Читать книгу Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein - Страница 11
ОглавлениеKapitel 3
Zu Anfang hatte Maylène im Lokal ihres Onkels in der Küche und im Service geholfen und einfache Arbeiten erledigt. Sie spülte Geschirr, schälte Kartoffeln, gab Bestellungen auf, erledigte Besorgungen, polierte Gläser. Mehr und mehr jedoch fand sie Gefallen am Kochen. Und sie entdeckte ihr Talent. Die Kreation der wechselnden Tagesmenüs wurde Maylène alsbald übertragen. Ihr Onkel lehrte sie die Standards der Speisenzubereitung und weihte sie in die mystischen und raffinierten Rezepturen ebenso ein wie in die Geheimnisse der richtigen Würze. Er paukte ihr Verständnis dafür ein, eine schwere gusseiserne Pfanne stets einer modernen Edelstahlvariante vorzuziehen. Er instruierte sie, ausschließlich mit scharf geschliffenen Messern Kräuter zu hacken. Und er maßregelte sie, als sie sich anschickte, eine Bouillon in antihaftbeschichtetem Geschirr und nicht etwa im Kupfertopf kochen zu wollen. Nie konnte er indessen ganz verheimlichen, dass er sie um ihre vom Himmel verliehene Begabung insgeheim beneidete.
Antoine unterrichtete sie mit Eifer und Hingabe bis zu einem nebeligen Tag im April, als Maylène früh morgens mit Filou von einem Strandspaziergang zurückgekehrt war. Sie hatte Sand von ihren gelben Gummistiefeln geklopft und ihren mit markanten schwarzen Hornknebelknöpfen versehenen roten Düffelmantel an die Garderobe gehängt. Mit dem edlen Kleidungsstück, das zu leisten Maylène sich selbst nicht im Stande sah, war sie anlässlich des letzten Weihnachtsfestes von Antoine bedacht worden. Sie goss für den durstigen Hund frisches Wasser in dessen Schale und hielt Ausschau nach ihrem Onkel. Sie fand Antoine schließlich auf dem Boden des Warenlagers liegend im hinteren Teil der Küche. Unförmig und seltsam krumm waren die Arme und Beine unter seinem Körper verrenkt. Er regte sich nicht, doch er atmete.
Wochenlang lag Antoine auf der neurologischen Station des Bezirkshospitals. Zunächst hatten die behandelnden Ärzte noch Hoffnung gehabt, doch nach einem nächtlichen Rückschlag verschlechterte sich sein Zustand körperlich wie geistig zusehends. Er redete wirr und zusammenhanglos. Seine Stimme war kaum zu verstehen. Er beschimpfte das Pflegepersonal, sprach Maylène nicht nur einmal mit Célestine, dem Namen seiner Jugendliebe, an und plauderte eifrig von Gewürzen und Pflanzen, deren Namen sie nie zuvor gehört hatte und deren Existenz sie anzweifelte. Maylène hörte ihm trotzdem bei jedem ihrer Besuche aufmerksam und geduldig zu. Bei einem ihrer Aufenthalte an seinem Krankenbett sprach Antoine von einer außergewöhnlich bemalten Schatulle, die sich angeblich in einer alten Truhe befände. Er fantasierte von Feuer und davon, dass Dinge brennen müssen. Irgendetwas, das Maylène nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, brächte Unheil. Fester als üblich drückte er an jenem Tag Maylènes Hand. »Ne jamais jouer à Dieu, mon enfant. Jamais!«, sagte er mit gequälter und heiserer Stimme.
Als am nächsten Tag das Telefon im Restaurant klingelte, offenbarten ihr die Ärzte, sie würden Antoine ob des Mangels einer positiven Prognose in ein Pflegeheim überstellen.
