Читать книгу Visitors - Die Besucher - Achim Albrecht - Страница 7
IV.
ОглавлениеDie Kommune hatte den Hügel am nördlichsten Kamm der Stadt schon lange aufgegeben. Er rückte in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn die sommerliche Nachrichtenflaute die Pöbeleien zwischen Aussiedlern und Asylbewerbern und dem Drogenhandel jugendlicher Banden berichtenswert erscheinen ließ. Zu allen übrigen Zeiten dämmerten die ehemaligen Kasernen wie abgetakelte Relikte einer wehrhaften Vergangenheit auf den kahl geschorenen Flächen dahin. Aus ihren ockerfarbenen Flanken wuchsen Wälder von Satellitenschüsseln, die die Balkone zu futuristischen Installationen verfremdeten. Die in verwirrenden Mustern gespannten Wäscheleinen, die selbst bei winterlichen Temperaturen und in strömendem Regen mit Bettwäsche und Kinderkleidung reich bestückt waren, milderten die Trostlosigkeit des Anblicks nur vorübergehend.
Was fehlte, waren die Menschen. Die Bewohner verschanzten sich hinter ihren privaten Träumen, an denen sie mit Hilfe von Alkohol und Drogen verzweifelt festhielten. Sie öffneten ihre Türen und Fenster nicht mehr und holten sich die Welt nur noch über ihre Fernseher in die Wohnung. Nur die Jugendlichen zeigten sich mit harten Gesichtern und martialischem Gehabe auf den trostlosen betonierten Flächen. Sie zündeten Holz in Metalltonnen an und warfen den Vorbeigehenden finstere Blicke zu. Es gab nichts mehr, was sie zerstören konnten. Die Bushaltestelle war ein Haufen verbogenen Gestänges und an den umgestürzten Spielgeräten des Kinderspielplatzes hatten sie schon lange das Interesse verloren. Für kurze Zeit hatten sie sich in der Stadt zusammengerottet, aber die Stadt hatte sie mit harschen Methoden auf ihren Hügel zurückgetrieben, wo man sie gewähren ließ. Besuch erhielten sie nur von einem Abgesandten einer rechtsextremen Gruppierung, der T-Shirts mit eindeutigen Aufdrucken verteilte.
Der Mann hatte sich auf eine der Bänke gesetzt. Ein Teil der Sitzfläche war herausgerissen und der traurige Rest mit silbrigem Graffiti verunstaltet worden. Der Mann hatte die verbliebenen Bohlen sorgfältig mit einem Taschentuch abgewischt, bevor er sich setzte. Er hielt eine Einkaufstüte in seinen Händen, die er zwischen seinen Beinen pendeln ließ. Er war gerade so weit von den Jugendlichen entfernt, dass sie ihn nicht als Provokation empfanden. Sein Blick war gesenkt. Unter der blauen Baseballkappe heraus beobachtete er den rechten Bau der kleinen Siedlung, der aus dem Areal hervorstieß wie ein steinerner Rammbock. Er hatte die aufmerksamen Jugendlichen und die körperlosen Augen hinter den Fenstern allmählich an seine Anwesenheit gewöhnt. Dabei hatte er mehr Zeit investiert, als er ursprünglich veranschlagt hatte. Er zuckte mit den Achseln und griff in die Tüte. Langsam holte er eine Flasche heraus und trank.
Seinen Wagen hatte er auf einem Forstweg am Fuß des Hügels abgestellt. Die Waldpfade waren ungepflegt und selten begangen. Farne griffen beherzt nach seinen Hosenbeinen und die stachligen Ranken von Brombeersträuchern wippten unschuldig vor seinem geröteten Gesicht. Er hasste diese Aufstiege, aber seine Intuition sagte ihm, dass diese Form der Annäherung empfehlenswerter war als die Fahrt mit dem Bus, der seine Ladung, so schnell er konnte, in der Siedlung absetzte und ratternd das Weite suchte.
Früher war hinter dem verlassenen Spielplatz ein Kiosk gewesen. Er hatte seinen Betrieb wohl schon vor einiger Zeit eingestellt. Eine hellblaue Jalousie hing schief an dem Schaufenster herunter. Aus Neugierde hatte er sich nachts den ehemaligen Kiosk mit der verblassten Reklametafel genauer angesehen und bemerkt, dass hinter dem Fenster Menschen wohnten. Bläuliches Geflimmer und das Gemurmel von Stimmen drangen nach draußen. Wer immer den Kiosk aus seinem Wohnzimmer heraus betrieben hatte, tat dies nicht mehr. Die Bewohner verzichteten auch auf Tageslicht, denn der Rollladen bewegte sich nie. Er zeigte der Welt sein schiefes Grinsen und beschränkte sich auf seine neue Rolle als der Hüter von Geheimnissen.
