auf mit anderen Waren zu handeln. Er beschränkte sich auf die Körperkunst und lebte. Zum ersten Mal seit langer Zeit lebte er.

Einer seiner zuverlässigsten Kunden war ein gedrungener Mensch im grauen Mantel und tief in den Taschen vergrabenen Händen. Seine Augen waren immer starr auf die vor ihm ausgebreiteten Blätter gerichtet. Viktor nahm sich Zeit für seinen besten Kunden. Er wusste, dass der Mann kaufen würde. Dass er alles kaufen würde, denn der Mann hatte flinke Hände. Hände, die schneller waren als das Gehirn. Hände, die von den Manteltaschen zu den intimeren Bereichen wanderten und zu kneten begannen. Wenn die Zähne des Mannes seine Unterlippe erfassten und sein prüfender Blick immer schneller über die Bilder glitt, verabschiedete sich Viktor. Er hatte das Geschäft gemacht. Alles, was sein Kunde jetzt benötigte, war die Kabine einer Toilette und etwas Platz. Viktor hatte keine Angst um seine Entlohnung. Der Mann war zuverlässig und er betete die Kunst an.

Das Beste an dem Kunden war jedoch seine Tochter. Viktor war vielen Mädchen begegnet. Anderen Mädchen als Hedwig, die seine Schutzbefohlene war. Mädchen mit langen, seidigen Haaren und hochnäsigen Gesichtern. Mädchen mit blassem Teint und Zahnspangen. Und Mädchen mit drallen Gliedern und puppenhaftem Gehabe. Allen war gemeinsam, dass sie Viktors Aufmerksamkeit nur kurz zu fesseln vermochten. Viktor besah sich ihre Aufmachung, tauchte für kurze Zeit in ihre Gespräche ein und befand, dass sie alberne Geschöpfe ohne Tiefgang waren. Vielleicht, dachte er bei sich, müsse er sein Glück bei älteren Frauen suchen. Solche gab es in den Nachkriegsjahren zuhauf. Die meisten von ihnen warteten nicht mehr auf ihre Männer. Man konnte ihren Hunger nach Leben spüren. Sie waren leichte Beute.

Aber auch bei den jungen Witwen wurde Viktor nicht fündig. Entweder kamen sie zu ungelenk und sauertöpfisch daher oder sie umgaben sich mit einer schrillen Frivolität, die jede Natürlichkeit wegspülte.

Anders war es bei Sabine. Sie war hochgewachsen und blond und sie hatte einen Vater, der Viktors bester Kunde war. Sabine war die Sorte Frau, die einen festen Händedruck hatte und französisch sprach. Wenn sie sich des Deutschen bediente, fädelten sich ihre Sätze zu kleinen Wortungetümen auf, die nie einen Zweifel an ihren Absichten zuließen. „Du trägst kragenlose Hemden über der Hose und das Jackett über dem Arm. Außerdem verzichtest du auf diese schreckliche Pomade. Das gefällt mir. Du gefällst mir“. Mit diesen Worten legte Sabine ihren Kopf ein wenig schief und lächelte schelmisch, was ihr zwei Grübchen in die Wangen trieb.

Sätze wie diese und ein zerzauster Blondschopf waren dazu angetan, Männer zu überwältigen. Sie überwältigten Viktor. Sabine überfuhr seine Zurückhaltung, zertrümmerte seine Vorsätze, torpedierte seine Zukunftspläne. Sie versetzte Enzyme, Botenstoffe und Hormone in einen ungeordneten Aufruhr, sodass die einfachsten Körperfunktionen Kapriolen schlugen und dort aussetzten, wo es am peinlichsten war. Viktor jonglierte mit Schweißausbrüchen, Darmwinden und Rülpsern, errötete und stammelte, bis sich alles um ihn drehte und er halb ohnmächtig nach Luft rang, während ihn das Wesen vor ihm noch immer anlächelte. Viktor war verliebt.

Der Vater von Sabine hieß Ernst. Sein Name war Programm. Ernst war ein Kirchenmann. Die Seelsorge betrieb er mit der gleichen Akribie, mit der er während der Kriegszeit für die Reinerhaltung der deutschen Rasse eingetreten war. Eifer konnte man ihm nicht absprechen.

