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II.

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Sie sah auf ihre Hände. Sie lagen vor ihr wie zwei Fremdkörper, rot aufgedunsen und knotig, als ob sie sich in harter Fron Erfrierungen, rheumatische Verformungen und eine schorfige Haut erarbeitet hätten und jetzt ihren Ruhestand genössen. Die eingekerbten Fingernägel waren kurz geschnitten und hatten schon lange keine Feile mehr gesehen. Sie waren bäuerlich breit, aber die Nagelbette präsentierten sich sauber geschrubbt hinter milchigen Halbmonden.

Die Finger trommelten nervös auf die graue Tischplatte. Bläuliche Venen rollten auf den Handrücken. Die Hände waren erst Mitte dreißig, genau wie die Frau, die steif auf einem Stuhl saß und auf ihre unruhigen Finger herabsah, die keinem bestimmten Rhythmus folgten. Die Frau und ihre Hände hielten sich in einem kleinen Raum auf, einer spärlich eingerichteten Zelle, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Es war nicht klar, ob es ihnen bewusst war, dass sie sich im Gefängnis befanden, denn sie waren in ihre eigenen Welten versunken, die Hände in eine Welt leichter Erschütterungen, die sich beruhigend fühlbar über ihre Haut fortpflanzten und die Frau in eine Welt, die im Wesentlichen aus zwei Briefen bestand, die sie von einer Aufseherin erhalten hatte.

Selbstverständlich hatte sie nach der Dokumentation, die in einem anspruchsvollen Nachtprogramm eines überregionalen Fernsehsenders ausgestrahlt wurde, körbeweise Post bekommen, die von der Gefängnisleitung mit zähem Missvergnügen zensiert und missbilligend weitergegeben wurde, bis das Interesse an ihrer Person auströpfelte und nur noch die Straffälligenhilfe ihren zweifelhaften Prominentenstatus durch vermehrte Hilfsangebote anerkannte.

Man hatte die Bilder mit erigierten Schwänzen, die emotional gestörten Elegien spät pubertierender Männer, die kommerziellen Angebote dubioser Verlage und Filmgesellschaften zur Vermarktung ihrer Lebensgeschichte und viele andere außergewöhnliche Ergüsse sorgfältig gefiltert, geschwärzt und entfernt, bis die Zensur einen leicht verdaulichen Einheitsbrei fabriziert hatte, der ohne Schaden an die Inhaftierte zur weiteren Verdauung weitergereicht werden konnte.

Sie hatte sich Zeit genommen und die Umschläge studiert, denen ein automatischer Öffner Gewalt angetan hatte. Manche der Umschläge waren cremefarbig und schwer. Zumeist trugen sie Sondermarken in Form farbenprächtiger Vögel, imposanter Schiffe oder ernst blickender Persönlichkeiten, von denen sie keine erkannte.

Missfallend ballten sich die Hände, wenn sie auf plakative Unterstreichungen oder fett gedruckte Worte fielen, die das besonders betonte Attribut vollkommen unglaubwürdig machten und ein verächtliches Fingerschnippen ernteten Streichungen, die den Autor der Zeilen als wankelmütigen Wortklauber ohne Verve entlarvten.

Schließlich hatte sich der Postberg auf ein kleines Häuflein versprengter Briefe reduziert, die wieder in ihren Hüllen staken und ungeduldig warteten, dass sie mit einer Antwort gewürdigt wurden. Die Frau allerdings wartete mit akkurat nebeneinander abgelegten Händen. Sie hatte das Warten perfektioniert, denn es war alles, was ihr vom Leben verblieben war. Ihre Leidensgenossinnen im Trakt gingen an ihrer offenen Zellentür vorbei, ohne ihre Neugier offen zur Schau zu tragen, denn sie wussten um ihre Verfassung und ihre Fähigkeit das in sich gekehrte Brüten in ein aggressives Zischen zu verwandeln, das von einem bösartigen Starren begleitet wurde.

Ansonsten war die Frau ein Geist in Anstaltskleidung, die sich in das Unvermeidliche fügte und die unbeugsamen Regeln einhielt, die den Alltag beherrschten. Sie zeigte wenig Regung und antwortete einsilbig und nichtssagend, wenn jemand das Wort an sie richtete. Nach ihrer Inhaftierung war sie von einer schlanken Frau zu einer hageren mutiert, die außer einer unparfümierten Fettcreme keine Kosmetika benötigte. Dennoch war sie von einer unterschwelligen Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschloss, wenn ihre schwarzen Haare einen langen Hals freigaben oder ihr abgewandtes Gesicht ein Profil offenbarte, das man bei vielen Mannequins schon einmal gesehen zu haben glaubte.

Wäre ihre Beckenpartie nicht eine Spur zu breit gewesen, um den knabenhaften Modelmaßen zu entsprechen, wäre sie geradezu perfekt gewesen. Eine Vorsehung hatte für die Frau einen solchen Weg nicht im Sinn und so kam es, dass sie vor einigen Jahren nach einer großen Tasse Kakao ihre erste alte Frau umbrachte.