Der Besucher konnte sich gut vorstellen, wie der Kiosk floriert haben mochte, wie Kinderlachen über die Vorhöfe schallte und die ganzen unerlässlichen süßen, salzigen und fettigen Kleinigkeiten den Besitzer wechselten. Später mochte im Sortiment der Schwerpunkt auf Bier, Spirituosen und Zigaretten gelegt worden sein und sich Männer in Unterhemden und Sandalen rauchend und räsonierend vor dem Fenster versammelt haben. Mit schwergewichtigen Gesten und erhobener Stimme hatte man sich der Weltprobleme angenommen und sie in der Vielfalt angetrunkener Meinungen gelöst, denn Alkohol machte rechthaberisch.
Der Besucher verstaute die Flasche vorsichtig in der Tüte und rückte die Kappe zurecht. Damals hätte er sich mit Leichtigkeit in die Phalanx aus Weltverbesserern und Melancholikern, Maulhelden und Schlägern einreihen können. Er hätte weit weniger Vorsicht walten lassen müssen als in der exponierten Lage, in der er sich gegenwärtig befand.
Es war später Nachmittag. Er zog ein abgenutztes Notizbuch aus einer Innentasche des Blousons und machte sich Notizen. Es war wichtig, dass er jeden seiner Schritte dokumentierte. Von der Qualität der Dokumentation hing die spätere Bewertung ab.
Er schaute auf die Uhr. Der Bus würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Nervös befeuchtete er die Lippen. Die Rap-Musik der Jugendlichen war lauter geworden. Die aggressive Sprachmelodie und die Bässe mischten sich zu einem Klangbrei. Der Besucher stand mühsam auf und stützte sich schwankend auf seinen Knien ab. Er durfte nicht durch unbedachte Aktionen aus seiner Rolle fallen, bevor er nicht näher an die jungen Männer herangekommen war. Mit der linken Hand griff er nach dem Werkzeug in seiner Jackentasche, das er gleich brauchen würde. Geistesabwesend streichelte er über den geriffelten Griff. Das vertraute Gefühl an seinen Fingerspitzen beruhigte ihn. Zwei der großspurigen Jungen hatten sich aus dem Kreis um den Gettoblaster gelöst und schauten ihm entgegen. Es waren die bekannten schmalen Pickelgesichter mit den langen Hälsen, um die sie Goldketten gehängt hatten.
Er bemühte sich, das Butterflymesser zu ignorieren, das der schlaksige Junge mit kunstvollen Bewegungen immer neue Figuren ausführen ließ, bevor es die nackte Klinge zeigte. Er ignorierte auch die schnoddrige Bemerkung in dem eigenartigen Jargon, der offensichtlich aus einem Jungen einen Mann machen sollte. Breitbeinig stand der Junge vor ihm. An den Fingern trug er protzige Ringe. Mit abgewandtem Gesicht kam der Mann zum Stehen und setzte klirrend seine Plastiktasche ab. Er sah kurz nach oben und betrachtete den schnell dahin ziehenden Wolkenschaum.
„Tannenzapfenechsen haben es im Unterschied zu uns außerordentlich schwer“, sagte er mit halblauter Stimme an dem Kopf des Jungen vorbei. „Sie gebären Nachwuchs, der ein Drittel ihres Körpergewichtes ausmacht und in der letzten Phase der Tragezeit das Atmen, Fressen und Laufen nahezu unmöglich macht.“
Der Jugendliche hatte das Messer sinken lassen und die Zuversicht war aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkte verwirrt.
Ansatzlos packte der Mann die Messerhand und bog sie mit einer schnellen Drehung im Gelenk. Mit einem überraschten Schrei ließ der Jugendliche das Messer fallen. Noch immer war die Stimme des Mannes sanft und unangestrengt. Er führte ein unscheinbares Instrument mit raschen Strichen über den Unterarm des Jungen. Blut quoll aus den Schnitten und bildete ein geometrisches Muster, bevor es an der Innenfläche des Unterarms herunterrann und in die Handfläche floss. Der Junge starrte mit vor Schreck geweiteten Augen auf seinen Arm. Er wurde bleich und seine Augenlider flackerten. Der Mann stützte ihn mit einfühlsamer Vorsorge. Mit prüfendem Blick schaute er auf die blutigen Linien, die er mit dem Teppichmesser gezeichnet hatte. Er konnte keinen Makel erkennen. Ein weißer Schmetterling taumelte vorbei. Das war ein gutes Zeichen. Er war zufrieden.
