Читать книгу Der Aufstieg der Ultra-Läufer - Adharanand Finn - Страница 6
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ОглавлениеDer Oman Desert Marathon war mein erster Ultra-Marathon. Das Rennen verläuft knapp 165 km durch brennendheißen Wüstensand. Eigentlich wollte ich ja gar nicht daran teilnehmen. Die Idee kam auf, als mich ein Redakteur der Financial Times kontaktierte und fragte, ob ich einen Artikel darüber schreiben würde. Meine erste Antwort damals war ein klares „Nein“.
Wenn es ums Laufen geht, habe ich mich immer irgendwie als Puristen gesehen. Als einen Menschen, der gleich viel Bewunderung für jemanden empfindet, der für die Meile unter vier Minuten benötigt, wie für jemanden, der rund um die Welt läuft. Um rund um die Welt zu laufen, benötigt man Entschlossenheit, Verbissenheit, gute Vorausplanung und jede Menge Freizeit. Aber um schnell zu sein, wirklich schnell, dazu braucht es Können, Engagement und ein spezielles Talent, das über viele Jahre hinweg trainiert werden muss. Athleten wie Mo Farah, David Rudisha oder Eliud Kipchoge in voller Fahrt zu sehen, war reine Poesie – menschliche Anstrengung kombiniert mit unglaublicher Grazie, Balance und Kraft. Es war Laufen in seiner schönsten Form.
Ultra-Running hingegen war so, als drösche man so lange auf das Laufen ein, bis es fast tot war. Rucksäcke, Stöcke, Verpflegung, Stirnlampen – das alles machte es nur noch umständlicher. Es wurde zu etwas anderem. Bewundernswert und mutig, sicherlich. Verrückt und geisteskrank, möglicherweise. Aber mit Laufen hatte das nichts mehr zu tun.
Innerlich ärgerte es mich immer, wenn Leute, die mich aufs Laufen ansprachen, mehr von der Distanz, die ich gelaufen war, beeindruckt waren als von meiner Zeit. Für mich war die Länge der Strecke irrelevant, wenn man nicht wusste, wie schnell man gelaufen war. Meiner Meinung nach konnte so ziemlich jeder Jogger oder sogar Spaziergänger lange Distanzen zurücklegen, wenn er es nur wollte. Das war jetzt kein besonderer Verdienst.
Eines schönen Tages, ich holte mir gerade eine Tasse Kaffee im Londoner Büro, sprach mich ein Kollege, der wusste, dass ich gerne lief, auf das Thema an.
„Du läufst doch Triathlons, oder?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich.
„Oh. Ultra-Marathons?“
„Nein“, sagte ich. Er sah verwirrt drein.
„Also nur Marathon?“, sagte er.
Einen Marathon zu laufen war früher einmal eine ganz große Sache. Die Leute ließen sich leicht damit beeindrucken. Manchmal fragten sie sogar nach der Zeit, die man gelaufen war, und wenn diese unter drei Stunden lag, konnte man sehen, wie sie beeindruckt ihre Augenbrauen hochzogen. Aber diese Kaffeepausenmentalität, bei der man gerne den Kopf über die Verrücktheiten anderer schüttelt, bei der man dieses erstaunte „Verdammt, das ist ja komplett irre, na besser du als ich“ erwartet, sich jedoch nicht in irgendwelchen Details verlieren möchte, hat sich inzwischen an viel extremere Dinge gewöhnt. Marathons sind nur mehr kleine Fische. Es scheint, als wären wir im Zeitalter des „Es ist ja nur ein Marathon“ angekommen. Heute muss Laufen schon mit der protzigen Vorsilbe „Ultra“ daherkommen. Hundertsechzig Kilometer durch die Wüste? Wow. Das beeindruckt wirklich jeden.
Jeden außer mich, anscheinend. Immer wenn ich mir ein Video auf einer dieser Ultra-Laufseiten im Internet ansah und sah, wie die Läufer zum Teil nur mehr gingen, tat mir das Herz weh. Ich erinnere mich an einen Blog namens Das A bis Z des Ultra-Running und unter G war zu lesen: „Gehen: eine Art sich fortzubewegen, die selten Anerkennung findet, jedoch oft bei Ultra-Marathons zum Einsatz kommt. Um unser Gesicht einigermaßen zu wahren, nennen wir es ‚Powerhiking‘.“
In meiner Welt schneller 10.000-Meter-Läufe und dienstäglichen Laufbahnsessions mit meinem Leichtathletik-Club beeindruckten Ultra-Marathons – das heißt Rennen über der Standarddistanz von 42,195 km – nur Leute, die absolut keine Ahnung vom Laufsport hatten. Aber ich hatte eine Ahnung vom Laufen. Also sagte ich auch nein zu dem Oman-Job.
Es war dann allerdings Marietta, meine Frau, die mich dazu brachte, doch noch einmal darüber nachzudenken.