Als der zweite Brief des gleichen Absenders eintraf, erwartete sie ihn mit einer scheinbar ruhigen Gelassenheit. Lediglich ihre Hände, die für den gesamten Rest des Körpers Strafarbeit zu verrichten schienen, verknoteten sich ineinander und straften ihre stoische Ruhe Lügen. Aus der kargen Auswahl potenzieller Brieffreundschaften war niemand verblieben, der ihr Schweigen als Aufforderung zu einem erneuten Versuch begriff. Alle hatten kapituliert bis auf den einen, der sein erstes Anschreiben mit einer selbst gemalten, unbeholfen wirkenden Lakritzschnecke verziert hatte. Neben wohlgesetzten höflichen Worten, die weder in ihren Intimbereich drängten, noch abgedroschen oder mitleidig wirkten, teilte er nur mit, dass er seine demenzkranke Mutter pflege und seine wahre Berufung nach frustrierenden Studien- und Berufsjahren in der Süßwarenindustrie gefunden habe.

Die Lakritzschnecke verbarg sich am oberen Rand des Briefes unter einem Passbild, das einen gutmütigen Blonden mit Nickelbrille und wachen Augen zeigte. Die vollen Wangen lächelten gehorsam dem Objektiv der Kamera entgegen und gehörten sicher zu einem wohlgenährten Körper, der eher vordergründigen Vergnügungen nachging als sich asketisch zu kasteien. In einer ersten Reaktion schlug die Frau eine Hand vor ihren Mund und verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als sie die Zeichnung unter dem Bild entdeckte. Ihre hohen Wangen glühten und die dunklen Augen flogen über die Zeilen des Briefes bis zu der Stelle, an der der Mann schrieb, die Schnecke sei ein Ersatz, falls das Bild abhanden gekommen sei. Er offerierte keine weitere Erklärung für seine sonderbare Auswahl und Handlungsweise, sondern schilderte mit viel Enthusiasmus seine Hingabe an die immense Vielfalt von Süßigkeiten und deren segensreiche Gabe, das Glück in die Gesichter von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zu zaubern.

Ohne sie wie die meisten anderen aufzufordern, bestimmte weitere morbide Details über ihre Karriere als Mörderin preiszugeben oder stark verfrühte Hingabegelübde vor ihr auszubreiten, ihren straffen Körper betreffend, schloss er seinen Brief lediglich mit dem Satz: „Ich kann Sie verstehen. Meine Mutter leidet an Alzheimer. Bestimmt verstehen Sie auch mich.“

Sie hatte dem Impuls widerstanden, über die Herstellung von Lakritz nachzudenken oder dem Geheimnis des bittersüßen und auch salzig herben Geschmacks der schwarzen Delikatesse mithilfe der beschränkten Mittel der Leihbücherei nachzugehen. So war sie schon immer gewesen und sie hatte bereits als Kind gelernt, diesen Hang zur Besserwisserei zu bedauern.

„Das Mädchen ist verrückt“, seufzte die Mutter, wenn sie Fragen über den Inhalt der Höcker der Kamele stellte. „Das Kind ist verrückt“, zuckte der Vater mit den Achseln und bediente sich aus einer Flasche Korn, die so unweigerlich zu ihm gehörte wie seine übrigen Gliedmaßen. Auf die eindringliche Frage, wie wohl der Mond rieche, wusste er keine Antwort. „Da kommt die Verrückte“, unkten die Schulkameraden, wenn das hoch aufgeschossene Mädchen mit Zahnspange im Biologieunterricht zu dem Thema referierte: „Das partnerschaftliche, instinktgelenkte Jagdverhalten von Zackenbarsch und Muräne am Rande der Korallenriffe.“ „Du kannst einen wirklich verrückt machen“, stöhnte ihr Mann, wenn er nach ihr griff, um seinen Anspruch auf den Vollzug der ehelichen Pflichten zu demonstrieren und sie sich mit einem geübten Manöver entwand, auf seine brennende Zigarette wies und ihn mit ernstem Unterton fragte, ob er dem Forschungsergebnis glaube, dass 221 Gene den Unterschied zwischen Rauchern, die aufhören können und solchen, die scheitern, ausmachen.

Und so war es mit ihr geblieben. Alles, was sie hörte und las, musste sie auf Waagschalen legen, in einen Fragenkokon einspinnen, drehen und wenden wie einen wertvollen Stein, der durch das Schleifen mit Wissbegierde und das Polieren mit Wahrheit erst den richtigen Glanz erhielt.

Fast hätte sie diese Prozedur auch der Lakritzschnecke angedeihen lassen. Vielleicht hätte sie es noch getan, weil sie es gewohnt war, keine Antworten von anderen zu erhalten. Und dann kam der zweite Brief.

