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VI.

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Einige Geldscheine und eine hastig verfasste Notiz an den Pflegedienst, dass man für die schwierige Arbeit mit der Pflegebedürftigen eine erfahrenere Person benötige, glättete die Situation notdürftig. Aus der schnippischen jungen Frau war ein ängstliches Bündel geworden, die bei jeder seiner Bewegungen aufschrie und voller Panik aus dem Haus hetzte, sobald er es ihr erlaubte. Er war von alledem unbeeindruckt geblieben und hatte ihr in eindringlichen Worten geschildert, wie sehr ihm an einer harmonischen Lösung gelegen war. Fühlte er, dass ihre Aufmerksamkeit nachließ, genügte ein Griff in seine Jackentasche, um sie vollständig für seine Ausführungen einzunehmen.

Zur Sicherheit engagierte er anschließend eine kurzatmige, übergewichtige Polin mit einem veritablen Damenschnurrbart, deren strenger Gesichtsausdruck sich nur milderte, wenn sie seine Mutter betreute. Dann umsorgte sie die alte Frau mit Umsicht und engelhafter Geduld, die nicht gespielt war, sondern ihrem Wesen entsprach.

Sorge bereitete ihm die ungewöhnliche Fixierung der breitschultrigen Frau auf alles, was mit menschlichen Ausscheidungen zu tun hatte. In gedehntem Akzent kommentierte sie mit deutlicher Unzufriedenheit ihre Inspektionen von Toiletten und Bädern, erwähnte die neuesten Erkenntnisse von Proktologen, die von der Mehrheit der Toilettenpapiernutzer nicht gewürdigt wurden und bewirkte, dass ihr Auftraggeber das erste Mal seit vielen Jahren ein Fremdwörterlexikon in die Hand nahm, um mit Erstaunen zur Kenntnis zu nehmen, dass sich auf die Krankheiten des Mastdarms spezialisierte Ärzte ‚Proktologen‘ nannten und sich auch mit Analhygiene befassten.

Ohne Umschweife verlangte die ungewöhnliche Fachkraft ein neues Toilettenpapier, das keiner der üblichen unappetitlichen Zellhaufen sein dürfe, dessen Prägestruktur bei der Benutzung auf die abgewischte Rosette einen Einfluss wie Sandpapier ausübe. Ideal sei ein sanfter Wasserstrahl oder wenigstens ein hochwertiges Produkt mit einer weichen und reißfesten Struktur.

An dem eifrigen Leuchten ihres sonst eher ausdruckslosen Gesichtes war abzulesen, dass sie diesen Kampf mit glühendem Eifer und aus innerer Überzeugung verfocht. Ihre sonst so kargen Hauptsätze mit den verzeihlichen grammatikalischen Verstümmelungen wucherten und blühten bei jeder Berührung mit der Thematik und sie dirigierte Argumente und Lesefrüchte, dass es dem Gesprächspartner peinlich sein musste, bisher nicht gewusst zu haben, welchen Wert kleine runde Kiesel für arabische Stämme haben und warum Amerikaner keine Papierfalternation sind, sondern eine solche von Papierknüllern.

Erst als die stämmige Frau eine mattgelbe Toilettenrolle aus ihrem Umhängebeutel holte und die geriffelte Oberfläche mit einem verzückten Gesichtsausdruck streichelte, war bei ihrem Gegenüber das Maß der Irritation erreicht, das ihn daran zweifeln ließ, ob die neue Pflegekraft nicht möglicherweise ein tief verwurzeltes Problem hatte, das sich leistungsmindernd auf ihren Auftrag auswirkte. Die Obsession der Polin war anstrengend und bizarr, aber beherrschbar, wenn man ihre Ausführungen ernst nahm und die Vorschläge im zumutbaren Rahmen in die Tat umsetzte.

So wechselte man in dem Haushalt unter dem zufriedenen Schnaufen der neuen Pflegekraft die Toilettenrollen, gesellte neben das trockene Vlies feuchte Tücher einer genau vorgegebenen Marke und bestellte zwei Bidets.

Es war der ins ungewohnt zärtliche abgleitende Gesichtsausdruck der sonst so geschäftsmäßig distanzierten Pflegekraft und ihr versponnenes Lächeln, das sie fast sympathisch erscheinen ließ, wenn sie das favorisierte Toilettenpapier durch ihre Hände gleiten ließ und dabei genießerisch die Augen schloss, was ihn beunruhigte. Er machte sich eine mentale Notiz, sich alsbald nach einer besseren Lösung umzusehen.