„Die Belohnung für die Qual der Echse ist es, dass sie sich um die Jungen nicht mehr kümmern muss. Sie sind voll lebensfähig und für sich alleine verantwortlich.“ Nach einer kurzen Pause fügte er an den nach Fassung ringenden Jungen gerichtet hinzu: „Hast du das verstanden?“ Der Junge nickte schwach. Der Mann wusste, dass er nicht verstanden worden war, aber es musste genügen. „Verschwindet von hier“, sagte er und beugte sich nach seiner Tasche. Mit einem Ächzen fischte er nach dem Butterflymesser und überreichte es dem Blutenden mit einer formvollendeten Verbeugung. Der Junge schrak vor der Bewegung zurück und schaute mit wilden Augen auf das Messer. Er hielt sich den Arm. Von der Hand lösten sich Blutstropfen und sprenkelten die vernachlässigte Grasnarbe.
„Wenn ich wiederkomme, muss ich dir wehtun.“ Der Mann schickte seinen Lieblingssatz hinter dem Davonstolpernden her. Er entfernte sich rasch, ohne sich um die Gruppe Jugendlicher zu scheren, die den Verletzten verschluckt hatte. Sie würden sich zerstreuen, denn er hatte sich mit seiner unbegreiflichen Aktion außerhalb ihres Begriffsradius begeben und bedrohte ihre Welt aus Männlichkeitsritualen und kalkulierbaren Abläufen. Er war ein Perverser, den man mit verächtlichen Ausdrücken belegte, um das eigene Selbstwertgefühl zu päppeln und dann zufriedenließ.
Die Haltung des Mannes hatte sich merklich gestrafft. Er strich mit weit ausholenden Schritten an einer dicht ineinander verwachsenen Gruppe Sträucher vorbei, die ohne den Beistand eines Gärtners konturlos wucherten. Sie trugen gelbe Dolden und lappiges Blattwerk. Insekten tanzten in aufgeregten Wolken. Der betäubend schwere Blütenduft war ebenso undefinierbar wie die Gattung der Pflanzen. Ein festgetretener Trampelpfad führte wie eine braune Wunde über die Böschung zu dem nächsten Wohnblock. Bröckelnder Hundekot und zerfetzter Müll häuften sich an den Stellen, wo verbrannte Flächen die bevorzugten Grillplätze der Bewohner kennzeichneten. Ohne innezuhalten, kickte der Mann gegen eine grüne Plastikflasche. Er war sich sicher, dass neugierige Augen ihn verfolgten und widerstand dem Impuls sich umzuschauen. Die Balkone hatten Augen und die Augen hatten Langeweile. Er packte die Tüte fester und überschritt den Kamm der Böschung.
Zwei feiste Frauen in langen Mänteln verließen einen der Blocks. Sie hatten bunt gemusterte Kopftücher straff um ihre Haare gebunden. Ihre braunen Gesichter waren mondförmig und lebhaft. Ihre kugeligen Leiber zeichneten sich mit praller Fülle unter den Stoffmänteln ab. Es war unmöglich, das Alter der Frauen zu schätzen. Auch sie trugen Tüten, die ihre Arme merklich nach unten zogen. Eine der Frauen trug zusätzlich einen Kanister mit Speiseöl, der schwer gegen ihre Beine schlug. Der mühsam watschelnde Gang hatte etwas Ansteckendes, sodass auch der Besucher seinen Schritt zügelte und bei dem Anblick der Frauen eine gewisse Kurzatmigkeit zu spüren glaubte.
Als sie ihn entdeckten, brach das hell zwitschernde Gespräch der Frauen ab. Er nickte in ihre Richtung und ging mit gesenktem Kopf weiter. Das Geräusch des Busses wehte den Hügel hinauf und brach sich zwischen den Häusern. Es war ein Lärm, der störend wirkte. Hinter einem der Fenster plärrte ein Radio los, als ob es durch den Bus aufgeweckt worden sei. Die Frauen beschleunigten ihre Schritte zu einem wogenden und prustenden Walzen. Sie wollten den Bus erreichen, der sie in die Stadt bringen sollte.