Er war im gleichen vertraulichen Plauderton gehalten, als hätte sich die Frau nicht in Schweigen gehüllt, das leicht als Ablehnung verstanden werden konnte. Ohne belehrend zu wirken, ließ der Schreiber einige Ideen zur Lakritzherstellung folgen und reicherte die bekannten Tatsachen zur Verwendung der Süßholzwurzeln mit kleinen Anekdoten an, die sich um die Zugabe von Salmiak in nordischen Ländern bis zur Befürchtung, die Nascherei rufe wegen ihrer hormonähnlichen Struktur Impotenz hervor, rankten. Zwischen zwei Abschnitte des Briefes hatte sich die Zeichnung einer Nase geschmuggelt, die bei der Leserin einen Heiterkeitsausbruch auslöste, den sie erst unterdrückte, als sie sich beobachtet fühlte. Sie kramte das Passbild des Mannes hervor und konnte genau erahnen, wie seine Augen schalkhaft blitzten, als er die Nase als Symbol des überragend wichtigen Geruchssinns für die Süßwarenherstellung einfügte. Sein Name war Mark und der Vertrieb von Süßigkeiten passte zu ihm.

Sie glaubte nicht, dass sich der Schreiber tief greifende Gedanken über ihre Gefühlswelt und Befindlichkeiten gemacht hatte. Er schien von einem Mittelungsbedürfnis beseelt zu sein, das sich mit ihren Informationsinteressen deckte, denn er fabulierte in lockerem Ton und ohne Angst, die Angeschriebene zu langweilen oder abzustoßen. Ernster wurde sein Stil, als er erneut auf die Motivation zu sprechen kam, die ihn dazu gebracht hatte, sie anzuschreiben.

Schnörkellos verzichtete er auf die üblichen Beteuerungen, dass er kein verschrobener Sonderling sei, der den Kontakt mit einer Gefangenen als besonderen Kick erlebte. Er wies auch kein Helfersyndrom auf, das viele Gutmenschen auszeichnete, die sich gesellschaftlich engagieren wollten und sich heute für die Rettung der Flussauen, morgen für den in seiner Existenz bedrohten Feldhamster und später für die Resozialisierung von Strafgefangenen einsetzten. Solche Menschen waren edel und sie wollten, dass dieses Prädikat öffentlich bekannt wurde, um sich in aller Bescheidenheit damit schmücken zu können.

Mark dagegen war erfrischend anders. Er erwähnte die Dokumentation des Fernsehsenders und schilderte die Schlüsselszene, die ihn dazu gebracht hatte, ihr zu glauben. Die Einstellung war eine Halbtotale, die die Frau in der Wäscherei zeigte. Ihre Hände hantierten ungeschützt mit einer Lauge und schweren Bottichen. Ihr Gesicht war friedlich und die Schatten des Verlustes ihrer Existenz umgaben sie wie Gespenster der Vergangenheit. In den feuchten Dunst hinein kommentierte ein Sprecher die Geschehnisse in dem Altenheim in kirchlicher Trägerschaft, das die bürgerliche Gesellschaft erschauern ließ und die Sensationsgier vieler befriedigte.

Wochenlang zeigten die Nachrichtensender die gleiche Verhaftungsszene. Zwei Polizisten und mehrere wichtig aussehende Männer in Zivil führten die Altenpflegerin in Handschellen ab. Ihr Kopf war gesenkt, aber man konnte erahnen, dass sie eine Schönheit war. Aus ihren leicht erhobenen Händen, die noch schwanenweiß und jungfräulich wirkten, machten die Gazetten die bittende Geste einer Verzweifelten, obwohl sie nur nach einer Zigarette gefragt hatte und dabei war, diese entgegenzunehmen. So wurde sie in ständiger Wiederholung bis zu ihrem Prozess in einer Endlosschleife derselben Aufnahmen verhaftet. Ihre Hände hoben sich immer aufs Neue der Zigarette entgegen. Die Verhaftete wurde dieser Sequenz bald überdrüssig, die sie zu einer öffentlichen Person und dem ‚Todesengel‘ machte, bildlich reduziert auf zwei gefesselte Hände, die sich wie Komplizen der Presse in das Bild schoben, das für sich in Anspruch nahm, die ganze Wahrheit zu erzählen. In der Haft würde sie die vorwitzigen und gedankenlosen Hände mit harter Arbeit und Nichtachtung strafen, denn sie warf ihnen Verrat und Illoyalität vor.

Acht Heimbewohner waren während der Schichten des Todesengels ums Leben gekommen. Es waren allesamt Frauen, schwere Pflegefälle mit leeren Augen und verwirrten Gesichtern. Man schätzte, dass die Pflegerin Dutzende alter Menschen umgebracht haben könnte und nahm umfangreiche Exhumierungen vor. Eine Überprüfung ergab, dass erhöhte Mengen an Insulinen, Neuroleptika und Tranquillantien aus den Beständen des Altenheims angefordert wurden, wenn der Todesengel Schicht hatte, ohne dass medizinische Notwendigkeiten vorlagen. Eilig herbeizitierte Experten überschlugen sich in Wertungen und Kalkulationen, stellten für die Kameras tödlich wirkende Medikamentencocktails zusammen und schwelgten in der Motivsuche, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass man es mit einem Monster in Engelsgestalt zu tun habe.