Die Müdigkeit holte ihn ein wie eine vernachlässigte Geliebte, die energisch ihr Recht einforderte. Vom Rausch der vergangenen Nacht blieben nur ein wattig gedämpfter Nachhall und ein Frösteln, das ihn immer überkam, wenn eine nicht genau zu bestimmende Unzufriedenheit in ihm nagte. Es war eine Art Zweckpessimismus, den er pflegte wie einen willkommenen Gast und der ihn vor künftigen Enttäuschungen bewahren sollte. Bei seiner Rückkehr hatte er noch immer beschwingt einige Minuten über den Schlaf seiner Mutter gewacht und ihr leises Schnarchen verfolgt, wie eine vertraute Melodie. Bevor er die aufgenommenen Sequenzen ins Netz stellte, fotografierte er das Usambaraveilchen auf exakt der Stelle seines Schreibtisches, die immer zur Präsentation der Trophäen diente. Anders als andere strebte er nicht nach sperrigen Gütern oder verräterischen Artefakten, die ihn in Schwierigkeiten bringen konnten, denn die Schwierigkeit des Wegschaffens oder der Marktwert der Stücke zählte nicht mehr für die Wertung. Es ging lediglich um die Verifizierung der Aktion durch ein Beweisstück, nicht um eine narzisstische Selbstdarstellung oder einen artistischen Schlussakkord.

Die meisten ihres kleinen Zirkels verstanden das und alle waren mit den Spielregeln einverstanden gewesen, als die letzte Revision anstand. Einige jedoch stellten die Geduld der Wertenden auf eine harte Probe, indem sie halsbrecherische Manöver wagten, bei Tageslicht an Hauswänden emporkletterten, sich in aberwitzigen Verkleidungen und mit versteckter Kamera Zutritt zu Wohnungen verschafften oder Spuren legten, die weit über die gesiegelten individuellen Zeichen hinausgingen.

Erst vor einer Woche hatte ein Südamerikaner, der nahe daran war, die Höchstschwierigkeit zu bewältigen, mithilfe eines als ahnungsloses Werkzeug eingesetzten Speditionsunternehmens ein Klavier aus dem Zielbereich schaffen lassen und die Hausbesitzer mit der Nachricht überrascht, sie hätten in der nationalen Lotterie gewonnen, die außer einem stattlichen Geldbetrag auch das Musikinstrument und das bejahrte Auto des Paares gegen neue Stücke tauschte. Bedenken mochten den Geschmeichelten erst gekommen sein, als sie der falsche Sendbote des Glücks mit seinem Zeichen konfrontierte. Es war zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, als die Jury die Aktion als nicht regelkonform ansah und wegen der offensichtlichen Gefährdung der gesamten Mitwirkenden eine Rüge aussprach.

Was er in dieser Nacht zu sehen bekam, nachdem er sich mit seinem Passwort eingeloggt hatte, beruhigte ihn ein wenig. In zwei Fällen war er selbst dazu bestimmt, eine Wertung abzugeben. Das tat er gewissenhaft und ohne Parteilichkeit. Knapp zwei Drittel der Besucher hatten die kurzen Videobotschaften korrekt entschlüsselt und ihr Ziel identifiziert. Das war ein annehmbarer Wert, wobei es einem der Engländer gelungen zu sein schien, die lückenlose Videoüberwachung der Städte anzuzapfen und Gesichter mit einem biometrischen Abgleich zu scannen. Die Kehrseite war natürlich, dass man sich selbst ständig im Fokus der Kameras befand und höchste Vorsicht walten lassen musste, um nicht aufzufallen.

Die weitaus höchste Wertung erzielte ein Beitrag aus Schweden, in dem es einer noch jungen Besucherin gelungen war, ihre Zielperson in einem Kaufhaus zu stellen und ihr zu den Umkleidekabinen zu folgen. Ihre Flüsterstimme erzählte in mühsamem Schulenglisch die Vorgehensweise. Die Handkamera zoomte auf die Rückwände der Kabinen und verharrte auf einem Schraubenzieher mit buntem Griff, der sich unter eine dünne Holzplatte bohrte. Ein Mädchen mit sonderbar abstehenden blonden Zöpfen kam aus einem steilen Winkel ins Bild. Der automatische Zoom hatte Mühe das Wackeln der Filmenden auszugleichen. Immer wieder huschte das Auge der Kamera hinter das öde Braun der Abdeckung, wenn sie eine vorzeitige Entdeckung befürchten musste. Das erläuternde Raunen setzte kurzzeitig aus. Die Tonspur füllte sich mit dem metallischen Scharren von Kleiderbügeln. Dann richtete sich die Linse steil nach oben. Angestrengtes Atmen. Bilder von Deckenplatten und grelles Licht, bevor die Aufnahme nach unten stieß und die Zöpfe einfing.