Von den Folgen des Hirninfarktes erholte sich Antoine nicht wieder. Bettlägerig und zunehmend geistesabwesend bewohnt Maylènes Onkel seither eine städtische Pflegeanstalt in einem benachbarten Arrondissement. Dort vegetiert er mehr als dass er lebt. Maylène vermisst seine Kauzigkeit und sein schrulliges Benehmen. An jedem ersten Sonntag im Monat, und manchmal auch unter der Woche, besucht ihn Maylène. Zu jedem Besuch bringt sie Antoine kleine Geschenke mit, und jedes Mal zermürbt sie sich den Kopf darüber, ob sie es ihrem Onkel gegenüber aus Freundlichkeit macht oder um sich selbst gut leiden zu können. Heute hat Maylène einmal mehr kandierte Pruneaux d‘Agen im Gepäck. Die süße Spezialität hatte Antoine am liebsten nach einem deftigen Essen genascht. Er hatte die gezuckerten Pflaumen jedem noch so aufwendigen Dessert vorgezogen und sie stets gierig verschlungen. Heute muss man Antoine die Früchte einzeln zum Mund führen, und selbst das Kauen bereitet ihm große Mühe. Maylène hat den Verdacht, die meisten der Pflaumen wandern in die Münder der Schwestern des Pflegeheimes, sobald sie wieder den Heimweg angetreten hat.
Stets kehrt sie betrübt von ihren Besuchen zurück. Ihre Miene trübt sich noch mehr ein, wenn sie Filou auf dessen Stammplatz vor dem Lokal, unverdrossen auf sein Herrchen wartend, vorfindet. Beinah täglich schleppt sich der altersschwache Hund vom Ort über die kilometerlange Strandstraße dorthin und sehnt, nicht müde werdend, Antoine zurück.
*
Elisa ist mit ihren einunddreißig Jahren eine Angestellte höheren Kaders in einem Filialunternehmen, das der Finanzdienstleisterbranche nahesteht. Die schlanke, sportliche und aparte junge Dame weiß nicht nur um ihre geschäftlichen Kompetenzen. Sie hat auch das nötige Bewusstsein, was ihre Tragweite auf Männer betrifft. Darüber hinaus ist sie ein bisschen stolz auf ihre ausgeprägte Vorliebe für edle Dessous. Ihre schönsten und reizvollsten Exemplare befinden sich in der ledernen Reisetasche auf der Rückbank ihres Autos. Zu ihrem engen hellgrauen Pullover mit weitem Rundhalsausschnitt trägt sie einen dunklen Rock und darunter halterlose Strümpfe. Als Unterwäsche hat sich Elisa für das marineblaue transparente Höschen und den zugehörigen Büstenhalter entschieden. Beide sind mit goldfarbener floraler Stickerei besetzt. Ihr Ausschnitt gibt einen Blick auf die Träger ihres BHs frei, den ein moderner rot-gemusterter Schal verschleiert.
Seit mehr als zehn Kilometern ist Elisa auf den verschlafenen Straßen der Tiefebene kein Fahrzeug mehr begegnet. Die entvölkerte und menschenleere Gegend, durch die sie fährt, wird zunehmend umhüllt von Nebel, der von der nahen See aufzieht. Gegen halb zwei erreicht Elisa die Zufahrtsstraße, die zu einer Plattform inmitten eines Naturschutzgebietes führt. Das Verkehrszeichen Nummer 251 untersagt es ihr, die Straße in der Zeit von 22:00 bis 9:00 Uhr zu befahren.
Das Verbot ignorierend, fährt Elisa über den von Schlaglöchern und Bodenwellen geprägten Deichweg. Ihre Aufregung ist groß, als sie die Plattform erreicht. Sie betätigt das Fernlicht, das Mühe hat, die feinen Wassertropfen des dichten Nebels zu durchdringen. Elisa fährt langsam einmal quer über den Platz. Ein weiteres Fahrzeug kann sie nicht ausmachen. Sie ist offenbar allein auf dem Areal.
Elisa lässt den Fuß auf dem Bremspedal, und die drei Bremslichter tränken die Nebelschwaden in ein verschwommenes Rot. Sie schaltet das Autoradio stumm, tastet nach dem Schalter des Fensterhebers und lässt die Scheibe eine Handbreit herab, um hinauszulauschen. Bis auf ein paar Windgeräusche ist es still. Nicht einmal das sanfte Rauschen der brandenden Wellen ist zu hören. Der Nebel wirkt unheimlich, und Elisa ist mulmig zumute. Angespannt und nervös zugleich schaltet sie die Scheinwerfer nicht aus und lässt auch den Motor laufen, als sie es einige Minuten später wagt, aus ihrem Fahrzeug auszusteigen. Sie stellt sich hinter die beiden in Verfall geratenen Holzbänke. Bei Tageslicht hat man von hier einen beeindruckenden Rundumblick auf die gut hundert Quadratkilometer große Meeresbucht.
