Читать книгу Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein - Страница 9
ОглавлениеKapitel 1
Aus dem Fenster im ersten Stock des herrschaftlichen Anwesens an der Rue des Chênes ziehen grauweiße Rauchschwaden hinaus in die milde Frühjahrsnacht. Der Himmel ist sternenklar. Am Schlafzimmerfenster steht ein Mann und raucht. Er ist groß und von kräftiger Statur. Sein schütteres Haar ist sorgsam nach hinten gekämmt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißtropfen gebildet. Ihm ist heiß, seine Haut glüht. Deshalb hat er das Fenster weit aufgerissen, nicht der Zigarette wegen. Soll seine Frau doch meckern.
Die Plumeaus des Ehebettes sind nach hinten geschlagen. Vier Kissen liegen aufgereiht nebeneinander.
Der Mann trägt einen hellblau gestreiften Pyjama aus feinstem Baumwollsatin. Die Paspeln am Reverskragen und an den Armabschlüssen bilden einen stilvollen Kontrast. Auf der Fensterbank liegt ein ledernes Zigarettenetui. Mit der freien Hand fängt der Mann eine Motte, die, angelockt vom Licht der Pendelleuchte unter der hohen Zimmerdecke, in den Raum flattern will. Er zerquetscht den Nachtfalter zwischen den Fingern und reibt die klebrigen Reste auf die Fensterbank. Dabei stößt er gegen das Zigarettenetui, das auf den Holzfußboden fällt. Im gleichen Augenblick ertönt das Mitternachtsläuten der nicht weit entfernten Kirche und kündigt einen neuen Tag an – den 04. Mai.
Im fahlen Licht betrachtet der Mann seine verschmierten Finger und riecht daran. Er rümpft die Nase. Sein Blick fällt auf das Zigarettenetui. Er hebt es auf. Seine Frau hat es ihm zu irgendeinem Weihnachtsfest geschenkt. Es graust ihn, nur daran zu denken. Er hasst Weihnachten. Das süßliche Gesülze vom Jesuskindlein in der Krippe geht ihm ebenso auf die Nerven wie das ewige Gedudel von Weihnachtsmusik. Egal wie die Stimmung ist, man muss immer auf Friede und Freude machen. Weihnachten ist was für Schwächlinge. Er schnipst die Zigarette hinaus in den Garten. Der Stummel fällt in Richtung der umgestoßenen Gartenmöbel und der in tausend Teile zerbrochenen Skulpturen auf der Terrasse. Die Skulpturen waren stumme Zeugen seines letzten Wutanfalls, bevor er sie eine nach der anderen zertrümmerte. Seine Gedanken vermischen sich mit dem Gebimmel der Kirchenglocken. Abreißen sollte man das alte Gemäuer. Er sieht seine Frau vor sich, wie sie ihre Hände schützend vors Gesicht hält, als er zulangt. Er hört ihr Geschrei, das verstummt, als er ein weiteres Mal zuschlägt. Diesmal mit der geballten Faust. Sie will es ja nicht anders.
Was bildet sie sich auch ein, ihn auf dem langweiligen Fest bloßzustellen? Er sieht das hinabtropfende Blut ihrer aufgeplatzten Lippe und wie es Flecken auf dem marmorierten Boden hinterlässt. Irgendwann fällt sie um. Sie verschmiert mit ihrem nuttigen Kleid das Blut auf dem Boden, als er ihr den ersten Tritt verpasst und sich ihr Körper krümmt.
Er sieht den hilflosen Ausdruck ihrer Augen, wie schon so oft, als das Gewebe um ihre Augenhöhlen rot und blau anschwillt.