Die Aufnahme glitt über kleine, unregelmäßige Brüste und einen von Schwangerschaftsstreifen übersäten Bauch. Der erste oberflächliche Eindruck hatte getäuscht. Die Zöpfe wippten über einem faltigen Hals, der das wahre Alter der Frau erahnen ließ. Ein MP3-Player jagte undefinierbare Beats durch die Kopfhörer. Das hochgeraffte seidene Unterkleid reichte bis zum Ansatz der Beinprothese. Das linke Bein war am Oberschenkel amputiert. Die Kamera machte den Farbunterschied deutlich. Das echte Bein war blasser und unregelmäßiger im Muskeltonus. Zarte blonde Härchen am rechten Unterschenkel bewegten sich im Rhythmus des Turnschuhs.

Der Ankleideprozess war ein mühsamer Vorgang. Die Kamera zog sich vorübergehend hinter den Rand der Kabine zurück und tastete sich durch dunkel erscheinende Stoffe und eine winzige Aussparung, in der zwei abgewetzte Sessel und ein Wasserkocher standen. Die Sequenz endete mit einer Nahaufnahme eines satt roten Textilstreifens. Die Stimme erläuterte mit merklicher Aufregung, dass es sich um den Trennvorhang zu der Umkleidekabine handele. Eine Hand schoss nahe an der Kamera vorbei. Ein leichtes Klirren und die undefinierbare Nahaufnahme einer Metallstange wurde sichtbar. Schritte und Stimmen nahten. Die Aufnahme fing ein Stück grauen Boden ein und zeichnete die hektischen Geräusche einer Flucht auf. Der fragende Ruf einer Frau. Dann Stille und ein unterdrücktes Keuchen. Noch einmal ein Ruf, dieses Mal weniger überzeugt. Der Bildausschnitt brav auf den Boden gerichtet. Wartend.

Erneut der Schraubenzieher. Ein verräterisches Knacken, aber kein Innehalten. Die Stimme jetzt kühl und selbstbewusst. Ein Spalt neben dem Rücken der Zopfträgerin. Die Kamera dokumentiert die letzten Handgriffe vor dem Verlassen der Kabine. Zwei sommersprossige Hände schließen einen Reißverschluss. Ein Fuß in einem flachen Schuh schiebt eine bauchige Handtasche mit bunten Applikationen zur Seite. Es ist eine flüssige, geschickte Bewegung, die die Prothese ausführt. Sie verrät Übung und die Versöhnung mit einem harten Schicksal. Die Stimme hatte in der üblichen Kurzbiografie erwähnt, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte, war aber nicht näher auf die Umstände eingegangen.

Zwei Schritte und der Griff zum Vorhang. Ein Straffen des Oberkörpers und das Ratschen der Messingringe. Der Aufschrei paarte sich mit dem Vornüberfallen der Frau, als der schwere Stoff über die Schiene hinausfuhr und zu Boden glitt. Die Prothese machte eine steife Verbeugung und zog eine abgeknickte Hüfte mit sich. Eine Hand schlug mit einem hohlen Geräusch gegen die Trennwand. Die Frau fiel nach links und kollidierte mit dem Hocker, der nach vorn geschleudert wurde. Das rechte Bein hatte die Situation nicht mehr retten können und ragte angewinkelt in die Luft. Die Arme der Gestürzten tasteten nach ihrem Kopf.

Der Schraubenzieher hatte die Rückwand aufgerissen. Die Prothese hatte sich von dem Beinstumpf gelockert und war durch das Hosenbein nach vorn geschlüpft. Der Winkel des Beines war bizarr und der Anblick unerträglich. Aufgeregte Stimmen und ein trockenes Schluchzen der Frau.

Ein Arm wand sich durch den Spalt und führte aus dem Handgelenk präzise Bewegungen aus. Der längliche Gegenstand in der Hand setzte die Bewegungen in Muster um, die im Rücken der Liegenden in Rot erblühten. Der Körper der Frau erschauerte. Geschminkte Münder herbeigeeilter Verkäuferinnen kreischten im Quartett. Eine kräftige Frau im himmelblauen Kostüm hatte die Prothese in dem Versuch, die Gestürzte aus der Enge der Kabinen zu zerren vom Beinstumpf gerissen und hielt das Bein mit weit aufgerissenen Augen auf Armeslänge von sich. Selbst als sie in Ohnmacht fiel, hielt sie das Bein umklammert, als sei sie für dessen Wohlergehen persönlich verantwortlich.