Ein amerikanisches Entnazifizierungsgremium hatte ihn als „minder belastet“ eingestuft. Ein paar Schreibmaschinenzeilen auf gelblichem Papier hatten ihn reingewaschen. Ernst glaubte an Papiere. Er glaubte an Autoritäten und er glaubte an Gott. Alles hatte seine Ordnung. Alles hatte seinen Platz. Sein Platz war im Schoß der Mutter Kirche, die er niemals wirklich verlassen hatte. So sagte es das Papier. Ernst hatte eine unbefleckte Seele.

Sein Fleisch war nicht unbefleckt, aber wer war schon vollkommen. Niemand konnte ihn verurteilen. Gott alleine wusste, wie schwierig es war, eine halb erwachsene Tochter alleine großzuziehen. Gott alleine wusste, wie schwer das Leben eines Mannes ohne eine Frau an seiner Seite war. Gott war verständnisvoll und barmherzig. Auch Gott war ein Mann.

Natürlich hatte Ernst Versuche unternommen, sich nach dem Tod seiner Frau neu zu verheiraten. Die Kirche sah es gerne, wenn ihre Pfarrer in geordneten Verhältnissen aufwuchsen. Es stellte sich allerdings heraus, dass es kein einfaches Unterfangen war, sich einer neuen Partnerin zu öffnen. Ernst hatte seine Eigenheiten. Eigenheiten, wie sie nur Kunstliebhaber hatten.

Ernst war Liebhaber nicht sehr weit verbreiteter Praktiken, die sich in seiner Fantasie abspielten, wenn er die Kunstkalender verschlang. Und Ernst war vorsichtig.

Nur ein einziges Mal gab er der Versuchung nach und offenbarte sich einer neuen Bekannten. Sie war ein stets übernächtigt aussehendes Geschöpf mit welken Brüsten und einem großen Verlangen nach familiärer Sicherheit und sozialem Status. Dafür war sie bereit Opfer zu bringen. Opfer, wie sie Männer von einer gehorsamen Frau erwarten durften. Daher schluckte sie ihren Abscheu herunter und ermunterte Ernst ganz ehrlich zu ihr zu sein. Sie wolle seine Wünsche erfüllen. Nur dazu sei sie geboren worden. Um seine Wünsche zu erfüllen. Und Ernst fasste Vertrauen. Er flüsterte ihr mit sichtlicher Erregung einige Sätze ins Ohr. Nachdem sich seine Auserwählte aus ihrem Starrezustand herausgeschält hatte und ihr Schreikrampf abebbte, ohrfeigte sie ihn voller Ekel, versprach ihm einen Termin bei der Polizei und stolzierte aus dem Haus, nicht ohne den Ausdruck „Sau“ mindestens fünf Mal in ihrem Abschiedsgruß zu verwenden.

Danach machte Ernst keinen ernsthaften Versuch mehr, eine Frau für sich zu gewinnen. Er nahm intensive Zuflucht zu den Kunstkalendern und diente seiner Kirche. Niemand wusste von seinen kleinen Besonderheiten. Niemand, außer Viktor.

Viktor sprach bei Ernst vor. Sabine hatte ihn gewarnt, ja sie hatte ihn angefleht. Viktor sah nur die Grübchen in ihren Wangen und dachte an den Flaum, den er über ihrem Gesäß spüren konnte, wenn er mit der Hand über ihre Haut strich. Sabine war immer kühl und sie roch wie ein Frühlingsmorgen. Sie wusste nichts von seinen Geschäften, nichts über ihn, aber sie hatte sich in den pickligen, ernsten Jüngling verliebt. Daran bestand kein Zweifel. Sie hatte es ihm auf ihre unnachahmliche Weise gesagt. Sie sagte: „Ich liebe dich“, in dem ihr eigenen bestimmten Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie fügte dem Satz nichts hinzu. Der Satz war perfekt, so wie er war.

Viktor sagte zu Ernst: „Ich liebe Ihre Tochter.“ Er bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln und Zuversicht.

Ernst wusste, dass er geschlagen war. Seine Hände krampften und ballten sich zu Fäusten. Sie hielten sich aneinander fest, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann zeigte der Mund des Geistlichen ein resigniertes Lächeln, das rasiermesserscharf und freudlos war. Es war das Lächeln geschlagener Kunstkalenderliebhaber. Das Lächeln hatte etwas Wölfisches. Es verbarg die Zähne hinter blutleeren Lippen.

Viktor war zufrieden. Sabine konnte ihr Glück nicht fassen. Sie heirateten. Es war kitschig und romantisch. Ein Pärchen, das nichts hatte als die eigene Existenz, ein wenig Aussteuer und ein Mansardenzimmer. Es war perfekt.

