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Evakuierte, Ausgebombte und Flüchtlinge

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Die Nachkriegsjahre zählen zu den schwersten meines Lebens. Zugestanden, aus unserem Familienverband war niemand im Krieg gefallen bis auf den ältesten Sohn von Papas Schwester Gretel. Wir sind, alles in allem, glimpflich davongekommen. Schon das allein machte uns immer wieder dankbar.

Auch mussten wir im bäuerlich-ländlichen Umfeld nie wirklich hungern. Doch die allgemeinen Folgen des von Hitler und Genossen angezettelten und heraufbeschworenen Krieges bekamen wir alle zu spüren. Auf vielerlei Weise.

Für mich persönlich gehören die sechs Jahre im Internat – drei in Miltenberg, drei in Würzburg – und die gleichzeitig damit verbundenen sechs Gymnasialjahre auf staatlichen Gymnasien zu den trübsten meines Lebens: Wir hungerten und froren in den Wintermonaten. Und wir waren im Seminar unter der steten und strengen Kontrolle des Regens und der Präfekten. Wir wurden von den Lehrern nicht selten drangsaliert. Im Internat mussten wir rohen Lebertran essen, alle paar Tage einen Esslöffel voll! Dass Letzteres lebenswichtig für uns war, aus gesundheitlichen Gründen, begriffen wir damals noch nicht so recht. Auch paukten und lernten wir vieles auswendig, ob es Sinn machte oder nicht. Kurzum, wir wussten die mitunter gut gemeinten Regulierungen und Vorschriften nicht so recht einzuordnen. – Und wenn einer von uns während der Studierzeit Karl-May las oder Dumas Graf von Monte Christo und dabei erwischt wurde, dann folgte ein Donnerwetter.

Unsere Pauker, wie wir die Lehrer nannten, die mit »Herr Professor« angesprochen werden wollten, machten es uns im Unterricht nicht leicht. Sie hatten ja auch, im Vergleich zu heute, kaum ein Hilfsmittel. Mein Nachteil war zudem, dass ich als Außenseiter in die dritte Klasse kam und dass mir unendlich viel von dem Lehrstoff fehlte, den die anderen Klassenkameraden in den beiden Jahren davor sich hatten aneignen können. Meine einzige Vorbereitung auf die dritte Gymnasialklasse bestand in ein paar Monaten Privat-Unterricht in der lateinischen Sprache durch unseren Ortspfarrer Hans Spielmann, der es gut machte und zu Recht zu den besten Lateinern des Bistums zählte.

Heute bin ich trotz allem sehr dankbar für diese schweren Nachkriegsjahre; auch sie haben zu meiner Entwicklung und Reifung beigetragen. Und alle, die damals daran mitwirkten und beteiligt waren, verdienen ein großes, wenn auch spätes Lob und Dankeschön. Wie hätten sie in jenen Jahren auch anders handeln sollen!? Auch sie waren Kinder ihrer Zeit. – Vielleicht später, in einem anderen Zusammenhang, mehr über diese harten Jahre und wie wir sie als Jugendliche einschätzten. Jetzt schnell wieder zurück ins Dorf, gegen Kriegsende und in den Jahren kurz danach.

Gaurettersheim war überfüllt, wie alle Dörfer und Kleinstädte der Umgebung, sofern sie nicht zerstört worden waren. Überfüllt mit Evakuierten aus dem Westen: Aus Pirmasens in der Pfalz, aus dem Ruhrgebiet oder anderen Zentren der Schwerindustrie. Meistens waren es Mütter mit Kindern. Verteilt wurden sie vom Bürgermeister an die einzelnen Bauernhäuser. Das fing schon 1943 auf 1944 an. Da hieß es allenthalben: Zusammenrücken, einander beistehen und aushelfen. Brummend, sich empörend, schimpfend oder nicht, man wurde dazu gezwungen. Am besten waren jene dran, die einfach Ja sagten zu den gegebenen Umständen – auf beiden Seiten: Die Einzuquartierenden sowie jene, die ihre Räume zur Verfügung stellen mussten.