Die Rückwand war in ihre ursprüngliche Position zurück geschnappt. Die Kamera entfernte sich rasch und umkurvte ungeduldig Kleiderstangen, um hoch aufgerichtet in der quer zum Tatort liegenden Herrensektion aufzutauchen. Noch einmal flüsterte die Stimme. Man konnte ihr die Mischung aus Triumph und Erleichterung anhören. Das Auge der Kamera war schräg nach unten gekippt. Die Aufnahmen konnten sich nicht zwischen den vorbeilaufenden Schuhpaaren entscheiden. Kurz vor der Rolltreppe wagte die Kamera einen letzten verstohlenen Blick. Er verharrte auf einem zierlichen silbernen Entenkopf, der als Knauf eines eleganten Gehstocks diente. Die Frau in der Kabine würde ihre Gehhilfe nicht vermissen.

Wie jeder ambitionierte Mitbewerber verglich auch Mark das Gesehene mit den Früchten seiner eigenen Anstrengung. Er bemühte sich um Fairness und eine Abwägung nach objektiven Gesichtspunkten. Der Schwierigkeitsgrad und die Originalität des Projekts waren unleugbar hoch, die Umsetzung etwas unelegant, aber immer spannend und von einer atmosphärischen Dichte, die der Improvisiertheit der Situation entsprang. Schweren Herzens wertete er den schwedischen Beitrag höher als er seine eigene Performance einschätzte und sandte das verschlüsselte Raster an den Server der Gemeinschaft.

Um den vor ihm liegenden Arbeitstag zu erleichtern, nahm er noch einmal die Briefe zur Hand. Es waren schnörkellose Zeugnisse einer gepflegten Gesprächskultur, zurückhaltend, aber mit genügend Persönlichkeit versehen, sodass die Zeilen eine gewisse Wärme ausstrahlten. Bislang war es immer so gekommen, dass seine Mutter recht behalten hatte, wenn sie ihn vor der Raffinesse der Frauen warnte, deren Hauptanliegen es nach den Gesetzen der Natur war, sich um ihre Brut zu sorgen und mit ihren Attributen Männer zu locken und an sich zu binden, die die Gewähr für erstklassiges Erbgut und eine lebenslange Versorgung boten.

Wie alle Söhne hatte er die weitschweifigen Ausführungen nicht ernst genommen und war mit bitteren persönlichen Niederlagen in seine Karriere als sexuelles Wesen gestartet. Er hatte es nie vermocht, es gekonnt nach außen zu transportieren, dass große, schwingende Brüste ihn ängstigten, ausladende Hintern eine zu grobe Botschaft aussandten und fleischige Schenkel bedrohlich wirkten wie mächtige Zangen, die unter madonnenhaft gerundeten Mädchengesichtern Knechtschaft für den Mann bewirkten, der sich in ihre Obhut begab. Nicht anders war es mit den rachitischen Geschöpfen und ihren flachen Bäuchen, den dürren Beinen in engen Röhrenjeans und den spitzen Brustansätzen auf den schmalen Brustkörben. Sie waren Imitate von Frauen, eifrig flanierende Modeständer, die ihre Magerkeit in die Waagschale im Kampf um die Aufmerksamkeit paarungswilliger Männer warfen und sich ein hohes Maß an Arroganz leisteten, das von dem gängigen Geschmacksdiktat der Frauenzeitschriften herrührte.

Als persönliche Niederlage empfand er es allerdings, dass er auch bei dem Anblick unspektakulärer Normfrauen keine sexuelle Regung empfand. In einem Alter, in dem sich seine Mutter entschlossen hatte, die Familienplanung ihres Sohnes auf den Weg zu bringen, suchte er noch immer nach dem Auslöser jener adoleszenten Erregung, die bei seinen Altersgenossen zu einem lächerlichen Balzverhalten, zu öffentlich ausgefochtenen Prahlritualen und einem unseligen Hang zu möglichst eng geschnittenen Hosen führte.

