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Und so bin ich auf einmal angefixt. Naja, nicht ganz. Aber ich bin fasziniert. Ein paar Wochen nachdem ich aus dem Oman zurückgekehrt war, treffe ich Elisabet wieder. Ich hatte den Auftrag bekommen, sie für einen Artikel im Guardian zu interviewen, und so verabreden wir uns in der Redaktion der Zeitung im Zentrum Londons, wo wir auf Ledersofas sitzen, Espresso trinken und den Leuten dabei zusehen, wie sie sich für ihre Mittagssandwiches anstellen. Ich frage sie, wie sie zum Ultra-Sport kam.

Sie erzählt mir, dass sie früher eine begeisterte Marathonläuferin war, die ihr Training rund um ihren gut bezahlten Job im Londoner Finanzdistrikt plante. „Ich wurde immer besser“, sagt sie. „Doch dann kam der Punkt, an dem ich überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Ich könnte versuchen, die Marathonstrecke schneller zurückzulegen – das ist nicht einfach und sicher eine interessante Herausforderung – oder ich könnte einfach längere Distanzen laufen. Ich beschloss, dass es interessanter wäre, mir die längeren Distanzen genauer anzusehen.“

Ihre Entscheidung, sich dem Ultra-Lauf zu verschreiben, wurde aufgrund einiger unerwarteter Schicksalsschläge beschleunigt. Innerhalb kürzester Zeit starb ihr Vater, wurden bei ihrer Mutter Alzheimer und bei ihrem Ehemann Krebs diagnostiziert. „Alle diese Dinge“, meint sie, „lassen dich erkennen, dass das Leben sehr kurz ist und du aktiv werden musst und nicht einfach rumsitzen kannst und warten.“

Also gab sie ihren Job in der City auf und machte sich auf ins Abenteuer. Um ihr neues Leben finanzieren zu können, eröffnete sie ein Geschäft für Laufzubehör, doch nach ihren Siegen beim MdS und dem Oman-Rennen erschienen immer wieder Zeitungsartikel über sie und so begannen sich auch langsam Sponsoren zu finden, die sie unterstützen. Das macht es natürlich einfacher, zu den Rennen zu reisen und mehr Herausforderungen anzunehmen. Was also als riskante Entscheidung begann, scheint sich nun auszuzahlen.

Ihre Worte beginnen etwas in mir zu bewegen. Ich erinnere mich, wie es sich anfühlte, als ich mich das erste Mal dazu entschieden hatte, einen Marathon zu laufen. Die Idee hing damals schon seit einigen Jahren wie eine Wolke am Horizont, sah mir bei jedem Rennen über kurze Distanzen über die Schulter und wunderte sich, wann ich denn nun endlich einen Marathon laufen würde. Und irgendwann war dann die Zeit gekommen. Das Leben geht weiter. Und so lief ich meinen ersten Marathon.

Seit damals sehe ich immer wieder diesen Weg, der einen Berg hinaufführt, am Horizont auftauchen. Ein langer, sich windender Weg. Ich bin jetzt 42. Ich habe bereits einige solide Marathons hinter mir. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, den nächsten Schritt zu wagen. Herauszufinden, was die Leute da draußen auf diesem Weg finden, das sie dazu treibt, diese unbezwingbar erscheinenden Distanzen zu laufen.

Der Gedanke ist so faszinierend, dass ich kurz darauf meinen Redakteur anrufe. „Ich glaube, ich habe mein nächstes Thema gefunden“, sage ich zu ihm. Ich habe bereits Bücher über meine Reisen nach Kenia und Japan geschrieben, in denen ich versuche, diesen beiden einzigartigen Laufkulturen auf die Spur zu kommen. Diesmal will ich jedoch etwas über ein interkulturelles, globales Phänomen herausfinden, von dem ich erst jetzt begreife, wie groß es eigentlich ist. Was ist diese Welt des Ultra-Sports? Wer sind die Menschen, die diesen Sport ausüben? Worum geht es dabei überhaupt? Der beste Weg, das alles herauszufinden, so beschließe ich, ist mich einfach für ein weiteres Rennen anzumelden und zu laufen.


Über die letzten zehn Jahre ist der Ultra-Marathonlauf rapide gewachsen und gilt als eine der am schnellsten wachsenden Sportarten weltweit.

Die Webseite runultra.co.uk führt eine Liste der größten Ultra-Marathons der Welt. Der Betreiber der Seite, Steve Diederich, erzählt mir, dass er, als er diese Internetseite vor zwölf Jahren einrichtete, 160 Rennen weltweit fand. Heute führt er über 1.800 Rennen auf seiner Seite an, ein Anstieg von mehr als 1.000 %. Die deutsche Ultra-Marathon-Webseite DUV listet die Ergebnisse vieler kleinerer Rennen in ihrer akribischen Datenbank auf, unter anderem auch bis zurück zum 89-km-Rennen von London nach Brighton im Jahre 1837. Über die letzten zehn Jahre hinweg erzählt diese Webseite eine ähnliche Geschichte mit einem 1.000%igem Anstieg an Ultra-Läufen weltweit.