Der Besucher wusste genau, was zu tun war. Er steuerte auf einen Haufen Bauschutt zu, der mit beständiger Regelmäßigkeit um zerborstene Plastikeimer, gierig greinende Toilettenschüsseln und ausgediente Geschirrleichen bereichert wurde. Hartnäckige Quecken und Löwenzahn begannen bereits, den Müll zu überwuchern und zarte Florfliegen wiegten sich über keck aufragendem Rittersporn. Der Mann bog nach links ab. Ein Hund bellte mit überschnappender Stimme und warf sich krachend gegen die Plastikumrandung des Balkons. Der Besucher lächelte. Er tastete nach der Schnauze des Hundes, die sich seiner Hand entgegen schob. Eine schwere Kette rasselte und spannte sich. Die Hundeschnauze schnüffelte und erkannte mit einem zufriedenen Winseln die Hand. Es war die Hand eines Freundes. Er beleckte sie. Sein Besitzer würde ihn am Abend losketten und ihn auf der Wiese laufen lassen, wenn es ein guter Tag war. Vielleicht würde er ihn aber auch beschimpfen und treten, wenn es ein normaler Tag war. Das Jahr hatte für alle Bewohner der Siedlung mehr normale als gute Tage.
Der Besucher glitt an der rissigen Fassade des Wohnblocks vorbei. Kinderstimmen hallten über die Fläche. Ein betrunkener Mann blökte heiser von einem Balkon. Die kleine Prozession der Busfahrer näherte sich den Behausungen. Nach wenigen Schritten sah er sie in einiger Entfernung auf die Bauten zugehen. Die meisten von ihnen waren Frauen, die sich mit Tragetüten plagten und Kinder, die die Ruhe störten. Der Bärtige schlurfte als einer der Letzten über den Asphalt. Er folgte dem mageren Hund, der ungeduldig an der Leine zog. Sein Gang hatte sich verändert. Er schien weiter geschrumpft zu sein. Was er an Länge eingebüßt hatte, machte er mit einer ballerinahaften Gestik wett. Seine Arme beschrieben unvollendete konzentrische Kreise und rissen den Hund aus seinem Vorwärtsdrang. Das Tier quittierte die unangemessene Behandlung mit dem Gleichmut der Gewohnheit.
Der Besucher setzte den Feldstecher an. Der Mund des Trinkers bewegte sich unablässig und die scharfen Schatten von Mann und Hund mühten sich, die Pantomime in der schräg stehenden Sonne nachzuvollziehen. Wiederholt sackte der Bärtige in die Knie, ohne sein Gespräch zu unterbrechen. Er hielt die Tüte mit den Flaschen wie einen Schatz unsicher in die Höhe und starrte ungläubig auf die Hand, mit der er sich abfing. Der Besucher seufzte. Alles war, wie er es erwartet hatte. Er suchte die Flächen zwischen den Häusern nach herumlungernden Jugendlichen ab. Sie waren verschwunden.
Obwohl er die Augen des Trinkers nicht deutlich erkennen konnte, war er sich doch sicher, dass dieser ein ordentliches Quantum Alkohol zu sich genommen hatte. Der Besucher hatte ihm den Weg freigemacht, sodass es nicht zu einer dieser unschönen Begegnungen mit den Jugendlichen kommen würde, wie er sie vor einigen Tagen beobachtet hatte. Mit aufreizender Lässigkeit hatten sie den Alkoholisierten eingekreist, den wütend kläffenden Hund mit Fußtritten verscheucht und ihren Tribut gefordert. Der Trinker hatte stieren Blickes eine Tüte Süßigkeiten aus seiner Manteltasche gefingert und sie übergeben. Die Tüte war unter Hohnlachen von Hand zu Hand gewandert und unter Stiefeln zertreten worden. Dann hatte man dem hilflos Heulenden die Flaschen aus der Hand gewunden. Wankend hatte sich der Angetrunkene auf scharfen Befehl mit ungelenken Bewegungen ausgezogen, den Blick auf die Flaschen geheftet, deren wertvoller Inhalt sich aufreizend langsam auf den Boden ergoss. Schmalbrüstig und weißhäutig war er vor den Jungen auf und ab gegangen, so gut er es vermochte. Er hatte gegackert und auf Kommando uriniert, was ihm spöttischen Beifall einbrachte. Schließlich waren sie ihres Spielzeugs überdrüssig geworden und hatten ihm die Flaschen zugeworfen. Brabbelnd und schwankend hatte er mit heruntergelassener Hose die Flaschen untersucht und an sich gedrückt wie lange vermisste Kinder.
Der Besucher zog sich von seiner Position zurück und schlüpfte in den Hauseingang, dessen einladend offen stehende Tür kein Zeichen besonderer Gastfreundschaft, sondern ein Signal gleichgültiger Vernachlässigung war. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass jedes Haus einen anderen Geruch besaß. Gleich war allen Bauten der Übelkeit erregende Gestank nach Urin, der in den Ecken eintrocknete und sich an die Schuhsohlen klebte, wenn man nicht stur geradeaus ging. Der Besucher ging die drei Stockwerke nach oben, ohne nach rechts oder links zu sehen. Er kannte die vertrockneten Topfpflanzen und den verstaubten Puppenwagen und er war nicht mehr neugierig, wem die wechselnden Männerschuhe vor der Tür der Frau gehörten, die eine farbenfrohe Auswahl offenherziger Nachthemden ihr Eigen nannte. In einem der Obergeschosse hallten streitende Stimmen in das Treppenhaus. Eine Tür wurde aufgerissen und ins Schloss geworfen. Dann war Ruhe. Der Besucher beeilte sich. Er konnte den Vorsprung gut nutzen.