Er wusste es zu schätzen, dass seine besorgte Mutter ihm eine schreiend gelbe Badehose bereitlegte, die mit optimistischem Tangaschnitt seine Geschlechtsorgane hob und nach vorne presste und einen gockelhaft stolzierenden Gang erzwang, der in der Badeanstalt eine gewisse Unruhe unter den weiblichen Gästen hervorrief. Sie schien unter dem Eindruck zu stehen, dass das offenkundige Defizit in der Entwicklung eines gesunden jungen Mannes von Erziehungsfehlern herrührte. In vorsichtigen Gesprächsansätzen versuchte sie herauszufinden, ob die mütterliche Besorgtheit als übermäßige Strenge wahrgenommen worden war, sodass für den Sohn eine Annäherung an das weibliche Geschlecht als eine Art Vergehen gewertet würde. Ziemlich direkt, so wie es ihre Art war, sprach sie das Problem der Homosexualität an und erntete nach ungläubigen Blicken ein prustendes Lachen, das sie mehr erleichterte als sie zugeben wollte.

Als Ergebnis blieb nur die Vermutung, dass der weitgehend vaterlos aufgewachsene Junge ein wie auch immer geartetes Defizit mit sich herumschleppte, das sich mit zunehmendem Alter selbst regulieren würde. Der Sohn hatte es stets vermieden, den Kummer der Mutter dadurch zu verstärken, dass er sein Wissen um den Tod des Vaters preisgab. Der verständnisvolle Blick des Hausarztes sprach Bände, als er nach flüchtigem Betasten einen Herzstillstand attestierte und so den Vergiftungstod des Haustyrannen kaschierte. Er war es, der die Verletzungen der Mutter nach den Prügelorgien des Vaters mit finsterer Miene versorgte und die Ausbrüche häuslicher Gewalt unter der Decke hielt, weil ihn ein bittendes Gesicht darum bat. Er war es, der sich nach einer angemessenen Trauerphase mit der Mutter in das elterliche Schlafzimmer zurückzog.

Der Sohn konnte nur spekulieren, glaubte aber dem Kern der Wahrheit nahe gekommen zu sein, wenn er den Arzt als Lieferanten der vielen kleinen Dosen Arsen ausmachte, die den Kaffee des Vaters bereicherten, wenn er nach seinen Seitensprüngen mit Damen zweifelhaften Rufs in den Schoß der Familie zurückkehrte und seinem schlechten Gewissen in gewalttätigen Eruptionen Platz verschaffte. Er pflegte mit der offenen Hand zuzuschlagen, denn als religiöser Mensch unterschied er zwischen gerechter und gottgefälliger Züchtigung und nicht zu rechtfertigenden Prügeln, zu denen nur die unbeherrschten Seelen griffen, deren Platz im Himmel schon zu Lebzeiten verwirkt war. Seine Arme drehten sich wie Dreschflegel im immer gleichen Takt und verwandelten die Mutter in ein wimmerndes Bündel. Das Arsen hatte die erhoffte besänftigende Wirkung auf ihn, und er verlangte nicht mehr den ersehnten Respekt, den er in seine Frau einzubläuen versuchte.

Der Sohn war vor jeder dieser ‚Sitzungen‘ der Eltern auf sein Zimmer geschickt worden, wo er mit untergeschlagenen Beinen tränenüberströmt auf dem Bett saß und sich große, eingespeichelte Stücke von Papiertaschentüchern in die Ohren stopfte, um den Geräuschen zu entgehen, die sich in sein Herz krallten und ihn folterten. Mehrere Male war der Vater nach Sitzungsende in sein Zimmer gekommen und hatte ihn schweigend angesehen, als suche er Bestätigung. Der Junge konnte dem Blick des sehnigen Mannes mit dem erstaunlich vollen Gesicht nicht standhalten. Mit zittrigen Fingern hielt er ein Teppichmesser in den Händen und schob die schiefe Klinge aus dem Futteral. Es war mehr eine Geste der Hilflosigkeit als eine Drohung, aber sie genügte, um dem Vater die gewünschte Botschaft zukommen zu lassen.

Skrupel erwuchsen aus den lange zurückliegenden Vorkommnissen keine und der Junge vermisste weder eine Vaterfigur in seinem Leben, noch machte er seine Mutter für mögliche Defizite in seiner Entwicklung verantwortlich. Das Einzige, was er sich aus dieser Zeit behielt, war die Gewissheit der Nützlichkeit eines Teppichmessers.