„Sag, zahlen die meisten Leute nicht einen Haufen Geld dafür, um an solchen Rennen überhaupt teilnehmen zu dürfen?“, meinte sie. „Und dich würden sie sogar dazu einladen, dort zu laufen. Ich dachte, du läufst so gerne?“
Sie hat recht. Eine Teilnahme an solch großen mehrtägigen Etappenrennen ist nicht billig. Dazu kommt auch noch die Ausrüstung. So ein Rennen kostet einiges an Geld und viel Zeit weg von zu Hause und der Arbeit. Warum also machen Leute so etwas? Sicherlich nicht nur, um damit ihre Arbeitskollegen in der Kaffeepause zu beeindrucken.
Es war zwar nicht meine Art von Rennen, doch je mehr ich darüber nachdachte, was alles damit zusammenhing, desto mehr wurde mir bewusst, dass quer durch die Wüste zu laufen ein unglaubliches Abenteuer wäre, schon allein der Erfahrung wegen. Draußen unter den Sternen zu schlafen, hundertfünfundsechzig Kilometer Wildnis aus eigener Kraft zu durchqueren. So gesehen hörte sich das ganze eigentlich sehr verlockend an, ja geradezu genial. Ich schob meinen inneren Lauffreak für einen Moment beiseite. Das wäre die Gelegenheit, eins mit der Natur zu werden, mit dem Planeten, und Zeit draußen in der Wildnis zu verbringen. Wer kann schon sagen, was da auf mich zukäme und welche Erfahrungen da draußen unter der gleißenden Sonne auf mich warteten. Vielleicht käme ich ja als neuer Mensch zurück. Und außerdem verlöre ich ja dabei wohl kaum Fitness für mein „richtiges“ Laufen. Nach meiner Rückkehr wäre ich in der Form meines Lebens. Win-win könnte man sagen. So rief ich also den Redakteur zurück.
„Ich weiß, das hört sich ziemlich krank an“, sagte er. „Das Ganze geht über sechs Tage, aber du kannst ja nach zwei oder drei Tagen aufhören, wenn du willst.“
Oh nein, ganz oder gar nicht war nun die Devise. Auf einmal war ich wie besessen von dieser Idee, immer weiter zog sie mich in ihren Bann. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, sich einer solchen Herausforderung zu stellen und sie irgendwie zu meistern. So schwer könnte das für einen richtigen Läufer wie mich doch nicht sein.
Es war ein Uhr morgens, als der Flug mit mir und etwa zehn weiteren Läufern an Bord – inklusive dem deutschen Paar Gudrun und Hansmartin, die ich bereits im Flugzeug kennengelernt hatte – in Muscat ankam. Eigentlich dachten wir, dass man uns bereits erwartete und direkt in unser Hotel brächte. Umso verärgerter war ich dann, als der Veranstalter, der uns am Flughafen empfing, meinte, dass wir hier auf den Bus warten müssten, dieser aber erst um neun Uhr käme.
„Wartet einfach da in dem Café“, bemerkte er flapsig, ganz so, als ob ein Kind ihm eine lästige Frage gestellt hätte. Sein Englisch war auch nicht gerade das Beste und ich fragte mich, ob ich ihn nicht vielleicht missverstanden hätte.
„Im Café warten? Für acht Stunden?“, fragte ich nach, wobei ich meine Stimme wohl etwas zu viel erhob. Das konnte wohl nicht sein Ernst sein. Vor uns lag ein 165-Kilometer-Marathon durch die Wüste. Wir brauchten unsere Erholung. Doch er zuckte nur mit den Achseln, zog seine Kappe tiefer ins Gesicht und gab vor, mich nicht zu verstehen.
Ich war knapp davor, ihm zu sagen, dass ich von der Financial Times sei und er mit uns nicht so umgehen könne. Um mir etwas moralische Unterstützung zu sichern, drehte ich mich jedoch erst zu meinen Mitstreitern um. Aber da war niemand mehr. Nur noch die leere Ankunftshalle. Wo waren die alle hin?
Als ich schmollend davontrabte, bemerkte ich, dass, während ich die ganze Zeit auf Rumpelstilzchen gemacht und lautstark protestiert hatte, die anderen Läufer – nachdem sie von der Verzögerung gehört hatten – ruhig ihre Schlafmatten und Schlafsäcke hervorgeholt und sich in der Ankunftshalle einen Platz zum Schlafen gesucht hatten. Einen Moment lang stand ich verwirrt da. Wussten die etwas, das ich nicht wusste? Oder war das so ein Ding bei Ultra-Läufern, alles einfach so hinzunehmen?
Schlussendlich kam der Bus dann drei Stunden früher als erwartet und brachte uns alle in eine komfortable Hoteloase in einem engen Tal, umgeben von berghohen Dünen. Die Reaktion der anderen Läufer auf diesen kleinen Vorfall war jedoch etwas, an das ich die nächsten Jahre immer wieder denken sollte, als ich ein verrücktes Ultra-Rennen nach dem anderen bestritt.