Die unattraktive braune Wohnungstür begrüßte ihn wie einen guten Freund. Sie würde der Plastikscheibe in seiner Hand keinen ungebührlichen Widerstand entgegensetzen. Das hatte sie auch vorher nie getan. Mit einem leisen Klicken schob er die Tür nach innen. Er hatte sich Handschuhe übergestreift und wappnete sich gegen die beißende Geruchsattacke, die im Flur auf ihn wartete.
Der muffige Kohlgestank des Treppenhauses befehdete sich für einen kurzen Schritt mit der Geruchswelt im Inneren der Wohnung und kollabierte bedingungslos vor dem Ansturm einer schimmeligen Fäulnis, die von einer Lage künstlichen Fichtennadeldufts überlagert wurde. Der Besucher hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, das er mit einer Pfefferminzlösung tränkte. Er war schon zweimal in der Wohnung gewesen und die intensive Minzausdünstung hatte die schlimmsten Übelkeitsanfälle verhindert. Mit einem Fuß schob er die Reklameblätter und ungeöffneten Briefe vieler Tage zurück zur Tür, wo sie einen losen Haufen bildeten, der bald mächtig genug sein dürfte, um ein Öffnen der Tür völlig unmöglich zu machen.
Der schmale, dunkle Flur war kärglich möbliert. Die wacklige Kommode, deren verstopfte Schubladen eine erstaunliche Ansammlung von Krimskrams bis hin zu vergilbten Tüten voller Kressesaat enthielten, trug den gleichen griesgrämigen Ausdruck zur Schau wie immer. Unter den Haken der schmiedeeisernen Garderobe hatten sich Flaschenbatterien versammelt, die ein gelbliches Schaffell fast verdrängten. Der Alkoholgeruch, der aus den Flaschenhälsen entwich, mischte sich mit dem hartnäckigen Aroma von nassem Hund. Der Besucher wandte sich ab. Die Rezeptionszone seiner Nase war der sensorischen Invasion schlechter Gerüche bereits mit der bekannten Abstumpfungsreaktion begegnet. Nach dem Passieren der Badezimmertür würde es erträglicher werden. Er hatte nicht vor, die Nasszelle mit ihren verschimmelten Gummierungen erneut zu betreten.
Der Wohnbereich des winzigen Appartements wirkte trist und unwirklich. Die klapprige Küchenzeile führte einen verzweifelten Abwehrkampf gegen noch mehr Flaschen und einige Stapel Wäsche in verschiedenen Verschmutzungsgraden. Ein Tisch auf rachitischen Zahnstocherbeinen und einer Gefolgschaft sperriger Stühle spreizte sich neben einem Schränklein, das mit seinem unschuldigen Buchengesicht mehr als unpraktisch wirkte. Die Schlafcouch war ein Monstrum an gequollenen Kissen und Lehnen, aufgetrieben von altmodischen Sprungfedern und aus voller Seele ächzend, wenn jemand es wagte, sich auf ihr niederzulassen. Sie nahm die gesamte Fensterfront ein und lehnte ihren fleischigen Rücken gegen die Fensterbank. Ein dichter Kattunvorhang in einem einstmals mutigen Design aus braunen und orangen Würfeln schlug dichte Falten und wies das Sonnenlicht zurück. Auf der Fensterbank ruhte ein Stapel Bücher und etwas Geschirr, das den Weg nicht zu der Küchenzeile zurückgefunden hatte. Der Besucher war sicher, dass sich die Titel und Sortierung der Bücher seit seiner letzten Anwesenheit nicht verändert hatten.
Die ingenieurwissenschaftlichen Werke waren Schatten der Vergangenheit, ebenso wie das mit Filzstift durchkreuzte Bild einer jungen Frau, die mit gespannter Miene in die Kamera blinzelte. Sie war gegangen, eine junge Frau mit Sommersprossen und Pagenkopf und jetzt war sie durchkreuzt, weil der Bärtige ihr im Rausch nichts weiter antun konnte als ihre Präsenz mit fahrigen schwarzen Strichen auszutilgen. Das Bild hatte der Besucher in einem der Bücher gefunden und es still zurückgelegt. Es war unerträglich stickig in dem Raum, der weniger heruntergekommen war, als man befürchten musste. Selbst die abgetretene Teppichware war den Umständen entsprechend reinlich. Der Besucher öffnet die Balkontür. Der Hebel quietschte unerträglich. Vorsorglich hatte der Besucher ein kleines Fläschchen Kriechöl eingesteckt. Auch bei einem Betrunkenen konnte er sich ein solches Geräusch nicht leisten. Er tröpfelte das Öl in das Scharnier und drückte den Hebel mehrfach nach unten, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war.