Das Schlüsselerlebnis war die Frucht eines schwülen Herbsttages, den er mit Freunden im Schwimmbad verbracht hatte. Kichernde Mädchen in knappen Bikinis vollführten beim Minigolf unbeholfene Verrenkungen, um den Jungmännern Gelegenheit zur körperintensiven Hilfestellung zu geben. Haare wurden zurückgestrichen und Hüften kokett verdreht, während Schminkspiegel ihren Einsatz hatten, um die Wirkung der Bemühungen zu kontrollieren. Mark war von den Ritualen ermüdet. Er hatte einen weiteren Versuch unternommen sich das Feuer des Begehrens anzuerziehen, indem er sich auf ein hübsches Lippenpaar konzentrierte und Bilder heraufbeschwor, die er in einem einschlägigen Magazin gesehen hatte. Tatsächlich vermochte er eine gewisse sehnsüchtige Erwartung zu erzeugen, die halbherzig seine Lenden erreichte und sich sofort verflüchtigte, als der Mund mit breitem Dialekt nichts­sagende Sätze von sich gab. Von dem Ergebnis entmutigt machte sich Mark von dannen.

Er genoss das Alleinsein, wenn er durch die Straßen streifte und beim Anblick der Häuserfronten, der Geschäfte und Fabriken an deren Innenleben dachte, das faszinierend und fremd sein musste, weil es sich vor Blicken schützte. Ohne zu zögern, war er der kleinwüchsigen Frau nachgegangen, deren Gesicht seltsam faltig und greisenhaft war. Sie mochte ihm bis knapp über die Hüfte reichen und ging mit einem militärisch zackigen, stampfenden Schritt, als wolle sie alle die warnen, die in ihr eine leicht zu überwältigende Beute sahen. Beim Gehen waren ihre gedrungenen Gliedmaßen in ständiger Bewegung und langes schwarzes Haar hing über das rote Kleid. Sie hatte keine nennenswert weibliche Figur, sondern bestand aus einer Ansammlung gedrungener Wölbungen, die durch Gelenke zusammengehalten waren. Die Zwergin wirkte wie ein ungesund geschwollenes, vorzeitig gealtertes Kind, das einer schrecklichen Krankheit zum Opfer gefallen war.

Zielstrebig war sie in einem Haus mit einem schmucken Vorgarten verschwunden. Mark hatte sich zurückfallen lassen und die Szene genossen. Er war eifersüchtig auf die braunen Fensterläden, die mehr von der Zwergin wissen mochten als er. Mit schmalen Augen musterte er die Haustür, die mit ihrem abweisenden Gehabe seine Neugierde nur noch stärker anstachelte. Ohne über die möglichen Folgen nachzudenken, umrundete er das Haus und kletterte auf einen Stapel von sauber geschichtetem Brennholz, bis er ein Fenster erreichte, das ihm einen Einblick gewährte. Es war ein verlassenes Badezimmer, schlicht und unspektakulär wie Tausende andere. Die Holzkloben hatten dünne Splitter in seinen Händen hinterlassen. Zwei Fliegen paarten sich auf seinem Handrücken und betupften ohne jede Scham nach vollbrachtem Akt den Schweißfilm auf seiner Haut. Er hatte Durst.

Als der weißhaarige Mann das Badezimmer betrat, wirkte er neben der Zwergin wie ein Riese. Mit winzigen Händen verknotete die Frau die Stricke, die sich um seine Handgelenke und Fußknöchel wanden. Beide wirkten konzentriert und wie ein eingespieltes Team, das darauf achtete, schnell und effektiv zu arbeiten. Mit einem Badetuch unter dem Arm führte die Kleinwüchsige den Gefesselten hinter sich her, wie ein willenloses schlurfendes Bündel. Die Badezimmertür blieb offen und gestattete den Blick in einen weitläufigen Raum mit einer Sitzgruppe. Die untere Hälfte des Mannes wurde durch den Türrahmen abgeschnitten. Die obere Hälfte legte sich gehorsam mit dem Rücken auf den Teppichboden. Der Weißhaarige kippte den Kopf und schloss die Augen. Zierliche Füße mit Zehennägeln in der Farbe reifer Pflaumen balancierten über den Körper. Die Füße stampften auf den Rippenbögen mit der gleichen militärischen Präzision, wie sie zuvor durch die Straßen gelaufen waren. Man konnte sehen, dass der Atem aus den Lungen des Mannes entwich. Die Füße trampelten wie auf einem Blasebalg in einem unbarmherzigen Takt. Der Weißhaarige warf den Kopf zur Seite. Eine senkrechte Ader auf der Stirn schwoll bedenklich an. Der Kopf schnellt nach vorne und der Oberkörper bäumte sich auf, ohne die routinierten Füße abschütteln zu können. Wie bei einem gefangenen Karpfen öffnete sich der Mund des Mannes und schnappte nach Luft. Seine Arme zerrten an der Fesselung. Die Augen traten aus den Höhlen und glotzten ungläubig ins Nichts. Speichelfäden hingen aus dem Mundwinkel. Keiner der beiden hatte einen Ton von sich gegeben.