Die Dünen rund um die Hoteloase waren so hoch, dass man darauf mit Snowboards hätte fahren können, aber die Einheimischen bevorzugten es, sie mit ihren auf Hochglanz polierten Geländefahrzeugen immer wieder auf und ab zu fahren. Im Gegensatz dazu verwendeten wir Läufer da natürlich unsere Beine, als wir alle nacheinander aus den Zimmern kamen und zum Grat der Düne hochstiegen, um den Sonnenuntergang zu genießen. So standen wir also da, in kleinen Gruppen, alle noch etwas scheu und zurückhaltend, da wir uns erst kennenlernen mussten. Über uns nur das weite und klare Firmament und der Wind, der warm über unsere Haut strich. Nach einiger Zeit begannen wir in der Dunkelheit die Düne lachend durch den Sand hinunterzustolpern.
Morgen wäre dies allerdings bitterer Ernst und zwar stundenlang durch die Tageshitze und mit unserer ganzen Ausrüstung für die sechs Tage auf dem Rücken.
Die Veranstalter hatten mir – via dem FT-Redakteur – das Rennen als einen „machbaren“ ersten Ultra-Marathon verkauft. Es wäre eine kürzere und einfachere Form des berüchtigten Marathon de Sables, sagte man mir. Der MdS war eines der bekanntesten Rennen der Welt, 251 Kilometer durch die Sahara. Das Rennen rühmt sich, das härteste der Welt zu sein, doch hatten mir schon einige Ultra-Läufer gesagt, dass dem bei weitem nicht so wäre. Aber einmal abgesehen von dieser sprachlichen Übertreibung war der MdS schon eine richtig ernste Angelegenheit. Das war definitiv nicht die Art von Rennen, die ich auf dem Radar hatte, also war ich recht erfreut zu hören, dass das Rennen im Oman die einfachere Option sei. „MdS-lite“, wie es jemand so schön formulierte. Ja gut, das Rennen ging durch die Wüste, aber die Veranstalter meinten, ich würde hier ja nicht auf lockerem Sand laufen, sondern auf hartem Boden. Und 165 Kilometer über sechs Tage, nun, das hörte sich jetzt auch nicht so schlimm an. Ähnlich einem Trainingslager im heißen Süden.
Als ich dann endlich an der Startline in einem kleinen Ort namens Bidiyah stand, fühlte ich mich recht entspannt. Es war ja eigentlich kein Rennen, sondern ein Abenteuer. Das erste Mal in meinem Läuferleben machte ich mir keine Gedanken über Geschwindigkeit. Schließlich war ich nur hier, um diese Erfahrung zu genießen. Das nahm mir den ganzen Druck. Ohne auf die Pace zu achten, konnte ich einfach nur dahinjoggen und ein Teil in mir schien auch fest daran zu glauben, dass ich das ewig durchhalten könnte. Einmal ehrlich, wie hart könnte es schon sein, seine eigenen Füße immer in Bewegung zu halten? Einzig die Hitze bereitete mir ein wenig Sorgen und irgendwo beunruhigte mich auch die Rennvorschrift, eine Vakuumpumpe gegen Schlangengift, ein Messer und einen Signalspiegel mit im Gepäck tragen zu müssen. Während ich es in den Wochen vor dem Rennen genossen hatte, allen zu erzählen, dass ich durch die Wüste laufen würde, als wäre ich ein Actionheld, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich vielleicht doch in eine richtig gefährliche Situation geraten könnte. Wäre ich in der Lage, damit überhaupt umzugehen?
Die Einwohner des Dorfes hatten sich inzwischen am Hauptplatz versammelt, um uns zu verabschieden. Sie führten einen zeremoniellen Tanz vor und überall waren Männer in langen weißen Gewändern zu sehen, mit wertvoll verzierten Krummdolchen und iPhones, die in ihren Gürteln steckten.
Mitten in diesem Trubel stand eine Frau aus Schweden, Elisabet Barnes. Ihr Blick war nicht auf die Tänzer gerichtet, sondern ernst und fokussiert auf die vor ihr liegende Aufgabe. Am Abend zuvor hatte ich mich in der Hoteloase ein wenig mit Elisabet angefreundet. Sie lebte in England und hatte erst vor kurzem den Marathon de Sables gewonnen gehabt. Während wir auf Kissen saßen und Couscous mit gegrillten Paprikas von den niedrigen Tischen aßen, bat ich sie um ein paar hilfreiche Ratschläge.
„Hast du deine Gamaschen an deine Schuhe angenäht oder angeklebt?“, fragte sie mich. Elisabet war die Besitzerin eines auf Ultra-Running spezialisierten Sportgeschäfts in Essex. Sie kannte sich also aus. Meine Laufgamaschen ließen sich mit Schlaufen an meinen Schuhen befestigen. War das etwa nicht genug? Ich hatte sie so gekauft. Ich dachte, das wäre echt raffiniert.
„Aha“, meinte sie und tat ihr Bestes, nicht besorgt dreinzusehen. „Naja, das wird schon passen. Bist du schon oft auf Sand gelaufen?“
Äh, … eigentlich noch nie. Aber man sagte mir, dass das Rennen auf hartem Boden verläuft.