Geduckt trat er auf den Balkon hinaus. Es war ein rohes Betonrechteck mit einem verschrammten Eisengitter, an dem Wellblechmatten als Sichtschutz verdrahtet waren. Ein dichter Kiefernwald rann in der Ferne zur Stadt hinab. Die Brise war beinahe unerträglich frisch und spülte die Klumpen abgestandener Luft mit jedem Atemzug aus den Lungen. Der Besucher wählte aus einem Sortiment Bonbons sorgfältig den passenden Geschmack und begann gedankenverloren zu lutschen. Von hier aus konnte er die Annäherung des Bärtigen nicht verfolgen. Er war zur Untätigkeit verdammt. Damit hatte er noch nie richtig umgehen können.
Über ihm wurde die Balkontür mit einem vernehmlichen Knarren geöffnet. Schwere Schritte gingen zur Balkonbrüstung, dann rann Wasser in dünnen Fäden herab und tropfte auf die moosigen Verfärbungen des Betons. Der Rauch einer Zigarette wurde von einer plötzlichen Böe nach unten gedrückt und kitzelte die Nase des Wartenden. Der Besucher hatte sich unter das Fenster gehockt und die Beine angewinkelt. Er umfasste seine Knie mit gefalteten Händen. Vor ihm thronte auf dem schäbigen Campingstuhl sein wichtigstes Beweismittel. Zur Besänftigung der stetig nagenden Nervosität und als Ausdruck der Vorfreude hatte er die Klarsichthülle mit den Zipp Lock Verschluss bereits zurechtgelegt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Bonbon schmeckte wohltuend nach Salbei und Honig.
Um nicht gegen die Spielregeln zu verstoßen, hatte er sich auf seine Hände gesetzt, die langsam abstarben. Er durfte das Usambaraveilchen nicht berühren, bevor die Aufgabe begonnen hatte. Sicher gab es Wettbewerber, die mit den Aufnahmen und Schnappschüssen schon begannen, bevor das Kräftemessen angefangen hatte. Sie stellten ihre Dokumentationen mit aufgeblasenem Stolz vor und meinten, dass ihre Manipulationen unentdeckt blieben. Ihre Performance ähnelte reibungslosen Choreografien, in die man mit künstlichen Effekten Spannung hineinlegen musste. Die wirklichen Könner bedachten diese glatten Versuche mit mitleidiger Herablassung. Sie wussten, dass man wahre Meisterschaft nicht mit unlauteren Mitteln erreichen konnte. Gestohlene Triumphe waren schal und unmaßgeblich.
Er sah auf die Uhr und veränderte seine Sitzposition. Der Blouson raschelte. Er hielt den Atem an und biss sich auf die Lippen. Man konnte nicht sagen, dass er es sich leicht gemacht hatte. Als er das Foto der Beute in seinem Mail Account fand, war er skeptisch gewesen. Die angegebenen fünf Kilometer im Umkreis um den in seiner Eingabe definierten Ausgangsort schienen ihn in einen aussichtslosen Suchmarathon zu katapultieren, der ihn in konzentrischen Kreisen von Irrtum zu Irrtum führen würde, bevor er in der blamablen Frustration einer offiziellen Aufgabe endete. Doch es war anders gekommen. Es war ihm gelungen, das Subjekt korrekt zu kategorisieren. Er hatte von Anfang an auf die richtigen Plätze gesetzt und die Reihenhaussiedlung, den Gewerbebereich und die Sportanlagen ausgenommen, sodass sich das Gebiet dramatisch verkleinerte. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die verstreut dahin vegetierenden Parkbänke, die Kioske und Supermärkte und den Penner-Treffpunkt in der Unterführung.
Man konnte den Initiatoren vorwerfen, dass sie nicht redlich mit ihm umgegangen waren, denn das Gesicht des Gesuchten auf dem Foto war noch ein gutes Stück von dem Stadium des Verfalls entfernt, das sich jetzt auf ihm abzeichnete. Andererseits hatte er sich um eine Höchstbewertung von 8 – 9 beworben und musste mit hohen Hürden rechnen. Letztlich hatten sich seine Analysetechnik und seine Menschenkenntnis ausgezahlt. Es waren die toten Augen und die aufgeschwemmten Wangen über dem struppigen Bart gewesen, die ihn auf die richtige Fährte setzten.