Ernst konnte die Trauung nicht vollziehen. Kurz vor der Hochzeit begann er das Bett zu hüten. Sein Leiden war unbestimmter, aber gravierender Natur. Nach dem Termin erholte er sich rasch. Die Eltern Viktors schickten eine Glückwunschkarte mit einer dürren Gratulation und einem fetten Geldschein.

Es wurde eine innige Feier. Der Regen, die in den kahlen Bäumen versammelten Krähen, die schlammigen Straßen und die düstere Kälte der Kirche – nichts konnte das Glück des jungen Paares trüben. Wenn sie sich ansahen, hing der Himmel voller Geigen. Ihre Herzen klopften den gleichen Takt und die Zukunft glänzte golden, überstrahlt von dem eigenen unfassbaren Glück.

Soweit reichten Kitsch und Romantik und es war gut so.

Als Sabine schwanger wurde, war das Glück für Viktor vollkommen. Bei Sabine konnte man Zweifel haben. Je voller ihr Bauch wurde, desto hagerer wurde ihr Gesicht. Wenn man genau hinschaute, sah man die strengen Gesichtszüge ihres Vaters hinter ihren Grübchen hervorschimmern. Sabine wirkte unzufrieden. Viktor verdoppelte seine Anstrengungen. Jetzt, da er für eine ganze Familie zu sorgen hatte, gab er das Geschäft mit den Kunstkalendern auf. Er hatte das Gefühl, er müsse ein ehrbarer Geschäftsmann werden. Jemand, dem man Respekt entgegenbrachte. Jemand, der sich den Respekt seiner Ehefrau verdiente. Sabine schien in letzter Zeit mit seinem Lebenswandel nicht mehr einverstanden zu sein. Sie beklagte sich darüber, dass Viktor wie ein Straßenköter an den Ecken stand und mit seinen Kunden die Köpfe zusammensteckte, wie es lichtscheues Gesindel tat. Jawohl, genau so drückte sie sich mit weinerlicher Stimme und um den geblähten Leib geschlossenen Armen aus.

Natürlich hatte sie recht. Sie hatte nur zu Recht. Viktor suchte eine Anstellung und fand sie als Buchhalter in einer Briketthandlung. Zahlen waren Viktors Freunde. Er konnte gut mit ihnen umgehen und sie dankten es ihm damit, dass seine Berechnungen und Aufzeichnungen immer auf den Pfennig genau stimmten. Alles war gut. Alles, bis auf die Bezahlung. Sabine nörgelte. Sie wies mit aufgeworfenen Lippen und geschwollenen Händen auf die schäbige Ausstattung ihrer Wohnung. Die Vorhänge mussten erneuert wurden. Und die Tapeten. Oh Gott, diese Tapeten. Man konnte noch nicht einmal Bekannte einladen, ohne sich schämen zu müssen, klagte Sabine. Wenn sie klagte, erschienen keine Grübchen in ihren Wangen.

Natürlich hatte sie recht. Viktor hätte erwidern können, dass sie keine Bekannten hatten, die man hätte einladen können. Er hätte darauf verweisen können, dass Sabine mit jedem Tag mehr von dem unleidlichen Naturell ihres Vaters an den Tag legte, der mit sichtbarer Genugtuung den Kummer seiner Tochter zur Kenntnis nahm. Viktor tat nichts dergleichen. Es kam ihm nicht in den Sinn, weil er verliebt war. Liebe erträgt alles und Viktor hielt sich an die Buchstaben dieser Weisheit.

Viktor sah sich nach einer Nebentätigkeit um. Rings um die beiden wuchsen das Bürgertum und die Spießigkeit. Die ersten fetten Bäuche signalisierten ein nahes Ende der schlechten Zeit. Wirtshäuser trauten sich aus ihrer Bier- und Zigarrenstumpentristesse und servierten russische Eier mit Lachsersatzschnitzeln in Öl und viel Mayonnaise.

Schüler aus gutem Haus benötigten Nachhilfestunden, um sie durch die Gymnasien zu schleusen. Das war die Chance für Viktor. Er suchte nach Beendigung seiner Arbeit Bürgerhäuser auf, um Mathematik in widerspenstige Jungenhirne zu pauken. Bald zahlte sich seine Tätigkeit aus. Der Haushalt von Sabine und Viktor stabilisierte sich. Viktor träumte von neuen Tapeten und einem Kinderzimmer. Er träumte von einem kleinen, bescheidenen Glück, dessen Mittelpunkt Sabine sein sollte. So hatten sie es sich geschworen unter dem sternenbesetzten Geigenhimmel.