Sie lächelte als ob sie sich da nicht so sicher wäre. „Kann schon sein“, meinte sie. „Wie schwer ist dein Rucksack?“
Ich hatte keine Ahnung. Sie atmete einmal tief durch. Ich erzählte ihr, dass mir einer der Veranstalter Angst machen wollte, indem er mir gesagt hätte, ich solle keine Bilder meiner Familie mitnehmen. „An irgendeinem Punkt vergräbst du sie sowieso im Sand“, sagte er zu mir. „Die Leute stutzen sogar die Borsten ihrer Zahnbürste, um Gewicht zu sparen.“ Elisabet sagte kein Wort und aß weiter.
„Das sind aber alles nur Märchen, oder?“, bohrte ich weiter. „Lächerlich. Nicht wahr?“ Doch ihrem Blick entnahm ich, dass sie meine Meinung nicht unbedingt teilte. Und plötzlich fühlte ich mich irgendwie hilflos.
„Natürlich muss man das nicht tun“, antwortete sie. „Es geht mehr darum, die richtige mentale Einstellung zu finden, zu wissen, dass man alles Menschenmögliche getan hat, um Gewicht einzusparen. Es hilft einfach, dich mental bereit zu fühlen.“
Um es also kurz zusammenzufassen: Ich hatte nie auf Sand trainiert, meine Laufgamaschen waren nutzlos und mein Rucksack wahrscheinlich zu schwer. Und die Borsten meiner Zahnbürste hatte ich auch nicht gestutzt. Aber jetzt ganz ehrlich, wie hart konnte es schon werden. Gudrun und Hansmartin waren in ihren Sechzigern und dann gab es da noch eine blinde Französin Ende 50. Solange ich nur meine Pace kontrollierte, einfach joggte und vor mich hin trabte, sollte alles gut sein.
Und damit trotteten wir aus Bidiyah hinaus, vorbei an winkenden Kindern und den letzten Bäumen, die wir während der nächsten sechs Tage zu Gesicht bekommen sollten. Ich war vorsichtig genug, um es langsam anzugehen, irgendwo Mitten im Feld, zwischen auf und ab schaukelnden Rucksäcken. Laufen konnte man das kaum nennen. Ich beobachtete meinen Schatten, das Kissen, das ich aus dem Flugzeug mitgehen hatte lassen, war oben auf meinem Rucksack befestigt. Ein Geniestreich. Es wog so gut wie nichts, würde mir jedoch helfen besser zu schlafen. Ich mochte vielleicht nur mit Schlaufen befestigte Laufgamaschen haben, aber ich hatte ein Kissen.
Insgesamt waren wir nur ungefähr 75 Läufer am Start und das Feld begann sich schnell auseinanderzuziehen. Die erste Stunde führte unser Weg durch eine flache, sandige Ebene, bevor er nach der ersten Versorgungsstelle in die Sanddünen verschwand. Hier war der vom Wind zusammengetragene Sand tief, abschüssig und sehr locker. Schon darauf zu gehen war mühsam, geschweige denn zu laufen. Dies waren Dünen, wie man sie aus den Tim-und-Struppi-Heften kennt, aus ganz feinem Sand, der dir sofort in die Schuhe läuft, egal wie stramm deine Gamaschen sitzen. Und meine saßen gar nicht besonders stramm.
Zudem stieg auch die Temperatur immer weiter und näherte sich, nun als wir durch die Dünen liefen, 40 °C. Ich kämpfte mich weiter. Mit jedem meiner schweren Schritte sank ich tiefer ein und ich wurde langsamer und langsamer. Jeden Moment erwartete ich, dass die erfahrenen Läufer gleich an mir vorbeikämen, doch niemand tauchte auf. Die hatten wohl alle die gleichen Schwierigkeiten.
Nach einigen Stunden, in denen wir uns nur dahingeschleppt und vor uns her geflucht hatten, rollten wir den letzten langen Dünenhang hinunter auf den finalen und flachen Teil der Strecke. Dieser erste Tag war weitaus härter, als ich erwartet hätte.
An diesem Nachmittag, als ich in einem der berberartigen Zelte im Camp saß, redete ich mir ein, dass uns die Organisatoren am ersten Tag durch die Dünen gehetzt hatten, um uns eine Kostprobe davon zu geben, wie es sein könnte, um das Rennen gleich einmal mit einem Knaller zu beginnen, dass aber das restliche Rennen – wie anfangs versprochen – größtenteils über festgestampften Boden verlaufen würde und sich an der einen oder anderen Stelle durch die Dünen zieht.
Das müssen sich wohl auch die anderen gedacht haben, da gegen vier Uhr nachmittags plötzlich ein Aufschrei durch das Lager ging. Was war los? Die Leute kamen aus ihren Zelten, deuteten und schüttelten die Köpfe. „Das kann doch nur ein Witz sein“, sagte jemand. „Das geht doch nicht“, ein anderer.