Besonders stolz war er auf die Strategie, die er sich für den Erschwernisfaktor ‚Hund‘ hatte einfallen lassen. Als er die beiden auf der Parkbank neben dem Kreditinstitut entdeckte, war ihm sofort klar gewesen, wie er den Hund ausschalten konnte. Das Tier war offensichtlich ein harmloser Krawallmacher, ein Angstkläffer mit einem hohen Störpotenzial, das jede unbemerkte Annäherung zunichtemachen würde. Nur einmal hatte er nach dem Teppichmesser getastet und in Betracht gezogen, den Hund mit einem gezielten Schnitt mundtot zu machen. Stattdessen hatte er sich in einem Spezialmarkt mit einer Auswahl an Trockennahrung, Snacks und Leckereien bewaffnet und das Tier vor dem Supermarkt angefüttert, wenn es vor Erregung zitternd an der Leine zog und schwanzwedelnd seinen Besitzer herbeisehnte.
Es waren unscheinbare Malzdrops, die die Wende zum Guten brachten und aus einem bellenden Köter einen zutraulichen Schoßhund machten, der sein Vertrauen an den verschenkte, der mit den Drops daherkam. So geschah es, dass die beiden eine heimliche Symbiose bildeten, die sich in einem verstohlenen Fütterungsritual und einem hechelnden Stillhalten erschöpfte, bevor man sich wieder trennte. Der Besucher hatte damit begonnen, seine Kleidung und das Liegefell des Hundes in der Wohnung mit den Malzdrops einzureiben. Der Geruch wirkte unmittelbar befriedend und besänftigte den Argwohn des Tieres.
Alles würde davon abhängen, ob der akribisch zu Recht gelegte Fahrplan funktionierte. Das Eindringen bei Tage brachte wichtige Bewertungspunkte, die relative Ausgesetztheit seiner Position einen Abwägungsbonus und die Eleganz der Ausführung eine Aufwertung. Er holte tief Luft und lauschte. Als er das gedämpfte Hundegekläff hörte, fröstelte es ihn. Er zog den Blouson enger um den Oberkörper und richtete die Augen nach oben. Die Dämmerung würde noch auf sich warten lassen. Er hatte keinen anderen Verbündeten als seine Zuversicht.
Die Eingangstür flog mit brachialer Gewalt auf. Das Winseln des Hundes und das Klirren von Flaschen übertönten einen dumpfen Fall. Unverständliche Worte, guttural und abgeschliffen wie Kieselsteine quollen in das Zimmer. Wieder ein Rutschen, dann ein zorniges Murmeln. Aus der unteren Etage eine keifende Frauenstimme, die eine Serie jugendgefährdender Flüche nach oben schleuderte. Das eifrige Scharren von Krallen. Ein anschwellendes Jaulen. Ein Zustoßen der Tür in mühsamen Etappen. Die Balkontür klapperte. Nur ein Teppichwulst hinderte sie am Aufspringen. Eine Hand näherte sich sachte und krallte ihre Finger in den unteren Rahmen. Wenn jemand die Tür verriegelte oder den Balkon betrat, war es aus.
Das Adrenalin verdrängte die Vernunft aus den Gedanken des Besuchers. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Seine Hände fühlten sich eiskalt an. Er atmete mühsam. Der Hund an der Balkontür. Seine sich aufbäumende Silhouette hinter den fleischigen Blättern und dem tiefen Blau des Usambaraveilchens. Ein kurzes Jaulen, aber kein Bellen. Ein Schnüffeln, intensiver jetzt. Erneut ein Jaulen, voller Verlangen. Kein fletschendes Knurren, als die Hand die Malzdrops durch den Schlitz schob, den die Balkontür ließ. Eifriges Schwanzwedeln, das die Scheibe malträtierte. Ein kurzes Abwarten, dann ein zufriedenes Abwenden. Es waren immer genau fünf Drops gewesen. Fünf waren es auch heute.
Das taumelnde Vorrücken eines Körpers. Ein schwerer Fall, ohne das Sofa zu erreichen. Das Geschepper der Flaschen. Ein mühseliges Aufschrauben eines Verschlusses. Knirschgeräusche. Ein unflätiges Rülpsen. Gestank, der sich durch die Ritzen den Weg auf den Balkon bahnte. Geschäftiges Brabbeln. Das Quietschen von Möbeln. Trappelnde Pfoten. Dann Stille.
Eine Krähe ließ sich lässig auf dem Geländer nieder. Ihre flinken, ölig schwarzen Augen huschten über den kauernden Mann. Sie schlug mit den Flügeln und krächzte heiser.