Sabine träumte andere Träume. Kurz vor der Niederkunft klagte sie über die Abwesenheitszeiten ihres Mannes. Sie tat es mit nach vorne gerecktem Bauch und einer hysterischen Stimme. Andere Männer sorgten sich um ihre Familie. Sie ließen ihre Ehefrauen nicht alleine mit dem Abendessen zuhause sitzen, um sich mit mathematischen Spitzfindigkeiten zu vergnügen. Andere Männer verdienten ausreichendes Geld und boten ihren Frauen Unterstützung, Wohlstand und Zerstreuung. Andere Männer entzogen ihren Frauen nicht das Wertvollste, was eine Ehe ausmachte: ihre Zeit. Ganz Deutschland war voller anderer Männer.

Natürlich hatte sie recht. Viktor akzeptierte das. Es fiel ihm nicht schwer. Viktor war verliebt.

Immer öfter suchte er Rat bei Hedwig. Sie war zu einer jungen Frau herangewachsen. Einer jungen Frau mit ausdrucksstarken braunen Augen und einem Kaninchen als Begleitung. Viktor hatte sich dafür eingesetzt, dass sie nach dem Besuch der Sonderschule weiter gefördert wurde. Sie galt als intelligent und künstlerisch begabt. Ein kinderloses Lehrerehepaar nahm Hedwig auf. Hedwig ging es gut. Ihre Stärke lag im Zuhören. Sie hatte weiche Hände. Noch immer lag in ihren Augen derselbe schwärmerische Gesichtsausdruck, den sie hatten, als ein kleines Mädchen mit dicken Zöpfen einem schlaksigen Jungen beim Spieleerfinden zusah.

Hedwig war traurig. Sie gönnte Viktor alles Glück der Erde, aber Viktor war nicht glücklich. Er wirkte niedergeschlagen und gehetzt. Wenn die Sprache auf Sabine kam, schlug er die Augen nieder. Seine Erzählweise war fahrig. Er benötigte Rat und Hilfe.

Das Kind, das Sabine an einem stürmischen Samstagabend zur Welt brachte, war ein Mädchen. Ernst hatte seine Tochter einen Tag zuvor mit steinerner Miene abgeholt und in das Pfarrhaus gebracht. Er hinterließ für Viktor eine Mitteilung, die in knappen Worten besagte, dass Sabine ihr Kind in geordneten Verhältnissen zur Welt bringen wolle. Man werde ihm Mitteilung machen, nachdem das Kind geboren war. Alles Weitere werde man dann entscheiden.

Viktor verstand nicht. Er wollte nicht verstehen. Bestimmt hatten die Ereignisse der letzten Monate bei allen Beteiligten Spuren hinterlassen. Doch da war nichts, was man nicht mit ein wenig gutem Willen wieder ins Lot bringen konnte. Schließlich waren Sabine und er ein Ehepaar. Sie hatten sich ewige Liebe und Treue geschworen. Sie würden sich nicht von den kleinen Beschwernissen des Alltags irritieren lassen. Der Geigenhimmel und die Engelschöre waren Zeuge gewesen. Sie würden niemals auseinandergehen.

Man nahm Viktor fest, als er versuchte, mit Gewalt zu seiner Frau vorzudringen. Ein wohlbeleibter Polizist gab ihm den Rat, sich zu mäßigen. Die Klinik ließ ihm mitteilen, dass er Hausverbot habe. Ernst sprach ein Hausverbot für die Kirche aus und in dem Brief von Sabine stand in wohlgeordneten Buchstabenreihen, dass sie sich endgültig von ihm getrennt habe.

Der Geigenhimmel stürzte ein und die goldenen Strahlen erloschen. Viktor war wie betäubt. Er lief hinaus in die Nacht und kam erst zwei Tage später wieder zurück. Seine Kleidung war beschmutzt, als wäre er durch Ackerfurchen gekrochen. Er konnte es nicht mehr sagen. Er wusste nur noch, dass es dunkel, hell und wieder dunkel war und dass er fror. Entsetzlich fror. Manche hatten ihn gesehen und behauptet, er habe in hohen Tönen mit sich selbst gestritten und Spiegelfechtereien ausgeführt. Dann habe er gelacht und sei auf die Knie gefallen. Als er wieder bei klarem Verstand war, stellte er fest, dass der einzige Brief in seinem Briefkasten die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses war.