Ganz oben auf der Düne, gegenüber des Lagers, war die erste Wegmarkierung gesetzt. Wir würden also den zweiten Tag damit beginnen, dorthin nach oben zu laufen. Das würde die Sache nicht einfacher machen.
Und so ging es weiter. Jeden Tag war ich mir sicher, dass wir uns auf der nächsten Etappe etwas erholen könnten, doch jeder Tag war härter als der davor. Der endlose Sand, die Hitze, die jedes bisschen Leben aus mir herausquetschte. Doch es gab auch Momente, die mir Energie gaben, mich motivierten. Am vierten Renntag stellte ich fest, dass ich unter den Top 20 lag und entschied, in einem plötzlichen Anfall von Wettkampfdenken, diese Etappe ohne zu gehen zu absolvieren. Das klappte auch beinahe. An Stellen, wo der Sand tiefer wurde, versuchte ich breitbeinig mit kleinen Schritten hochzukommen. Das war zwar langsam, aber einfacher und noch immer schneller als gehen. Vor allem da ich weniger tief einsank. Ich passte mich einfach an die Dünen an. Langsam hatte ich den Dreh raus. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen.
Am vierten Tag kam ich mit zum Jubel geballten Fäusten ins Ziel und setzte mich zu den schnellsten Läufern, wo ich auf die anderen wartete, die ihre Tortur erst nach mir bewältigt hatten. Das Gute daran schneller zu sein war, dass du weniger Zeit im Würgegriff der sengenden Hitze verbringen musstest. So gesehen war es sogar einfacher, schneller zu laufen. Am nächsten Tag sagten uns die Organisatoren, dass die Strecke nun flacher und der Sand fester sein würde. Diesmal glaubte ich ihnen wirklich. Ich konnte es mir sogar in meinem Kopf richtig vorstellen: ein fester Weg bis ins Ziel. Das würde ich locker bewältigen.
Es war Tag fünf und die längste Etappe des Rennens stand auf dem Programm – diesmal über die normale Marathondistanz und größtenteils während der Nacht. Die Top 20 Läufer würden zwei Stunden nach dem Rest des Feldes starten. Also fanden wir uns alle am Nachmittag im Camp zusammen, wo sie die Namen der Top 20 Läufer verlautbarten. Auch mein Name war darunter, Platz 17. Du bist wirklich ein harter Kerl Finn. Legt euch besser nicht mit mir an. Als wir wieder in unsere Zelte gingen, bemühte ich mich, nicht zu selbstzufrieden dreinzusehen. Einige der erfahrenen Ultra-Läufer sprachen bereits darüber, wie hart dieses Rennen sei. Ich war aber noch immer gut dabei, und das, obwohl ich nur halb so gut vorbereitet war.
Viele Läufer nehmen an diesen Rennen auch teilweise aus Kameradschaft mit den anderen Läufern teil. Wenn man eine Woche lang zusammen durch die Wüste läuft, verbindet das einfach. Unsere Gruppe in Zelt 2, wie wir genannt wurden, bestand vorwiegend aus Italienern – unter anderem auch der Mutter eines Spielers aus der Premier League – sowie einem Biotechniker aus Belgien, einer quirligen Dame aus Südafrika und einem weiteren Briten, namens Rob, der in der Armee diente.
Einige der anderen in Zelt 2 waren ebenso unter den Top 20, doch leider nicht Dino, mein Freund. Er schien trotzdem guter Dinge zu sein. Ihm war die Platzierung egal, er war hier für die Erfahrung, zu plaudern und Fotos zu schießen. Oft hielt er nachmittags Hof in unserem Zelt, wenn wir uns ausruhten, und erzählte uns, wo er schon überall war – in über 200 Ländern, sagte er dann und begann sie aufzuzählen – meist bei Ultra-Rennen. Er erzählte Geschichten über Probleme mit Banditen in Mexiko, gefährliche Begegnungen mit Krokodilen in Botswana, Stürze in Gletscherspalten in Island. Er erzählte sie alle mit großer Begeisterung, viel Humor und ausladenden Gesten.
Monate später sandte mir Dino einen Clip aus einem Interview, das er dem italienischen Sky-Sports-Kanal über das Rennen im Oman gegeben hatte – der Gute wird immer von jemandem interviewt. In diesem Interview spricht er darüber, dass er sich das Zelt mit der Mutter eines Liverpool-Spielers aus Italien und einem Engländer aus Liverpool geteilt hatte. Damit war ich gemeint. Ich stamme zwar nicht aus Liverpool, aber ich verbrachte dort drei Jahre während meines Studiums und ich mochte das Team. Wie dem auch sei, er erzählte, wie wir die langen Nachmittage damit verbrachten, uns über Liverpools Fußballlegenden zu unterhalten, die großen Spiele und über die Hymne Liverpools – You’ll Never Walk Alone – welche von allen Fans am Spieltag gesungen wird.