Der Nebel ist so dicht, dass das Licht der Autoscheinwerfer, das Elisa wie eine einsame Künstlerin auf einer Bühne anstrahlt, keine Schatten wirft.
Als sich Elisa vor Jahren zum ersten Mal an diesem Ort befand, die Hände auf die Rückenlehne einer der Holzbänke abgestützt, stand er dicht hinter ihr. Dabei hatte er seine Hand unter ihren Rock geschoben, ihre Pobacken gestreichelt und geknetet und ihr seine Lust ins Ohr gehaucht. Diese konnte Elisa ebenso deutlich spüren wie hören, als er seinen Harten an sie presste. Wäre nicht zur selben Zeit ein Transporter eines handwerklichen Kleinbetriebes auf die Plattform gefahren, hätte er ihr seinen bereits aus der Hose befreiten Schwanz eingeführt. So jäh unterbrochen wurde damals schnell die Kleidung zurechtgezupft, und sie huschten zurück ins Auto, kurz bevor der Transporter in unmittelbarer Nähe parkte. Dieses Gefühl des Ertapptwerdens hatte Elisa seitdem nicht wieder losgelassen. Es lässt die lüsterne Spannung auf ein Höchstmaß anschwellen. Es kommt Elisa vor, als wäre sie an jenem Tag gebrandmarkt worden. Einen Partner, der diese Vorliebe mit ihr teilt, hat sie bis heute nicht gefunden. Dass ihre Suche danach als höchst unmotiviert beschrieben werden darf, liegt an ihrer unmissverständlichen Auffassung, dass sie dem Personenkreis zuzurechnen ist, der für gewöhnlich nicht gesucht, sondern vielmehr gefunden wird.
Aufgekratzt und etwas wehmütig denkt Elisa an diesen besonderen, hocherotischen Moment zurück. Nun aber fröstelt es ihr allmählich im nassen und kalten Nebel in der Nacht zum ersten Oktober. Ungeduldig wartend scharrt sie mit der Fußspitze über den Asphalt, als wollte sie eine glimmende Zigarettenglut austreten. Eine Zigarette würde sie in diesem Augenblick nicht ausschlagen, auch als überzeugte Nichtraucherin nicht, so unruhig und aufgeregt ist sie.
*
Mit einem alten Benzinfeuerzeug unternimmt einer der beiden Arbeiter des Bauhofes den Versuch, dem Wind zu trotzen und sich eine filterlose Zigarette anzuzünden, bevor er sich diese zwischen die Lippen klemmt und beginnt, die mit Holz ummantelten Abfallbehälter, die am Strandweg aufgestellt waren, auf dem Lastwagen zu verzurren. Der andere Mann sichert die Fenster und Eingänge der dem Lokal gegenüberliegenden Pizzeria mit Brettern, die er in Streben darüber nagelt. Maylène grüßt die beiden von Weitem mit erhobener Hand. Sie hakt den Karabiner der Hundeleine an Filous Halsband ein, schwingt sich auf ihr Fahrrad und macht kehrt in Richtung Dorf. Der Wind von der Seeseite, den sie nun im Rücken hat und gegen den sie eben noch angekämpft hat, lässt Maylène schneller fahren. So schnell, dass Filou Mühe hat, Schritt zu halten. Als sie es bemerkt, zieht sie den Hebel der Bremse.
Der weitläufige Landstrich zwischen Dorf und Küste ist dicht bewaldet. Der sandige Boden der hügeligen Dünenlandschaft begünstigt es, dass der Mischwald überwiegend von anspruchslosen Kiefern und Pinien dominiert wird. Maylène radelt am rechts von ihr gelegenen Campingplatz vorbei, der in der Hauptsaison von Nudisten und FKK-Freunden besiedelt wird. Nun ist das Gelände verwaist und das große Eisentor am Eingang mit einer schweren Kette gesichert. Die Campingsaison beginnt traditionell wieder im Mai, während die Strandbungalows erst einen Monat später belegt werden.