Der Todesengel stritt nicht ab, die Demenzkranken, die Hinfälligen und Bettlägerigen besonders intensiv betreut zu haben. Gefasst schilderte sie ihre Zuneigung zu ihren Schutzbefohlenen, die umso mehr zunahm als sie hilfloser und schwächer wurden.

Was blieb ihr anderes übrig als die körperlich agile Alzheimer Patientin mit Gummischläuchen an ihr Bett zu fesseln, die beständig auf der Wanderschaft war, medizinische Geräte mit der immer gleichen Bemerkung „Geht nicht, geht nicht!“, ausschaltete, auf Notknöpfe drückte und sich in fremde Flure verlief, bevor sie mit einem markerschütternden „Geht nicht, geht nicht!“, schluchzend in ihr Zimmer abgeführt wurde.

Wer konnte eine bessere Lösung für die Gehbehinderten und durch Dekubitus Geschädigten finden als das Anlegen von Windeln, in die sie sich erleichtern konnten, so oft sie wollten, bis die richtige Zeit gekommen war, die besudelten Beweise ihrer Inkontinenz in Reichweite moderner und heller Bäder von den nörglerischen Alten zu reißen und fahlgelbe, rissige Haut und wund gescheuerte Stellen mit Schwämmen und Tüchern zu reinigen. Man hatte die Handgriffe perfektioniert, packte Gelenke, drehte Extremitäten und ignorierte das undankbare Gejammer der infantilen Alten, die zappelten und strampelten wie ungehorsame Kinder.

Wie konnte man individueller auf unbotmäßiges und aufsässiges Verhalten reagieren, als die Schnabeltasse mit Tee außerhalb der Reichweite der dehydrierten Rollstuhlfahrerin zu stellen, die mit zeternder, durchdringender Stimme zur Unzeit forderte, dass man ihr Kissen aufschüttele, das sie als Rückenstütze benutzte, dabei aber die Agilität besaß, jeden erreichbaren Gegenstand mit ihrem Kot zu beschmieren, um ihren Standpunkt zu untermauern.

Wie anders war ein geregelter Ablauf möglich, als die besonders Aufsässigen mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie von geifernden, nach Menschenmüll stinkenden Ungeheuern zu verzückt sabbernden fügsamen Alten zu machen, denen man nicht gram war und die man frisierte, wusch und fütterte, wie es der Plan vorsah.

Was war dagegen einzuwenden, den Widerstand der fetten Cholerikerin mit der Magensonde durch das Anlegen von Bauchgurten zu brechen, die mit hervorquellenden Augen und Wahnsinn in der überschnappenden Stimme ihre Obszönitäten herausschrie und erst aufhörte, ihr Geschlecht zu stimulieren, wenn man ihr einige Ohrfeigen zur Ernüchterung verabreichte.

Der Todesengel war viel zu klug, um sich in diesem Sinne zu äußern. Eine zu große Dosis Wahrheit macht unsympathisch und nutzte niemandem. Besser war es, die in der Hauptverhandlung gezeigte Haltung zu perfektionieren und trotz offenkundiger depressiver Kraftlosigkeit die volle Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

All das kam in dem einen von ihr selbst geäußerten Satz in der Filmsequenz aus der Waschküche der Haftanstalt zum Ausdruck. Ihre Haltung straffte sich und ihr entschlossener Mund schloss einen Pakt mit ihren Augen, die ihre nachdenkliche Sanftheit verloren hatten. Ihre Hände verbarg sie auf dem Rücken. „Ich weiß jetzt, dass meine Art der Hilfeleistung gegen das Gesetz war, aber von einem moralischen Standpunkt aus würde ich es noch einmal tun.“ Der Todesengel trat zur Seite und wurde von der Kamera verfolgt. Noch einmal nahm die Frau Stellung. Dieses Mal schoss eine gerötete Hand nach vorne und stach mit dem Zeigefinger zu. „Wer tatenlos zusieht, wie Menschen unrettbar leiden, handelt verwerflich.“ Die Frau machte eine effektvolle Pause. „Mein Leben ist verpfuscht – wenn es aber den Sinn gehabt haben sollte, dass über die Erlösung als Akt der Barmherzigkeit ernsthaft nachgedacht wird, bin ich gerne bereit, den Preis zu zahlen.“ Der Mund schloss sich und wirkte zufrieden. Die Augen nahmen den gewohnten sanften Glanz an und über das Gesicht breitete sich Melancholie.

Genau diese Szene war es, die den Briefpartner von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt hatte. Wie oft hatte er die Erfahrung gemacht, dass die mobilen Pflegekräfte, die er für seine Mutter engagierte, überfordert waren. Es hatten sich die Vorkommnisse gehäuft, bei denen fremde Menschen mit einem verlegenen Lächeln oder die Polizei mit einer markigen Ermahnung zu mehr Sorgfalt seine hohlwangige, gebeugte Mutter von einem ihrer Ausflüge zurückbrachten und sie ihn zitternd in die Arme schloss wie einen verloren geglaubten Schatz, um kurz darauf mit Argwohn in der Stimme zu fragen, ob er auch in diesem Haus wohne. Er ahnte wie ein Mensch an einer Aufgabe, die sich täglich vor ihm auftürmte wie ein unüberwindliches Hindernis, zerbrechen konnte.