Kurz darauf spricht er darüber, wie er sich während einer Etappe plötzlich ganz alleine und erschöpft unter der sengenden Sonne wiederfand. Er hatte begonnen zu gehen und summte dieses Lied leise vor sich her. Dabei verlor er sich in seiner eigenen Welt, so dass er gar nicht bemerkte, wie ich zu ihm aufschloss. Als ich hörte, was er da vor sich hin summte, begann ich miteinzustimmen. Da blickte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht durch seine spiegelnden Sonnenbrillen zu mir herüber und wir gingen zusammen weiter, während wir wie zwei glückselige Fußballfans You’ll Never Walk Alone aus voller Kehle sangen.
„Wissen Sie“, sagte er zu dem Reporter, „wenn du an verrückte Orte reist, triffst du verrückte Leute.“ Ich weiß nicht, wen genau er damit gemeint hatte, mich oder ihn oder vielleicht uns beide, aber mir gefiel dieser Satz. Ultra-Marathons und die Orte, an die es einen dadurch verschlug, waren wirklich verrückt und langsam fing ich an zu begreifen, dass dieser Sport einen ganz bestimmten Typ Mensch ansprach. Nicht ganz klar im Kopf, vielleicht, aber auch offen, freundlich und warmherzig. Zumindest ist es das, was Dino sagte.
Um etwa drei Uhr nachmittags gesellte ich mich zu den Top 20, der Crème de la Crème des Ultra-Laufs, um das Hauptfeld, mit Dino an der Spitze, zu verabschieden. Wir sahen ihnen dabei zu, als sie wie Ameisen über den Sand davonkrabbelten. Danach gingen wir wieder zurück in unsere Zelte, um uns auf unseren Start vorzubereiten.
Nachdem ich mich schon ein paar Tage durch meine Vorräte gefuttert hatte, war meine Tasche inzwischen um einiges leichter geworden und einfacher zu tragen. Ich werde nur so dahinfliegen, sagte ich zu mir. Vor allem auf dem härteren Boden.
Doch der härtere Untergrund kam nicht. Und je länger die Nacht andauerte, desto lockerer wurde die endlos scheinende Spur aus aufgewühltem Sand. Es kam mir vor, als versänke ich langsam im Boden und mir wurde klar, dass ich mich am Vortag übernommen hatte und meine Beine nun immer schwerer wurden. Einer der Rennärzte hatte mir meine überstrapazierte Leiste zwar getapt, doch nun begann sie richtig zu schmerzen. Auch die Achillessehne an beiden Füßen tat mit jedem Schritt mehr weh.
Von den 20 vordersten Läufern war ich bei weitem der Langsamste auf der Etappe. Wir starteten bei Sonnenuntergang – wie eine Jagdgesellschaft, die hinter den anderen her hetzt – doch bald war ich abgeschlagen und alleine. Ich verbrachte Stunden damit, im Scheinwerferlicht des Wagens zu laufen, der hinter dem allerletzten Läufer herfährt. Es war richtig ärgerlich, das Auto die ganze Zeit hinter mir zu hören, wie es die Stille der Wüste durchbrach, aber immerhin half es mir dabei, weiterzulaufen.
Irgendwann begann ich die ersten Läufer der langsameren Gruppe einzuholen, doch zu diesem Zeitpunkt bewegte ich mich bereits kaum schneller voran als sie. Wir unterhielten uns, als ich für eine Weile neben ihnen herging. Danach nahm ich wieder alle meine Kraft zusammen und lief ein Stück weiter.
Je später es wurde, desto mehr ging ich, als ich lief. Ich musste mir immer wieder von neuem überlegen, wie lange ich da draußen sein würde. Erst fünf Stunden. Dann sechs. Dann sieben. Würde ich es überhaupt bis ins Ziel schaffen? Ich blieb einige Male stehen, schaltete meine Kopflampe ab und betrachtete den funkelnden Sternenhimmel über mir. Hier war ich nun, ein winziges Wesen, ganz allein am Rande eines Planeten, der sich durch das All bewegte. Es schien lächerlich, mir über meine Position im Rennen Gedanken zu machen. Wen interessierte es denn schon, wie langsam ich lief? Niemanden, stellte ich erleichtert fest. Nicht einmal mich selbst. Ich könnte weiterhin nur gehen und den prachtvollen Anblick des sich immer weiter ausdehnenden Universums genießen.
Aber wenn ich mich nicht etwas zusammenreißen würde, wäre ich die ganze Nacht hier draußen. Also versuchte ich wieder weiter zu traben. Ich konnte das Wasser hören, wie es in meiner Trinkflasche hin und her schwappte, und verfiel schließlich in eine Art Trance, in der ich meine Schritte und meine Atmung dem Geräusch des Wassers anpasste, ähnlich dem Rhythmus eines Trommelschlags. Alles, was ich sah, war der Lichtkegel vor mir, ein Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels. Ich lief weiter ins Licht, weiter und weiter, platsch, platsch, platsch.