Das Dorf erreichend, fährt sie vorbei an der weiß verputzten Kirche mit dem davor gelegenen Dorfplatz und dem Denkmal zum Gedächtnis der Gefallenen und Verschollenen beider Weltkriege. Oft hält Maylène inne, wenn sie sich fragt, ob es gleicherweise ein Ehrenmal für die Opfer eines Dritten Weltkrieges geben wird. Und ob noch ein Steinmetz lebt, der es meißelt. Und ob noch ein Platz existiert, auf dem es errichtet wird.
Östlich der Kirche, unweit der Gemeindebücherei auf der Ausfahrtstraße, erreicht sie mit dem hechelnden Hund das eingeschossige Haus von Antoine. Die kurze Ehe ihres Onkels war kinderlos geblieben. In dem Haus lebte er viele Jahre allein, bis Maylène eines Tages vor der Tür stand. Sie ist die Tochter seines jüngeren Bruders. Antoine richtete ihr ein Zimmer her und nahm sie bei sich auf. Wie ein eigenes Kind, das ihm nie beschert wurde, behandelte und behütete er sie vom ersten Tag an. Mit Maylène zog frischer Wind in Antoines eingefahrene und wenig abwechslungsreiche Welt ein. Er genoss die Veränderung. Anfangs verhalten, später in vollen Zügen.
Die Fassade des Hauses ist, wie beinah alle umliegenden Gebäudefronten, weiß. Die verwitterten rostroten Dachpfannen überragt ein zentraler Schornstein. Die Haustür an der Frontseite ist vom gleichen Ziermauerwerk umgeben wie die beiden Fenster links und rechts. Die geschlossenen Fensterläden sind in derselben rotbraunen Farbe lackiert wie die Haustür. Ein hüfthoher Zaun aus Maschendraht umsäumt das Grundstück. Durch eine kleine weiße Holzpforte gelangt man zur Tür, die von zwei bepflanzten Steinkübeln eingefasst wird. Eine breitere, doppelflüglige Pforte führt zu dem benachbarten Schuppen. Am rechten der beiden Torpfeiler prangt die Hausnummer zehn. Vor dem Haus verläuft ein schmaler, mit Kies befüllter Fußweg. Im hinteren Bereich grenzt das Grundstück an einen Wald. Das Haus wird umgeben von einer Obstwiese. Neben Apfel- und Birnbäumen findet man Pflaumen- und Mirabellenbäumchen. Es war Maylène, die ihren Onkel dazu bewogen hat, um das Haus herum Blumenbeete anzulegen. Bepflanzt hat sie die Rabatten selbst. Hortensien, Lavendel und Dahlien gedeihen prächtig. Leider bleibt während der Saison wenig Zeit für die Gartenpflege. Zu sehr nimmt sie die Führung von Restaurant und Hotel in Anspruch.
*
Klamm kriecht ihr die Nässe in die Kleidung und unter die Haut. Es sind nur knapp über null Grad. Just hat Elisa ihren neuen Mantel von der Rückbank gegriffen und übergezogen, da erblickt sie ein Paar Scheinwerfer, die auf die Plattform zusteuern. Langsam nähert sich der Lichtkegel. Als das Auto neben ihrem Wagen zum Stillstand kommt, ist sie nicht überrascht, dass es derselbe dunkle Van ist, in dem sie viele Male als Beifahrerin mitgefahren ist. Gleichmäßig und langsam tuckert der Motor im Leerlauf. Temperamentvoll und schnell schlägt in hoher Frequenz Elisas Herz.
Die Beifahrertür wird von innen aufgestoßen. Die Melodie des Liedes, die ihr entgegenschallt, könnte ihr vertrauter nicht sein. Aus dem Font ihres Autos nimmt sie die Reisetasche. Sie streift ihren Mantel wieder ab und verstaut ihn gemeinsam mit dem Gepäck auf den Rücksitz des Vans. Als sie einsteigt und Platz nimmt, macht sie dies, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Als sich ihr Blick mit seinem trifft, lächeln sie einander an. In diesem Augenblick durchzieht ein warmer, wohliger Schwall Elisas Körper. Vermutlich aus dem Grund, weil sich ihr Herz öffnet. Und deshalb, weil sie alles und jeden fortscheuchte, der es wieder zu schließen wagte.