Die Dokumentation des Fernsehsenders hieß „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ und verkürzte die Tötungen zu der von Mitleid getragenen, aus einer tiefen seelischen Erschöpfung geborenen Euthanasie. ‚Burn-out‘ war das Modewort der Saison, lediglich überflügelt von ‚Stress‘. Die Dreharbeiten wurden in dem Bewusstsein genehmigt, dass man mit dem Aufdecken alltäglicher Gewalt gegen Ältere ein dringend der Lösung harrendes Problem identifiziert habe. Der Todesengel war eine bestens geeignete Person die Mischung aus emotionaler Leere, täglich neu erlebten Frustrationen und kaum kontrollierbarer Gereiztheit zu verkörpern. Natürlich konnte man die Handlungsweise nicht für Gut heißen, aber verstehen, ja verstehen konnte man sie. Wieder ein Täter, der zugleich Opfer war. Wieder ein Schlachtopfer herzloser Abläufe, diktiert von Einsatzplänen, Pflegehandbüchern, Uhren, Vorgaben und Verwaltungsarbeit.

Niemand wusste von den verschwundenen Gegenständen, die die attraktive Pflegerin mit geduldigem Lächeln oder einem verstohlen zugefügten Schmerz von den Pflegebedürftigen erpresste. Uhren, Geld und Wertpapiere. Es gab nichts, was sie verschmäht hätte, denn sie hatte Zukunftsvisionen, für die sie Geld benötigte. Niemand schenkte den weinerlichen Geschichten der Alten Glauben, die in Angstzustände verfielen, wenn sie der Pflegerin ansichtig wurden und erstarrt verstummten, wenn sie ihnen begütigend über die fahlen Wangen strich, während ihre Augen ihnen den nahen Tod verhießen.

Sie achtete sorgfältig darauf, sich vor dem Verabreichen der Todesspritzen eine Unterschrift unter vorbereitete Dokumente geben zu lassen, die Vermächtnisse für sie aussetzten. Unglück­licherweise konnte sie davon nie Gebrauch machen, da die Erben eine listige Bande raffgieriger Erbschleicher waren, die unter dem Deckmantel familiärer Fürsorge Nachtschränkchen und Schubladen durchwühlten und jeden Ring und jede Brosche beim Namen riefen.

Mehrfach erregte sie den Argwohn spitzzüngiger Verwandter, die mit immer neuen Forderungen das Personal piesackten und sich mit der verschwörerischen Übergabe einer Packung Kaffees oder einer Schachtel Pralinen der besonderen Dienstfertigkeit einer Fachkraft versichern wollten.

Neulich habe die Großmutter noch eine größere Geldsumme in ihrem Nachttisch verwahrt, äußerte eine picklige Göre mit abgeknabberten Fingernägeln und einem penetrant brombeerfarbig geschminkten Mund. Sie riss die Augen auf und ließ die unausgesprochene Anschuldigung im Raum schweben. Wo denn wohl die Brosche abgeblieben sei, fragte zögernd ein wohlerzogener Mann, der älter wirkte als seine Mutter, die zu jedem seiner Besuche ihrer Fesseln entledigt und frisiert wurde. Seine Finger beschrieben einen Halbkreis und er erläuterte umständlich die Porzellanarbeit, die seiner Mutter so viel bedeutete. In Wirklichkeit bedeutete die Brosche dem Wrack aus gelblichen Hautfalten und porösen Knochen nichts, denn sie hatte sich in bunten Träumen verloren, in Welten, die nur Psychopharmaka auslösen konnten, in weit entfernten Welten, die ein Lächeln auf ausgetrocknete Lippen zauberten. Lange nachdem sich der Sohn mit einer liebevoll hilflosen Geste verabschiedet hatte, würde die alte Frau wieder fahrig und verwirrt in die Realität eintauchen, mit welken Händen um sich tasten und kleine Schreie ausstoßen, weil sie sich erinnerte. Dann wurde es Zeit für die Gurte und die erzieherischen Mittel, um sie in den Griff zu bekommen, denn die Abläufe durften unter keinen Umständen gestört werden.

Der Todesengel hatte die Pose der hoffnungslos Überlasteten perfektioniert und schenkte den Angehörigen, die Ihre Unsicherheit hinter einer Mischung aus Aggressivität und Hilflosigkeit verbargen, achselzuckende Sympathie. Sie entkrampfte deren schlechtes Gewissen mit beruhigenden Bemerkungen, die sie mit Anteil nehmender Schwermut und einer Portion Fachbegriffe würzte. Wie ein verständiger Dozent berührte sie verspannte Arme und drehte starre Rücken in die Richtung eines Zimmers, in denen Bewohner wie mumifizierte Puppen saßen und lagen, einige geschäftig murmelnd, andere mit abwesendem Blick. Sie verstand sich auf die Erläuterung der Krankheitsbilder, die das Alter mit sich brachte und warb für Verständnis, dass die flehentlichen Bitten der Alten, ihre Wahnvorstellungen und Erpressungsversuche Teil eines normalen Ablaufes waren, dem man mit Nachsicht und einer gnädigen Ignoranz begegnete.