Der Junge auf dem Holzstapel spürte die Holzsplitter in seinen Händen nicht mehr. Er nahm die Spinne nicht wahr, die sich in seine Haare verkroch. Er hatte keinen Durst mehr. Er war ein Gefangener der beiden Menschen in dem nahen Wohnzimmer, ein stiller Teilhaber einer unerhörten Begebenheit, ein Voyeur ohne eigenen Willen. Sein Gesicht verzerrte sich in einer Spiegelung der Verzückung des Weißhaarigen. Der Junge litt und imitierte, drückte seine Wange dicht an die Scheibe und hielt den Atem an, bis ihm schwindelte.

In einer graziösen Bewegung wie eine Zirkusartistin hatte die Zwergin ihren verwachsenen Oberkörper nach hinten gebeugt. Ihr altes Gesicht verschwand zusammen mit den Unterarmen hinter dem Türrahmen, während die Füße mit den Fersen auf das Zwerchfell des Mannes trommelten. Ihr ungestalter Körper wand sich wie eine Spirale. Der Kopf des Weißhaarigen schlug mehrfach hart auf dem Boden auf. Verzweifelt änderte der Junge seine Position, zerschrammte sich den Knöchel bei dem Versuch nach ganz rechts außen zu kriechen, um doch noch einen größeren Ausschnitt des ungleichen Paares zu Gesicht zu bekommen.

Das Brüllen des Mannes kam unerwartet und brachte den Jungen dazu, sich heftig auf die Zunge zu beißen. Es war ein pfeifendes, röchelndes Brüllen in einer erstickten Tonlage, wie es der Junge noch nie vernommen hatte. Es brach mehrfach ab, um dann mit einer heulenden Ouvertüre wieder aufgenommen zu werden, sich in einem dauerhaften Crescendo zu steigern und nach einem Fortissimo zu ersterben. Erst jetzt sah der Junge, dass die Füße mit den pflaumenfarbenen Nägeln verschwunden waren. Ein winziger Rest des roten Kleides blitzte neben der Barriere des Türrahmens auf. Es bewegte sich in typischer Manier über hart arbeitenden Zwergenhüften. Die Füße vollendeten ihr Werk an einer anderen Stelle und überließen den malträtierten Oberkörper des Mannes dem Brüllen. Als die Beinkolben der Kleinwüchsigen ihre Anstrengungen verlangsamten, ging auch das Brüllen des Mannes in ein Schluchzen und Gurgeln über, begleitet von einem Tränenstrom und einer Ladung Rotz, der ungehindert aus der Nase lief. Dann rollte sich der Körper des Mannes zur Seite.

Der Junge hockte wie in Trance auf dem Holzstapel. Er nahm nicht wahr, dass er seine rechte Hand zwischen seine Beine gekrallt hatte, wo eine pochende Erektion seine Unaufmerksamkeit schmerzhaft bedauerte. Er war nicht mehr daran interessiert, wie die Zwergin nach getaner Arbeit mit geblähten Wangen die Fesseln des Mannes löste und ihm mit einer linkischen Geste das Badetuch reichte, damit er sich reinigen konnte. Es war für ihn nichts Aufregendes an dem Gedanken, dass das Paar in Kürze das Badezimmer aufsuchen würde, um sich frisch und präsentabel zu machen. Sein einziger Gedanke war, sich kletternd und rutschend davonzumachen und so schnell zu laufen, wie es seine Füße vermochten. Blind für seine Umwelt überquerte er Straßen und Plätze, erntete missbilligende Blicke von Passanten und animierte einen bulligen Rottweiler zu einer halbherzigen Beißattacke. An einer modernen Installation, die aus rostfreien Stahlporen Wasserfontänen in ein Kiesbecken spie, hielt er schwer atmend inne und trank mit gierigen Zügen.