Als sie die Tür zuzieht, erlischt das Licht der Leuchten am Fahrzeughimmel, und es wird schummerig im Innern. Er legt einen Gang ein, wendet das Auto, und sie verlassen die Plattform über die holprige Deichstraße. Ihren Blick wendet sie nur für Sekunden von ihm ab, als sie die Schlosszunge in das Gurtschloss einrasten lässt.
Seine Haare trägt er länger, dafür nicht weniger modern geschnitten. Sein Gesicht ist markant und kantig. Die Hände sind gepflegt. Zu der schwarzen schmal geschnittenen Cargo-Hose mit Palettentaschen an beiden Seiten kombiniert er einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Darunter trägt er ein weißes Hemd aus leicht schimmerndem Elasthan. Dass er noch dieselbe Uhr mit dem schwarzen Armband und dem weißen Zifferblatt trägt, beobachtet sie, als er an den Schaltern auf dem Lenkrad einen Titel der Musikanlage programmiert.
Der Duft seines Eau de Toilette ist ihr wohlbekannt und wirkt intim und elektrisierend. Wie von einem starken, unsichtbaren Magneten wird sie angezogen. So geschieht es jetzt. Und so geschah es damals.
Vor gut vier Jahren war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Anlass war ein Termin auf beruflicher Ebene. Es war Elisas siebenundzwanzigster Geburtstag, und eigentlich wollte sie früh Feierabend machen, doch aufgrund einer Erkrankung ihres Vorgesetzten musste sie einspringen und einen Beratungstermin übernehmen. Der Geburtstag war in ihren Augen ohnehin gelaufen. Hatte ihr damaliger Freund, der den bescheuerten Spitznamen »Biff« trug, wie sie sich amüsiert erinnerte, doch dem Besuch eines Eishockeyspiels einem romantischen Abendessen zu ihren Ehren den Vorzug erteilt. Überdies sollte es für ihren Freund die letzte Gelegenheit gewesen sein, Elisa hintanzustellen. Keine sieben Tage später gab sie Biff den Laufpass.
Schon die Begrüßung, als er damals um mehrere Minuten zu früh in der Bürotür stand und Elisa ihn überhaupt nicht bemerkt hatte, war aufregend. Als sie sein Räuspern und seine angenehm brummige Stimme vernahm und mit dem Kopf hochschnellte, traf sie sein durchdringender Blick. Sie erfuhr, dass er als Handelsvertreter die Republik bereiste. Elisa entging nicht, dass er weder rechts noch links einen Ring am Finger trug. Das Consultinggespräch war vom ersten Satz an durchzogen von kesser Süffisanz. Elisa selbst war es, die im Verlauf der Unterredung alle Regeln der Proxemik über Bord warf und eine angemessene Gesprächsdistanz vermissen ließ. Es war ihr Job, ihn hinsichtlich finanzieller Belange zu beraten. Er war Mandant des Hauses, und auf der Agenda stand der Plan, seine Vermögensbildung zu optimieren. Nicht geplant war, dass sie sich auf raffinierte Weise umgarnen ließ und noch am selben Abend ein nicht unerheblicher Teil seines Salärs für ein fürstliches gemeinsames Dinner Verwendung fand. Zwei Tage später verabredeten sie sich zu einem Ausflug. Sie saß damals wie heute auf dem Beifahrersitz seines Autos, und er fuhr mit ihr auf die Plattform der ehemaligen Bohrinsel. Dort blickte sie hinaus auf die Meeresbucht, die Hände auf die Lehne einer der Bänke gestützt. Noch bevor sie sich das erste Mal küssten, fuhr er ihr unter ihren Rock und befingerte ihre Mitte. Sie zerfloss vor Geilheit und ließ ihn gewähren. Wären damals nicht die Handwerker angefahren gekommen, um ausgerechnet hier ihre Mittagspause zu überziehen, hätte sie sich an Ort und Stelle vögeln lassen. Er wäre ihr erster und einziger Mann gewesen, mit dem sie es getrieben hätte, noch bevor sie seine Lippen auf den ihren spürte. Drei Jahre lang traf sich Elisa in unregelmäßigen Abständen mit ihm. Er war der perfekte Liebhaber. Er war unabhängig, hatte seine eigenen vier Wände, war leidenschaftlich und befriedigte sie, brachte sie zum Lachen, war charmant und rückte ihr nicht zu sehr auf die Pelle. Er stellte keine Fragen, und Elisa hatte niemals das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Unterhaltungen mit ihm gestalteten sich geistreich, und er stellte keinerlei Ansprüche. Doch all diese Annehmlichkeiten formten Elisas Ambitionen. Sie vermochte es heute nicht mehr, den Zeitpunkt genauer zu bestimmen, doch eines Tages war ihr der perfekte Liebhaber nicht genug. Sie strebte nach der perfekten Beziehung, und die scheiterte an seiner Rastlosigkeit. Elisa schrieb ihm einen Brief. Das war vor einem Jahr. Ganz altmodisch auf schwerem, satiniertem Papier. Bogen um Bogen, die sie begann und dann zerknüllte, wanderten unter Tränen in den Papierkorb. Als sie schließlich fertig war, fanden sich ganze zwei Absätze auf dem Papier. Sie hörte und las danach nicht wieder von ihm – bis sie vor ein paar Tagen die Nachricht auf ihrem Schreibtisch gefunden hatte.