Sämtliche Klagen über Misshandlungen und Vernachlässigungen seien widerlegbar. Dabei pflegte sie gewichtig auf das Pflegehandbuch zu klopfen, dessen Standards peinlich genau eingehalten würden. Allein die Wahrung der Würde der ihnen Anvertrauten sei entscheidend, weshalb man den Pfleglingen so viel Freiraum gewähre wie nur irgend möglich. Mit einem peinlich berührten Gesichtsausdruck räumte sie dann ein, dass diese Zugeständnisse auch zu Gefährdungen führen können. Friedliches Spiel könne zu kreischendem Zank ausarten. Manche Bewohner nutzten unbewachte Augenblicke, um sich in fremde Zimmer zu stehlen und Gegenstände zu entwenden. Bei einem alten Mann, der seinen Bewegungsdrang auf dem kahlen Stationsflur in langen Märschen auslebte, habe man eines Tages in einem getarnten Schrankwinkel einen Vorrat an Klistieren und Nierenbecken entdeckt, die schon lange als Totalverlust abgeschrieben worden waren.

Zumeist tauchten Wertgegenstände wieder auf, beruhigte sie die Aufgebrachten mit einem Augenzwinkern. Dennoch häuften sich Nerven zehrende Beschwerden, die sie unsicher werden ließen und ihren Spielraum einengten.

Sie wollte die Brosche bei einem Juwelier in einer Nachbarstadt schätzen lassen. Selbstbewusst hatte sie das Schmuckstück als Familienerbstück deklariert und war von dem Stirnrunzeln des glattgesichtigen Juweliers überrascht worden. Mit höflicher Skepsis stellte er Fragen nach der genauen Herkunft der seltenen Preziose, ignorierte mit einem wissenden Hüsteln ihre gestammelten Erklärungen und gab die Kostbarkeit der errötenden Frau ohne weitere Erläuterung zum Wert der Brosche zurück. Mit formvollendeter Geste komplimentierte er sie aus der Enge seines Geschäftes hinaus und gab der schlanken Gestalt den unerwünschten Rat mit auf den Weg, sich doch zuerst über die Eigentumsverhältnisse klar zu werden, bevor sie zu einem Verkauf schritte. Die albernen Glöckchen des Türsignals klingelten noch lange in ihren Ohren und sie musste sich zusammenreißen, um nicht fluchtartig davon zu stürzen.

Mithilfe einer abgewandelten Medikamentengabe vermochte sie es, die Halluzinationen der Heimbewohnerin, die weder ihren umständlichen Sohn noch die Brosche vermisste, zu verstärken und die lauernden Schatten aus den Zimmerecken und Gangkrümmungen zu beschwören, sich mit der weißhaarigen Alten zu befassen, die die Schattenrissdämonen auf sich zukriechen sah und ihre gefesselten Arme vergeblich zu ihrem Schutz nach oben schlagen wollte, bis ihr Herz stehen blieb.

Der Todesengel fand für jeden Patienten die eigene ihm angemessene Behandlung und mehrte mit Disziplin und Fleiß ihre Bargeldbestände und barg herrenlosen Schmuck in einem hübschen Kästchen.

Es waren nicht die Tode der alten Menschen gewesen, die die Untersuchungen auslösten, sondern eben dieses Kästchen und ihre Hände, die sie nicht mehr von ihrem Tun abhalten konnte, nachdem sie einmal von dem Plan erfahren hatten. Ihre Erinnerung an den Vorfall war erstaunlich verschwommen. Sie war nach Hause gekommen wie immer, war übel gelaunt und erschöpft die Treppe zu der Eigentumswohnung hinauf gegangen und hatte den Geruch nach fettigem Essen gegen den Gestank nach gealtertem, lebendem Fleisch eingetauscht. Sie hatte sich unter die Dusche gestellt und sich gewünscht, dass hinter der braunen Tür am Ende des Flurs der geräuschvoll schlafende Männerkörper verschwunden sein möge, der so viel Abscheu in ihr auslöste. Wie immer zögerte sie den Augenblick des Zusammentreffens hinaus und schrie auf, als ihr der Mann, der ihr fremd geworden war, anklagend das geöffnete Kästchen entgegen hielt. Sein irritierter Blick und die fordernde Haltung warteten auf eine Erklärung für den Fund. Er hatte das Geheimfach in dem von den Großeltern vererbten Sekretär entdeckt und bei einer seiner Schnüffelaktionen den Mechanismus ausgelöst, der ihm den Schatz in die Hände spülte. Er hatte Unterschlagung vermutet und Mord gefunden.