Irgendwann hatte ich es dann doch geschafft. Ein Marathon in sieben Stunden und 34 Minuten. Einige Monate zuvor war ich einen Straßenmarathon in unter drei Stunden gelaufen. Das war ein ordentlicher Rückschlag. Mein Rennen, als Wettkämpfer, als Top 20 Mann, war vorbei. Ich war in ein dunkles Loch gefallen, doch ich hatte überlebt. Ich war im Ziel. Und das war alles was zählte zu dem Zeitpunkt. Bis zum nächsten Morgen. Inzwischen war es ein Uhr nachts. Der Start der nächsten Etappe, die letzte des Rennens, war nur mehr acht Stunden entfernt. Ich brauchte jetzt meinen Schlaf.
Ich humpelte durch das stille Lager. In dieser Nacht war ich die letzte Person zurück in Zelt 2. Mein einziger Wunsch war es, nur mehr in meinen Schlafsack hineinzukriechen, doch ich konnte mich kaum bücken und meine Schuhe ausziehen. So stand ich also da und starrte hinein in das dunkle Zelt voll mit schlafenden Körpern und kam mir vor wie ein laufender Zombie. Obwohl sie schon in ihre Schlafsäcke eingehüllt im Bett lagen, bemerkten mich Rob und Dino und standen auf, um mir zu helfen. Rob mixte ein Getränk zusammen, das mich wieder auf die Beine bringen sollte, während Dino mir meine Schuhbänder aufschnürte. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Auch sie hatten sich durch die Nacht gequält. Es brauchte auch keine Worte, wir hatten alle das Gleiche durchgemacht. Die Qualen der vergangenen Etappe waren an unseren Gesichtern abzulesen.
Rob hatte mir ein T-Shirt geliehen – das Meinige war noch komplett durchgeschwitzt – und ich wollte es mir gerade etwas bequemer machen, als wir einen markdurchdringenden Schrei hörten. Leute begannen zu schreien, größtenteils auf Italienisch, und Taschenlampen blitzten im ganzen Lager auf. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. So lag ich also da in meinem Schlafsack, noch immer mitgenommen von meinem Lauf, und betete, dass alles in Ordnung wäre.
Nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass sich ein Unglücksrabe, der sich zehn Stunden durch den Sand ins Ziel gequält hatte, auf einen Skorpion gesetzt hatte, nachdem er endlich in seinem Zelt angekommen war. Ich weiß nicht, ob ich mit so etwas fertig geworden wäre.
Die Ärzte waren glücklicherweise gleich zur Stelle, um ihn zu behandeln, und nach etwas Aufregung und Leuten, die im Mondlicht hin und herliefen, und irgendwo ein Lastwagen startete, war er versorgt und verbrachte die restliche Nacht im Erste-Hilfe-Zelt. Zu meinem Erstaunen stand er bereits ein paar Stunden später bei Sonnenaufgang mit dem Rest von uns wieder an der Startlinie.
Ich befand mich am Ende des Starterfelds, die Sonne schien bereits hell vom Himmel. Wie heißt es bei Shakespeare: „Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!“ Doch ich war leer. Ein holländischer Läufer sagte mir am Ende des zweiten Tages, nachdem er aufgegeben hatte zu laufen und sich nur mehr gehend fortbewegte, dass „das Feuer erloschen war“. Sein Wunsch ein richtiges Rennen zu bestreiten, so schnell wie möglich das Ziel zu erreichen, war einfach gestorben. Ohne triftigen Grund weiter da draußen zu sein, ein Feuer in sich zu tragen, das einem hilft, sich weiter zu pushen, war es nur zu einfach, den Willen weiterzumachen zu verlieren. Nun wusste auch ich, was er damit gemeint hatte. Mein Feuer war ebenfalls erloschen. Nach weniger als 20 Schritten auf der letzten Etappe entschied ich, dass ich nicht mehr laufen konnte. Ich bewegte mich bereits nur mehr gehend fort. Mein Energiepegel war auf null. Meine Beine waren kaputt, meine zusammengeflickte Leiste schmerzte bei jedem Schritt. Und es lagen noch etwa 22,5 Kilometer lockerer Sand vor mir bis ins Ziel.
Es war der längste Gewaltmarsch meines Lebens. Jeder Schritt, auch wenn ich langsam ging, war eine Qual. Die Sonne stand hoch und brannte wie ein Hochofen herab. Immer wieder hielt ich an und setzte mich hin. Weswegen sollte ich mich denn beeilen, für mich war der Wettbewerb sowieso schon gelaufen. Doch das Ziel winkte mir zu. Das Meer. Unser Ziel lag am Meer. Ich stellte mir vor, wie ich fröhlich in den Fluten herumplantschte.
Irgendwo entlang dieser trostlosen Straße fanden mich dann auch Gudrun und Hansmartin. Und retteten mich.
Zurück im Lager, nachdem ich mich im Meer abgekühlt hatte, war die Atmosphäre eine andere. Die Leute waren glücklich, entspannt. Die Angespanntheit der vergangenen Tage, die sonst nach den Etappen herrschte, war wie weggeblasen. Das Rennen war gelaufen. Als wir da lagen, in unseren Schlafsäcken, und hinaus auf das Meer blickten, begannen wir wieder an Zuhause zu denken, an unsere Jobs, unser Leben in der Stadt, in Häusern. An das Leben jenseits der sengenden, unwirtlichen und alles verschlingenden Wüste. Täuschte ich mich oder schlich sich da gerade ein wenig Traurigkeit in die Freude und Erleichterung, das Rennen endlich beendet zu haben, mit ein?