Jetzt sitzt sie wieder an seiner Seite. Es ist noch dasselbe Fahrzeug. Und es ist derselbe Raum, es ist dieselbe Zeit. Elisa wird sich zum ersten Mal bewusst, dass sie zurückgekehrt ist in die begehrliche, surreale Welt, aus der sie einst ausbrach, um anschließend wochenlang zu leiden. Sie ist zurückgekehrt in die Seifenblase, die sie einst zerplatzen ließ.
Durch die finstere und nebelige Nacht und durch menschenleere Straßen erreichen sie nach einer Viertelstunde den Zubringer zur Autobahn. Er wählt die westwärts führende Fahrtrichtung. Sie fragt nicht, wohin die Reise führen wird. Und auch er begründet die Wahl der eingeschlagenen Route mit keinem Wort. Zu den Klängen von J. J. Cale driftet der Wagen mit einer gemäßigten, den Sichtverhältnissen Rechnung tragender Geschwindigkeit über den Asphalt. »After midnight, we‘re gonna let it all hang out«.
*
Der kühle Seewind hat ihr zugesetzt. Abgeschlagen und müde lässt Maylène ein Bad einlaufen. Das Amouage-Duschöl, von dem sie aus einer schweren Glasflasche beimischt, trägt den Namen Dia. Es ist eines der wenigen Luxusgüter, die sich Maylène regelmäßig gönnt, um das Leben eine Nuance lebenswerter zu gestalten. Der kostbare Badezusatz wirft kleine, blumig riechende Bläschen von dem in die Wanne sprudelnden Heißwasser. Bald schon ist die Wasseroberfläche von einem dichten weißen Schaumteppich überzogen. Die Tür zum Bad verriegelt Maylène aus Gewohnheit. Es fällt ihr schwer, die Gewissheit zu akzeptieren, dass sie seit gut einem Jahr das Haus allein bewohnt und ihr Onkel nicht zurückkehren wird. Auf dem gemauerten und mit Marmormosaik gefliesten Waschtisch hat sie drei schlanke olivgrüne Kerzen entfacht. Sie schlüpft aus ihren Kleidern. Zuletzt streift sie ihren weißen Slip, der mit einer feinen elastischen Spitze besetzt ist, ab und lässt ihn über ihre Beine zu Boden sinken. Maylène hat ein Faible für altmodische aber gleichwohl verführerische Wäsche. Vorausgesetzt, diese bringt ihre Figur angemessen zur Geltung und erzielt eine in hohem Maße aufreizende Wirkung. Unter einem Vorwand hatte sie Antoine so lange bekniet, bis er schließlich entnervt ihrem Ansinnen nachgab und einen großen, messinggerahmten Wandspiegel installierte. Maylène wollte den Spiegel einzig, um Reiz und optische Ausstrahlung sorgfältig überprüfen zu können.
Dass das Badewasser ein paar Grad zu heiß ist, spürt Maylène, als sie in die Wanne steigt. Sie hockt sich trotzdem nieder, und das heiße Nass umschließt beißend ihren Po. Die angewinkelten Beine streckt sie nacheinander langsam im Wasser aus, bevor sie sich an den emaillierten Wannenrand zurücklehnt und auch ihr Oberkörper ins Badewasser eintaucht. Sie erschrickt, als der Wind durch das auf Spalt gestellte Fenster des kleinen Badezimmers weht und den hellblau und rot gestreiften Vorhang gespenstisch aufbläht wie ein gespanntes Segel. Mit den Händen erzeugt sie kleine Wellenbewegungen in der Wanne. So werden auch die noch aus dem Badeschaum ragenden, trockenen Hautpartien vom heißen Wasser benetzt.