Alles an ihm wirkte anklagend: die geschürzten Lippen, die haselnussbraunen, um den Schlaf betrogenen Augen, die unattraktive Schlafanzugshose mit dem verwaschenen Streifenmuster und die Lederpantoffeln, die seine Schritte unhörbar gemacht hatten.

Sie hatte sich sorgfältig abgetrocknet und geschminkt. Mit einem hohen Geräusch im Kopf, das von Schläfe zu Schläfe reichte und ihre Empfindungen betäubte, war sie stumm durch die Wohnung gewandert, den Kästchenmann an ihrer Seite. Ihr Zeigefinger auf den Lippen verhinderte, dass er das Wort an sie richtete. Sie würde ihm ihr Geheimnis offenbaren, aber dazu bedurfte es einiger Vorbereitung. Wie eine Schlafwandlerin regelte sie die Beleuchtung und warf Licht und Schatten über die akkurate Anordnung fantasieloser Qualitätsmöbel. Alles war an seinem Platz. Alles, bis auf das Kästchen und den stumm geschalteten Mann.

Als sie im Schlafzimmer das Kästchen seinen Händen entwand und ihn sanft auf das Laken drückte, war sie sich nicht im Klaren, was sie als Nächstes tun würde. Früher, so erinnerte sie sich mit einem Schaudern, hatte seine dichte Körperbehaarung eine wohlige Faszination bei ihr ausgeübt. Geistesabwesend fuhr sie ihm mit spitzen Nägeln über die Brust. Er hatte die Augen geschlossen.

Sie nestelte an seiner Hose. Wahrscheinlich war es sein sonnengebräunter Optimismus, sein ungestümes Verlangen und seine Leichtigkeit gewesen, die sie in seinen Bann gezogen hatten. Aber unter der Oberfläche des Eroberers hatte sich der Mann mit den markanten Gesichtszügen als flach und ambitionslos erwiesen. Er war mit seinem Leben und der Frau an seiner Seite zufrieden, aß, arbeitete und sah fern, reihte Ignoranz an Bedürfnislosigkeit und ersäufte sie in einem Meer ehelicher Gleichförmigkeit, die nur von gelegentlichen Eifersuchtsszenen unterbrochen wurde. Ihm fehlte das Streben, der Ehrgeiz etwas Besonderes erreichen zu wollen, der Antrieb zu anderen Ufern aufzubrechen. Seine Zuneigung war zunehmend erstickend wie ein Schlinggewächs, das sich auf die Sinne legte und jede Wachheit erdrosselte. Sie nahm ihn hin wie eine Last, deren man sich nicht entledigen konnte, bis er das Kästchen auf sie richtete.

Mit dem Zeigefinger auf den Lippen war sie in den Abstellraum gehuscht und hatte gefunden, was sie suchte. Schon lange hatte sie sich ihm nicht mehr genähert. Er dünstete seine Dankbarkeit förmlich aus, als sie begann ihn zu kneten. Ihre sexuellen Erfahrungen erschöpften sich in den verschiedenen Spielarten des Koitus, die man voller Erwartung ausführt, ohne die erhoffte Belohnung zu erfahren. Der gebräunte Bauch zitterte unter ihrer Berührung. Er war ihr erster und einziger Mann gewesen und hatte sie gelehrt, dass der Geschlechtsverkehr ein weit überschätzter, gänzlich unzulänglicher, roher und schwächlicher Vorgang war, bei dem sich Körper ungelenk und stets am Rande von Muskelkrämpfen aneinander rieben und in lächerlichen Posen verharrten, um verbissen fortzufahren bis zu einem fadenscheinigen Erguss, der im schlimmsten Fall zur jahrzehntelangen Alimentierung eines undankbaren Balges führte.

Sie war bei seinem Schamhaar angelangt und knetete sein pralles Glied mit der Inbrunst, von der sie hoffte, dass sie ihn von dem durchdringenden Spiritusgeruch ablenken würde. Ihre Finger arbeiteten die Paste ein, die sie sich in die Handflächen gedrückt hatte. Er hielt den Atem an. Gleich würde er einen leisen, jammernden Ton der Befriedigung von sich geben, den sie schon zu Beginn ihrer Beziehung gehasst hatte. Es wurde Zeit. Sie führte seine Hände zu seinem Glied, wo sie sofort ihre Arbeit aufnahmen. Er hatte den Kopf zur Seite geworfen. Sein Körper war angespannt. Er schwitzte.

Das Sturmfeuerzeug setzte zuerst sein Schamhaar in Brand. Zuerst züngelte es dürftig, fraß sich dann rasend weiter und erfasste die Hautpartien und den Penis wie einen Flächenbrand. Entflammte Männerhände schwenkten die brennende Männlichkeit wie ein Opfertier. Die Frau hatte sich bis zur Wand des Zimmers zurückgezogen und wischte ihre Hände an ihrem Bademantel ab. Sie fühlte sich nicht verantwortlich für das Schauspiel.