Es stellte sich heraus, dass dieses Rennen hart war für einen ersten Ultra. Viele der Läufer waren bereits auch den Marathon des Sables gelaufen. Und viele von ihnen meinten, dass das Rennen hier mit seinem endlosen, lockeren Sand sogar härter gewesen wäre.
„Dagegen ist der Marathon des Sables geradezu ein Wellness Camp“, meinte Gudrun, die nun bereits beide Rennen bestritten hatte.
„Gegen Ende war das wie in den Alpen“, sagte Elisabet, die schwedische Läuferin. „Nur dass die Berge hier aus Sand bestehen.“ Wie sich herausstellte, hatte sie jede Etappe dieses Rennens für sich entscheiden können und durfte nun auch den Oman Desert Marathon in ihre stetig wachsende Siegesliste eintragen. Nachdem ich so viel zu kämpfen hatte bei diesem Rennen, erschien mir die Idee, bei solchen Rennen um den Sieg mitzulaufen, als eine komplett andere Welt. Es war eine elitäre Gruppe von vielleicht fünf Männern und Frauen, die sich jeden Tag auf den Weg machten, mit dem Gedanken, das Rennen gewinnen zu können, und bereit waren, alles dafür zu geben, sich Gedanken über ihre Konkurrenz zu machen und taktische Schachzüge zu planen. Der Rest von uns versuchte eigentlich nur, den Willen, das Rennen zu beenden, am Leben zu erhalten.
Zu Hause in England angekommen, musste ich immer wieder an den Reiz des Ultra-Marathons denken. Es war diese Abenteuerromantik, die mich anfangs so in ihren Bann gezogen hatte, die Wüste zu Fuß zu durchqueren. Aber es gibt viel einfachere Wege, die Pracht und Schönheit dieser Welt zu erleben. Auf dem Rücken von Kamelen zum Beispiel, oder Wanderungen. Das wäre doch genauso abenteuerlich, nur eben ohne die extremen Strapazen, dem andauernden Fluchen und stetigem Kampf. Und doch scheint es, als ob sich alle – inklusive mir – trotz all der Schmerzen, speziell während der Nachtetappe, nach dem Rennen glücklich und zufrieden fühlten. Ein stiller Frieden lag am Tag nach der letzten Etappe über dem Lager. Hatten wir plötzlich alle Schmerzen und Qualen vergessen? Oder war dieses Leiden Teil unseres Glücklichseins?
Eines Nachmittags während des Rennens sprach einer der holländischen Läufer über etwas, das der berühmte Ultra-Läufer und Autor Dean Karnazes einmal gesagt hatte, nämlich, dass die Menschen Komfort oft mit glücklich sein verwechselten. „Glücklich sein muss man sich verdienen“, sagte der Holländer mit Nachdruck. Ich saß da und hörte zu, während mein Blick durch das Lager schweifte und ich dachte an all die Anstrengungen, die nötig waren, dieses Rennen zu organisieren: das Camp jede Nacht an einem anderen Ort wieder aufzubauen, das kleine Vermögen, das jeder Läufer bereit war auszugeben, um hier mitzulaufen, bis hierher ans Ende der Welt zu fliegen, jeden Tag stundenlang durch die glühende Hitze über Sand zu laufen. Alles nur, damit wir das Gefühl haben, dass wir uns unser Glücklichsein verdient hätten?
Einmal kamen Gudrun mitten während des Rennens Zweifel an dem, was sie hier tat, und sie stellte eine rhetorische Frage: „Warum machen wir das hier eigentlich? Wir haben doch so ein schönes Zuhause.“
Hansmartin, ihr Ehemann, stand neben ihr und meinte nur: „Genau deswegen, weil wir eben ein schönes Zuhause haben.“
Wenn Glücklichsein nicht in den Annehmlichkeiten lag, war es dann im Unangenehmen zu finden? War es uns, denen es gut geht im Leben, ein Bedürfnis, Leid zu erfahren? Weil wir dadurch erst lernen, unser Heim und unseren Komfort zu schätzen? Oder machte uns dieses Leiden irgendwie zu stärkeren, erfüllteren Menschen?
All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich an den Moment zurückdachte, an dem wir das erste Mal in Muscat angekommen waren und uns gesagt wurde, dass wir für acht Stunden am Flughafen warten müssten. Nachdem das Rennen beendet war, erkannte ich, dass ich, wäre ich noch einmal in dieser Situation, nun eher meinen Schlafsack auspacken würde und versuchen würde, ein Nickerchen zu machen. Denn plötzlich fühlten sich ein paar extra Stunden am Flughafen gar nicht mehr so anstrengend an. Nach dem Rennen über eine Woche durch die Wüste hatte sich etwas verändert.