Auf Untermieter war man ja nirgends eingerichtet. Herde (und Öfen) gab es in den Bauernhäusern allenfalls in der Küche im Parterre bzw. in der guten Stube nebenan. Also mussten Notlösungen gefunden werden. Bislang unbeheizte Räume bekamen ein provisorisches Öfchen oder einen kleinen Herd. Die Kaminrohre leitete man durchs Fenster ins Freie.

Ab März 1945 wimmelte es im Gau zusätzlich von ausgebombten Würzburgern. Zu uns ins Haus kamen schon einen Tag nach dem schrecklichen Angriff zwei Buben, 12 und 14 Jahre alt: Franz und Willi Gehrold. Sie hatten nur das bei sich, was sie am Leibe trugen, und am Hals eine Schnur und ein Schildchen mit unserer Adresse. Letztere hatte ihnen ihr Vater mitgegeben; der hatte 1939 unseren Papa an der Westfront kennengelernt. Viel verband sie nicht, aber das genügte Vater Gehrold, um zu wissen, dass seine zwei ältesten Söhne bei uns gut aufgehoben wären. Seine (zweite) Frau und ihre fünf kleinen Kinder waren von ihm in den Odenwald geschickt worden, in die Heimat seiner Frau. Das Gehroldsche Haus in Würzburg war völlig abgebrannt; die Familie hatte sich rechtzeitig in einen bombensicheren Luftschutzkeller retten können.

Wenig später wurde uns über unseren Bürgermeister noch eine ganze Familie zugeteilt, ebenfalls ausgebombte Würzburger: Die Eltern und drei erwachsene Töchter. Sie erhielten zwei Zimmer im ersten Stock. Die Stapfs, so hießen sie, waren nette Leute. Der alte Herr war gelernter Schlosser; Leni, die älteste Tochter, war zwar verheiratet, aber ihr Mann befand sich in russischer Gefangenschaft. Daher schloss sie sich ihrer Familie an.

Insgesamt hatten wir unter unserem Dach neben den beiden Buben aus Würzburg, die mit uns Kindern lebten, noch Frau Folz mit ihrem Sohn Heinz aus Pirmasens und eben jetzt noch die fünfköpfige Familie Stapf. Dennoch ging alles schier lautlos über die Bühne. Man half einander, soweit möglich, und nahm Rücksicht aufeinander. Franz und Willi packten auf dem Hof und in der Landwirtschaft mit an, wie wir alle. Meister Stapf reparierte hier und dort etwas, auch in unserem eigenen Haushalt und auf dem Hof. Seine jüngste Tochter schenkte mir später eine alte Schreibmaschine (so schwer, dass ich, der gerade 12-jährige, sie kaum aufheben konnte) und brachte mir auch das Schreiben mit zehn Fingern bei.

So war es im ganzen Dorf: Niemand rief Halleluja, als die Evakuierten und Ausgebombten eintrafen und auf die Häuser verteilt wurden, aber man gewöhnte sich rasch aneinander. Und als später zahlreiche Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetengau dazukamen, wurden auch diese an die einheimischen Familien verteilt, jetzt schon vom neuen, von den Amerikanern eingesetzten Bürgermeister.

Mit den Ost-Flüchtlingen kam neues Leben ins Dorf; auch die eine oder andere neue Idee. Es waren begabte Männer und Frauen unter ihnen. Was wir im Dorf nie zuvor erlebt hatten: Da wurden winters plötzlich Theaterstückchen aufgeführt, mitunter auch selbstverfasste Sketche, die sich auf das Dorfleben bezogen. Es wurde viel gesungen, gelacht und musiziert. Ich erinnere mich noch gut an einen Herrn Kindermann, der es meisterhaft verstand, das Mamatschi (schenk mir ein Pferdchen, ein Pferdchen wär das Paradies) so rührend vorzutragen, dass vielen Frauen die Tränen kamen.

Noch etwas war plötzlich ganz anders geworden: Mit den Fremden waren auch protestantische Christen ins Dorf gekommen, und die einst 100-prozentig katholische Gemeinde stellte allmählich fest, dass diese Andersgläubigen auch Menschen waren; Menschen wie wir – mit guten und weniger guten Seiten. Das war der Beginn eines allmählichen, wenn auch sehr zähen Umdenkens, hin zur einer ökumenischen Gesamthaltung.

In Dankbarkeit und Freude

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