Er erinnert sich an das unterdrückte Wimmern seiner beiden Jungs, die durch das Küchenfenster lauern, und wie sie die Treppe hinaufschleichen, um sich in ihren Zimmern zu verstecken. Sollen sie ruhig sehen, dass der Mann der Herr im Hause ist. Das wird sie nur härter machen. Seine bornierte Frau hat die Burschen schon viel zu lang verwöhnt und verweichlichen lassen. Allein dafür sollte er ihr eine weitere Tracht Prügel verpassen. Er ballt die Finger zur Faust, bevor er sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn wischt. Seinen Körper durchzieht wieder eine hitzige Welle, und ihm bricht der Schweiß nun auch auf dem Oberkörper und an den Händen aus.
Er betrachtet seinen nagelneuen Maßanzug, der zerknüllt neben der kunstvoll gearbeiteten Kommode auf dem Boden liegt. Das Möbelstück würde er am liebsten aus dem Fenster werfen, doch seine Frau hält daran fest. Es sei ein Erbstück. Das Jackett hat er während des Abendessens im Lokal der deutschen Schlampe mit fettiger Soße bekleckert. Schade um das gute Stück. Sie sind erst gut dreißig Minuten zurück, und seitdem steckt seine Frau im Bad und zupft und macht an sich rum. Sie soll sich bloß nicht so anstellen. Er und blickt hinüber zur Tür des Bades, die nur einen Spaltbreit geöffnet ist. Gerade weit genug, um zu erkennen, wie seine Gattin vor dem großen ovalen Spiegel steht, der über dem Waschtisch prangt. Er hört, wie das Wasser unentwegt läuft und ärgert sich über diese Angewohnheit jedes Mal aufs Neue. Hätte sie sich nicht mit der Schlampe eingelassen und ihn blamiert, müsste sie nun nicht ihre Blessuren pflegen und ewig das Bad blockieren. Ihm kommen die Leute aus dem Restaurant in den Sinn und wie alle nach seiner Frau gafften, die wieder eine ihrer bescheuerten Sonnenbrillen trug. Sollen sie sich doch um ihren Scheiß kümmern. Aber das Essen war verdammt gut. Kochen kann das Flittchen, das muss man ihr lassen. Der Schmortopf war besser als der, den seine Mutter zubereitet. Das will schon was heißen. Besonders gut waren die Cannéles mit Vanillegeschmack. Eigentlich steht er sonst nicht auf diesen Süßkram. Er hatte geplant, seine Frau nach dem Essen noch ordentlich ranzunehmen. Insbesondere jetzt beschleicht ihn die Geilheit, wo sie einen Fuß auf den Waschtisch gestellt hat, und ihr hübscher Arsch richtig zur Geltung kommt. Er will sich gerade in den Schritt greifen, da schießt ihm erneut die Hitze durch jede Faser. Er rätselt, ob er krank wird, oder ob mit dem Essen etwas nicht in Ordnung war. In diesem Zustand wird er garantiert keinen hochkriegen. Er bekommt Durst und verlässt das Schlafzimmer, um hinunter in die Küche zu gehen. Im Flur fällt ihm auf, dass an der rechten der beiden Kinderzimmertüren neuerdings ein Aufkleber heftet. Sein Sichtfeld ist eingetrübt. Es will ihm nicht gelingen, das Comicmotiv auf dem Aufkleber zu erkennen.
Und so sieht der Mann auch nicht den seltsamen, blau anmutenden Glanz, den seine Pupillen versprühen, als er am großen Wandspiegel vorbeischlurft. Am Treppengeländer muss er sich abstützen, weil sein linkes Bein lahmt. Seine Hände zittern. Mühevoll steigt er die Edelholztreppe hinab. Als er nur noch vier Stufen bis nach unten braucht, wird die Hitze unerträglich und zerfetzt ihm jede Faser im Leib. Er will schreien und reißt den Mund auf. Es gelingt ihm nicht, einen einzigen Ton herauszubringen. Er verliert das Bewusstsein und stürzt mit dumpfem Gepolter die restlichen Stufen hinab. Regungslos liegt er im Foyer auf der kleinen, handgeknüpften Matte vor dem Treppenaufgang. Durch die offenen Türen dringt das leise Rauschen des laufenden Wassers im Bad.