Sabine fühlte sich in der Obhut ihres Vaters geborgen. Sie würde ihre Tochter „Leandra“ nennen. Sie war sich sicher, dass Viktor nicht auf sein Erziehungsrecht pochen würde. Dazu war er zu schwach. Ein schwacher Charakter. So hatte ihn ihr Vater bezeichnet und damit recht behalten. Eine Gouvernante kümmerte sich um das Kind. Ihr Vater wollte, dass Sabine entlastet war. Mit ausdruckslosem Gesicht erforschte er die Gesichtszüge des kleinen Wesens nach Hinweisen dafür, ob sich die Gene seines nichtsnutzigen Schwiegersohnes Einlass in einen unschuldigen Babykörper verschafft hatten, um das Menschenkind dauerhaft zu entstellen. Pornografie. Dieser unverschämte Kerl handelte mit Pornografie. Der Schwiegervater schüttelte voller Abscheu den Kopf.

Zum Glück war da noch ein Bauunternehmer aus der Kreisstadt. Ein älterer, stattlicher Mann. Studiert und verwitwet, ehrbar und wohlhabend. Dieser Mann interessierte sich für schlanke, blonde Damen. Er war ein Lebemann mit ausgezeichneten Manieren und einem bleistiftdünnen Schnurrbart. Er nahm keinen Anstoß daran, dass Sabine verheiratet war und ein Kind von einem anderen hatte. Es gefiel ihm sogar. Frauen wie diese konnten es sich nicht erlauben, überzogene Ansprüche zu stellen. Der Bauunternehmer fuhr einen Mercedes und rauchte Zigarre. Ernst rieb sich die Hände. Mit ein wenig Geduld würde sich alles fügen.

Sabine besah sich den Wagen, der sie abholte. Seine Bleche glänzten aristokratisch, obwohl es ein trüber Tag war. Der Bauunternehmer wollte zu einem Aussichtspunkt mit ihr fahren. Er lag hoch über der Stadt. Sie waren schon einmal dort gewesen. Der Bauunternehmer, sein fettes Lachen, das massiv goldene Feuerzeug und Sabine. Dieses Mal würde sie ihm vielleicht erlauben sie zu küssen. Es war eine völlig andere Sache als mit Viktor. Viktor und sie, das war ein Anfall von Wahnsinn gewesen. Der Unternehmer würde eine bewusste Entscheidung sein, frei von Leidenschaft, eine Investition in die Zukunft. Sicher, sie würde Opfer bringen müssen, aber welche Frau musste das nicht, wenn ihre Männer nach ihnen griffen.

Sabine hing ihren Gedanken nach, als der Wagen auf das abschüssige Gelände einbog, das über bewaldete Abhänge steil abfiel. Der Motor des Wagens tickte. Es war angenehm warm. Der Bauunternehmer beugte sich zu ihr hinüber. Sein Vollmondgesicht lächelte sie an. Er fuhr mit seinen Händen an ihrer Hochsteckfrisur entlang. Sabine schloss die Augen und öffnete den Mund.

Sie wurde erst aufmerksam, als der Bauunternehmer in einen Schwall von Kühle hinein rief: „Bitte nicht.“ Es war kaum zu glauben, dass die junge Frau neben der Fahrertür die große Waffe in ihren Armen überhaupt halten konnte. Es musste Kriegsgut sein. Sie trug Zöpfe und sprach nicht.

Sabine hatte einen guten Blick auf den Korb, in dem sich etwas bewegte und das Fahrrad, das an einer Tanne lehnte, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Die junge Frau war beiseite gesprungen, nachdem sie die Handbremse gelöst hatte. Der Bauunternehmer schrie etwas, Sabine warf sich gegen die Beifahrertür. Die junge Frau verfolgte mit dem Lauf der Waffe den Wagen, der eine Schneise in den Hang pflügte, dann abhob und sich überschlug, immer wieder überschlug, bis er weit unten im Tal von einer mächtigen Eiche aufgehalten wurde.

Ein tragischer Unfall, sagten die Rettungskräfte. Tragisch war der richtige Ausdruck, fand jedermann. Jeder, außer einer jungen Frau, die trotz der Kälte mit einem schwer bepackten Flechtkorb über Waldwege zu Tal radelte. Manchmal, wenn sie das rauchende Autowrack an Wegbiegungen zu Gesicht bekam, stieg sie kurz ab und hielt inne.

In solchen Augenblicken lachte sie und klatschte in die Hände.

Der Engelmacher

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