Nach einer weiteren Minute verschmilzt ihr Leib mit dem heißen Bad, und Maylène greift ihr Weinglas vom Wannenrand. Sie trinkt mehrere kleine Schlucke des vortrefflichen Weines, einen reichen und kräftigen Château Monbousquet. Besonders gefällt ihr seine balsamische Note. Das Glas stellt sie zurück und tauscht es gegen einen rosafarbenen Einwegrasierer, den sie zuvor aus einer transparenten Plastikfolie befreit hat. Sie betastet den stoppeligen Bereich rund um ihre Scham und kommt schnell zu dem Entschluss, dass sich diese Körperregion weich und glatt deutlich besser anfühlt. Ebenso selbstdiszipliniert wie eitel ist sich Maylène des Abhilfeschaffens dieser Feststellung schuldig. Einen Liebhaber hatte sie schon seit Monaten nicht.
Sie hebt ihr Becken, setzt die Doppelklingen des Rasierers an und zieht sie gegen den Strich zunächst ein ums andere Mal über ihren Venushügel, dann über die Innenseite ihrer Schenkel. Sie spart keinen Quadratzentimeter ihres Intimbereiches aus. Jedes noch so feine Härchen wird sorgsam und akribisch entfernt. Das heiße Wasser hat die Stoppeln aufgeweicht, und die dünnen, scharfen Klingen gleiten geschmeidig über die Haut. Es ziept und pikt kein bisschen. Als sie abschließend ihr Ergebnis mit den Fingern abtastet und überprüft, ist sie mit ihrem Werk überaus zufrieden. Maylène nimmt das Badeöl, gibt eine walnussgroße Portion in die Hand, hebt abermals ihr Becken und verteilt die schäumende und wohlriechende Substanz rhythmisch und ausdauernd über ihren Unterleib. Als sich bald schon das duftende Öl mit ihrem Saft vermischt, hat Maylène die Augen längst geschlossen. Das eingespielte Duett aus Zeige- und Mittelfinger zupft und reibt an ihrer Klitoris. Ihr Puls erhöht die Schlagzahl kontinuierlich und erreicht seinen Zenit, als Maylène einen kleinen, spitzen Schrei ausstößt.
Für diesen Augenblick öffnet Filou die Augen und stellt die Ohren auf. Er liegt satt und dösend in seiner Hundehütte, einem geräumigen, von Antoine gezimmerten Verschlag, hinter dem Haus. Maylène hat den Hund nach der Rückkehr vom Strand mit Wasser und Trockenfutter versorgt. Nach dem Fressen hat sich Filou seiner Gewohnheit entsprechend mit dem Hinterteil in den Verschlag gelegt, während Brust und Kopf unter freiem Himmel dösen. Als Kind hatte sich Maylène einen eigenen Vierbeiner als Gefährten gewünscht. Ihre Eltern erfüllten ihr diesen Wunsch jedoch nicht. Weder tat dies ihr Vater, ein Deutsch-Franzose, der bei einem Tauchunfall das Leben ließ, noch bevor Maylène in die Pubertät kam, noch erlaubte es ihre Mutter, eine in der Provinz Yunnan geborene und in Deutschland aufgewachsene Chinesin. Bis zum Beginn ihres Studiums hatte Maylène bei ihr in der Nähe von Berlin gelebt. Im Jahr 2009 nahm ihre Mutter eine Stelle im Goethe-Institut in Taipeh an. Seither hatten sie sich nur sehr selten gesehen. Der Abstand zwischen den Telefonaten und den E-Mails, die sie sich anfangs regelmäßig schrieben, wurde Monat um Monat größer. Die Beziehung zu ihrer Mutter war zu sehr solidarisch und zu wenig herzlich. Über die Jahre hatte Maylène, letztlich vergebens, gehofft, die Zeit würde diesen Mangel an Herzlichkeit einholen. Antoine hingegen gelang dieses Kunststück binnen eines Sommers.