Was ihn verstörte, war nicht das Gesehene, sondern die Tatsache, dass er etwas über sich gelernt hatte. Ganz ohne eigenes Zutun hatte das Abnorme der Situation die Erregung bei ihm ausgelöst, nach der er seit geraumer Zeit auf der Suche war. Es war die komplexe Mischung aus Furcht, Selbstekel und der Gewissheit einem abseitigen Akt beizuwohnen, die ihn lähmte durch das unergründliche Verlangen eines geborenen Voyeurs, das ihn innerlich vibrieren ließ.

Der junge Mann hielt seinen Kopf unter den Wasserstrahl, der so kalt war, dass die Haut ertaubte und kümmerte sich nicht um die missbilligenden Blicke der Passanten. Er rubbelte sich mit den Händen durch das Haar und sah die Welt durch die verzerrende Perspektive der Wassertropfen auf seiner Brille. Er fühlte sich leicht und befreit, weil er sich über einen Teil seines Selbst klar geworden war. Jetzt war es nur noch ein kleiner Schritt bis er mit sich auch im Reinen sein würde. Er schlenkerte mit den Armen und spürte die unangenehmen Stiche der Holzsplitter. Seine Mutter würde sie mit einer Pinzette entfernen und mitfühlend seiner Geschichte lauschen, wie es zu dem Vorfall gekommen war. Natürlich würde er ihr die Wahrheit ersparen.

Er hatte ihr gegenüber auch nichts davon erwähnt, was der Auslöser war, der ihn mit nach vorne geneigtem Oberkörper und verzerrtem Gesicht am Sarg seines Vaters taumeln ließ, sodass die wenigen Trauergäste herbeistürzten, um ihm Beistand zu gewähren und die Mutter mit dem Hausarzt schuldbeladene Blicke tauschten. Niemand, der den folgsamen blonden Jungen mit den guten Manieren und dem offenen Blick kannte, hätte vermutet, dass sein Zusammenbruch mit dem Wiederkäuen der letzten Stunden des Verstorbenen zusammenhing. Die graue, klamme Haut, die seine duldsame Mutter mit einem in Franzbranntwein getränkten Schwamm abrieb. Die Koliken, die den selbstgerechten Mann zu Boden zwangen und ihn um den Tod als Erlösung flehen ließen und die Lippen, die in einem fort bebten, ohne Vergebung zu erlangen.

Unendliche Erleichterung, Genugtuung und das Wissen, an einem düsteren Geheimnis teilzuhaben, ohne sich jemals jemandem offenbaren zu können, hatten den sexuellen Höhepunkt ausgelöst. Noch Tage danach hatte sich der Junge vor seinem eigenen Spiegelbild geschämt. Doch jetzt war ihm klar geworden, dass kein Fluch auf ihm lastete. Er war frei von den fruchtlosen Versuchen, sich in eine normale Beziehung einzupassen. Er sparte sich den demütigenden Gang zu den Prostituierten in dem Viertel, das die Stadt zum Straßenstrich auserkoren hatte und von wo er mit dem Gefühl der Niederlage heimkehrte, weil es auch die mütterlich verständnisvollen Huren mit all ihrer Kunst nicht vermochten, seinen Körper dauerhaft zu erregen.

Er akzeptierte die Tatsache, dass gegen die eigene Natur nichts zu erzwingen war und machte sich auf die Suche. Er suchte in winkligen Straßen, an verschwiegenen Plätzen, in den dunklen Nischen vollgestopfter Buchhandlungen und mit den Jahren auch im Internet, das zu seinem persönlichen Messias wurde. Er goutierte Porträts ausgesucht hässlicher Menschen, las mit glühenden Ohren die Ergüsse eines Otto Weininger über das gänzliche Unvermögen der Frauen zur Wahrheit, erschauerte bei dem Gedanken an das Ausweiden der Verstorbenen durch die Geier in der zoroastrischen Religionsmythologie und tat jedes Mal freudig überrascht, wenn ihn das Schicksal mit einem orgiastischen Gefühl belohnte. So war er nach und nach von einem unbedarften Voyeur zu einem geachteten Besucher geworden.

Die Briefe der inhaftierten Frau allerdings mochten sein geordnetes Dasein in andere Bahnen lenken. Er war sich noch nicht schlüssig, welche Rolle ihr zufallen könnte.

Gedankenverloren fuhr er mit dem Zeigefinger liebkosend über den Griff des Teppichmessers. Die Klinge war dunkel und stumpf von geronnenem Blut. Er legte die Briefe aus der Hand und begann das Werkzeug zu säubern. Der nächste Einsatz war nicht fern und nur eine perfekt präparierte Schnittfläche brachte perfekte Ergebnisse.

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