Der Mann wälzte sich, schrie mit hervortretenden Adern, schrie mit sehnigem Hals, schrie mit überschnappender Stimme, schrie mit verbranntem Unterleib, auf den er mit einem Bettlaken fortwährend einschlug. Dann hörte er auf zu schreien. Glotzend wie ein Frosch kollabierte er und beschmutzte den rohweißen Hirtenteppich. Rosa Schaum quoll aus seinem Mund. Er hatte sich in dem vergeblichen Versuch, die Schmerzen zu kontrollieren, auf die Zunge gebissen.

Mit distanziertem Interesse sah sie auf ihn herab. Der Klang in ihrem Kopf war dumpfer geworden, nicht mehr so drängend. Sie hatte den ersten Schritt unternommen. Sie hoffte, dass er die Botschaft verstanden hatte. Es war ganz alleine ihr Kästchen und ihr Leben. An der Seite des Lakens machte sie eine feuchte Stelle aus. Sie zerrieb einen Überrest Sperma zwischen ihren Fingern. Irgendwie fand sie es beruhigend, dass er auf seine Kosten gekommen war.

Noch in der gleichen Nacht entsorgte sie das Kästchen samt Inhalt und schleppte den Winselnden zur Notaufnahme des Krankenhauses. Gleichmütig bekannte sie, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe. „Sicher ein Unfall“, pflichtete der Arzt bei, dem über die Jahre das Staunen abhandengekommen war und für den es ein beinahe alltägliches Erlebnis war, Duschköpfe aus einer Vagina oder Champagnerflaschen aus einem Männerafter zu entfernen. „Ohne Zweifel ein Unfall“, wand sich der Verletzte, dem noch zahlreiche Operationen bevorstanden und dessen Narben an der Seele erst zu verblassen begannen, als die zerstörten Schwellkörper durch ein funktionierendes Implantat ersetzt wurden. Das Kästchen ruhte in einem Abfallcontainer des Krankenhauses. Es war nie mehr aufgetaucht, aber seine Geschichte stahl sich in die Nacht hinaus.

Ein anonymer Hinweis erreichte die Polizei, die zögerlich ihre Ermittlungen aufnahm. Die Pflegerin musste geahnt haben, dass ihre Maßnahmen nicht ausreichend sein würden, um sich abzusichern. Seit dem Tag, an dem sie das Band der Ehe versengt hatte, wurde sie kummervoll und nachlässig. Sie sah zweifelnd auf ihre Hände, die Dinge vollbrachten, vor denen sie zurückschreckte. Sie meldete sich krank und verbrachte die Tage in einem Dämmerzustand. Die Wohnung wurde nicht mehr gelüftet und aufgeräumt. Zeitungen und Müll stapelten sich neben den Türen. Gebrauchte Kleidung fiel auf dem Boden übereinander her und Nahrungsmittel verdarben halb aufgegessen in der Küche.

Der Mann, dem sie das Schweigevermächtnis eingebrannt hatte, verbat sich jeglichen Besuch und setzte seine Mutter wie einen Zerberus vor sein Krankenzimmer. Offiziell blieb er bei der Unfallversion, aber er konnte schreiben und wahrscheinlich hatte er Gebrauch davon gemacht. So wartete sie auf das Unvermeidliche, kam mit strähnigen Haaren und glasigen Augen zum Dienst, während um sie herum das Getuschel zunahm und die Leitung des Pflegeheimes ihre Suspendierung verfügte. Die Festnahme erfolgte wenig später.

Man fand sie über ein halb aufgetautes Kaninchen gebeugt vor, in das sie ihre Zähne schlug. Sie hatte mit einem Kaffeelöffel Honig darüber verteilt und Estragon darauf gestreut. Sie schätzte die moderne Gourmetküche und war nur momentan nicht in der Verfassung, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Um sie herum faulte der Müll. Die Polizisten forderten Atemmasken an. Sie senkte den Kopf, als man ihr Handschellen anlegte. Dann übernahmen die Kameras und die Blitzlichter.

Der Todesengel galt als Prototyp der massiv Gestörten. Die Dokumentation transportierte den Gedanken erfolgreich nach draußen und eine Entlassung auf Bewährung war bei entsprechender geistiger Gesundung durchaus denkbar. Sie war in aller Stille geschieden worden, nachdem sie eingewilligt hatte, dass ihr Mann den gesamten Erlös aus dem Verkauf der Eigentumswohnung für sich vereinnahmen konnte. Sie würde wieder auf die Beine kommen. Geduld war eine ihrer Stärken.

Die Inhaftierte drehte den Brief zwischen den Fingern. Sie hatte ein gutes Gefühl. Sie würde dem Mann schreiben. Er war der Richtige für sie. Sie freute sich über ihre gesunde Erregung.

Der Mann hatte auch eine pflegebedürftige Mutter. Sie wusste besser als jeder andere, was es bedeutete, eine Demenzkranke zuhause zu pflegen. Sie schnippte mit den Fingern. Wenn alles gut verlief, würde sie ihm bei der Betreuung seiner Mutter eine große Hilfe sein. Sie wusste, er würde sich darüber freuen.

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