Als der Vorhang unvermittelt zur Seite gerissen wurde, fuhr der Sitzende mit einem Ruck hoch und stieß sich den Kopf an der überstehenden Fensterbank. Benommen stöhnend sank er zurück. Das Wellblech schepperte. Der Hund begann mit überschnappendem Eifer zu bellen. Das Gesicht im Fenster war stark gerötet, die Augen stier auf den Vogel gerichtet. Speichelfäden verklebten sich mit dem Bart. Eine geballte Faust hämmerte gegen das Fenster und wurde drohend geschüttelt. Der Vogel wandte sich gelangweilt ab, als erlebte er dieses Schauspiel nicht zum ersten Mal. Aufreizend wippend wanderte er zur anderen Balkonecke und hob ab.
Der Besucher drückt sein Gesicht an den rauen Beton und zieht den Blouson über sein Gesicht. Der Bärtige lässt die Faust sinken und betrachtet sie verständnislos. Die Gardine hat sich aus der Schiene gelöst und hängt schräg herunter. Ein trunkenes Grinsen zieht den Mund des Bärtigen auseinander. Seine Empfindungen sind betäubt. Er bleibt eine Weile hocken und balanciert den schwankenden Oberkörper aus. Das Veilchen winkt ihm zu. Er weiß, dass er es gießen muss. Er wird es morgen tun. Bestimmt wird er es morgen tun, wenn er nicht mehr so müde ist. Er führt einen Zeigefinger in Richtung seines Mundes und spitzt die tauben Lippen an. Der Oberkörper sackt nach hinten. Bald wird es dunkel werden. Der Hund bellt in weiter Entfernung. Bald wird auch er sich beruhigen. Alles in allem war es ein guter Tag. Jeder Tag mit der Flasche war ein guter Tag.
Ersticktes Schnarchen bohrt sich in die Nacht, als die Gestalt auf dem Balkon sich regt. Vereinzelt flimmern Fernseher hinter den Gardinen. Die Jugendlichen sind zurückgekommen. Der Beat des Gettoblasters wummert blechern. Ein Lichtfunke glimmt in den Händen des Besuchers auf. Sein Kopf schmerzt, aber seine Gedanken sind klar. Er führt ein abgetrenntes Stück eines blauen Mantels an seine Lippen wie ein gutes Omen. Es würde ihm Glück bringen.
Seine Hand tastet nach der Hundeschnauze, die jede Regung verfolgt. Er hat alles bereitgelegt. Selbst die kleinsten Geräusche explodieren in die Weite hinaus. Der Besucher konzentriert sich auf die winzige Handkamera. Der Lichtstrahl weist ihr den Weg. Murmelnd dokumentiert er die Kameraschwenks. Er schnippt nach dem Hund, als er die Balkontür sachte nach innen drückt. Das Usambaraveilchen ruht in seiner Tütengruft. Ein halbes Hundegesicht schaut aufmerksam in das Kameraauge und hechelt. Er fingert nach dem Werkzeug und stabilisiert den Lichtstrahl. Der Trinker ist ein schnarchendes Bündel. Der Besucher arbeitet präzise und ohne Hast. Seine Hand vollführt die gleichen Bewegungen wie bei dem Jugendlichen. Er hat die Kamera auf dem Tisch platziert. Das Schnarchen erstirbt. Ein leises Zischen. Dann nichts mehr.
Die Hand stopft die Werkzeuge zurück in den Blouson und greift nach der Kamera. Einige abschließende Schwenks, kommentiert mit gemurmelten Worten. Abschied von der Hundeschnauze. Ein letzter Check. Er verriegelt die Balkontür. Der Trinker ein lebloses Wrack. Das ernste Gesicht des Besuchers in der Kamera. Er bemüht sich um nüchterne Ernsthaftigkeit. Seine Erektion ignorierte er wie eine lästige Angewohnheit. Jede Kleinigkeit konnte die Wertung beeinflussen.
Die Wohnungstür schließt die Schwärze der Nacht in den Bauch des Zimmers ein. Die Geräusche und Stimmen in den Bauten beruhigen den Besucher. Er ist dankbar. Von Kindesbeinen an hat er die Stille gefürchtet. Die Plastiktüte war an ihrem Platz. Er wusste eine Abkürzung, die ihn sicher zu seinem Wagen geleiten würde. Mit weit ausholenden Schritten ging er auf den Saum der Nadelbäume zu, bis sie ihn verschluckten. Nur die Plastiktüte war noch einige Schritte weit schemenhaft zu erkennen.
Dann war der Besucher gegangen.