Andy Nuttall, Redakteur des Magazins ULTRA, beschäftigte sich eingehender mit den DUV-Statistiken und fand heraus, dass der Aufstieg des Sports in Großbritannien sogar noch viel stärker ausfiel: waren es im Jahr 2000 nur 595 Personen, die einen Ultra-Marathon im UK beendeten, so stieg diese Zahl bis zum Jahr 2017 auf 18.611.

Wo auch immer ich hinsehe, die Geschichte ist fast immer die gleiche. Das in den USA erscheinende Magazin Ultra Running führt eine Statistik für Nordamerika, die zeigt, dass die Anzahl der Rennen und Personen, die diese beenden, seit 1981 jedes Jahr ansteigt. Auch in Asien ist die Zahl an Ultra-Läufen explodiert. Nic Tinworth, Renndirektor in Hong Kong, erzählt mir, dass, während es vor zehn Jahren erst sechs Ultra-Läufe in Hong Kong gab, die Zahl inzwischen auf 60 angewachsen ist. „In der Vergangenheit“, so sagt er, „konnte man einfach am Renntag nach Hong Kong kommen und sich für das Rennen anmelden. Doch heutzutage sind die Startplätze für die populärsten Rennen innerhalb von Minuten ausverkauft.“

Viele der am meisten überbelegten Rennen der Welt, wie etwa der Ultra-Trail du Mont-Blanc in Frankreich und der Western States 100 in den USA, mussten Lotterien einführen, damit sie die Anzahl potenzieller Teilnehmer in den Griff bekamen. Diederich verwaltet die Anmeldungen aus dem UK für den Marathon des Sables. Trotz der heftigen Anmeldegebühr von £ 4.250 [ca. 4.750 Euro], so erzählt er, sind die Startplätze für das Rennen jedes Jahr in wenigen Minuten ausverkauft.

Wonach streben alle diese Läufer? Im Oman erlebte ich eine Art Wandlung, etwas, das lange nach dem Rennen noch ein Teil von mir blieb. Aber ich habe das Gefühl, dass es da noch mehr zu entdecken gibt. Über die letzten beiden Etappen im Oman ging nichts mehr und ich hätte beinahe aufgegeben. Was wäre aber, wenn ich stark bliebe, auch im Angesicht einer solchen Herausforderung.

Ich erinnere mich an ein Foto der spanischen Ultra-Läuferin Azara García, die eine Tätowierung auf ihrem Bein trägt, die sich folgendermaßen liest (auf Spanisch):

„Der Teufel flüsterte mir ins Ohr: ‚Du bist nicht stark genug dem Sturm zu widerstehen.‘ Ich flüsterte zurück: ‚Ich bin der Sturm.‘“

Ist das der Reiz am Ultra-Marathonlauf? Uns selbst so weit zu pushen, bis wir an einen Punkt kommen, an dem wir Angesicht zu Angesicht mit dem Teufel kämpfen, es aber schaffen, uns aufzurichten und ihn zu überwinden? Könnte ich dem Sturm entgegentreten – was auch immer da kommen möge – und ihn mithilfe meiner Willenskraft besiegen? Dieser Gedanke hat etwas Verlockendes. Weit weg von jenem Financial-Times-Journalisten, der sich darüber beschwert, dass sich sein Hotelbus verspätet.

Ich muss zugeben, all das schmeichelt meinem Ego sehr. Ich sehe mir gerade eine Dokumentation über die Evolution des Menschen und welche Rolle das Laufen darin gespielt hat an. Darin meint ein Professor für Anthropologie am Hunter College in New York: „Wir haben sogar Aufzeichnungen über Menschen, die 160 Kilometer in einem durchlaufen können.“ Sein Ton hört sich an, als wäre dies eigentlich unmöglich, als müssten das irgendwelche Supermenschen sein. Und ich ertappe mein Ego dabei, wie es arrogant über meine Schulter blickt und sagt: „Du könntest das auch.“

Wie es die US-Komikerin und Ultra-Läuferin Michelle Wolf in einem Interview mit dem Magazin Runner’s World schon sagte: „Es gibt dir irgendwie das Gefühl, richtig knallhart zu sein.“

Wenn ich mit anderen Ultra-Läufern spreche, habe ich jedoch den Eindruck, dass die Bewältigung einer solchen Aufgabe und es bis ins Ziel zu schaffen nicht die einzige Befriedigung ist, sondern auch dieses Gefühl selbstzerstörerischer Gleichgültigkeit, das sie verspüren, wenn sie in diesen Sturm eintreten und nahe am Abgrund entlangtaumeln. „Durch ein Tal von Schmerzen laufen“, wie es erfahrene Ultra-Läufer oft genüsslich beschreiben.

Während ich nach Rennen suche, an denen ich teilnehmen könnte, ertappe ich mich dabei, wie ich mir die Streckenprofile ansehe, und ich spüre, wie mir ganz mulmig wird. Es kommt mir so vor, als ob jedes Ultra-Rennen einen kurzen Film mit viel Dramatik produziert. Und jeder dieser Filme zeigt jemanden, der komplett erledigt aussieht, am Rande des Zusammenbruchs. Die Läufer gleichen eher Überlebenden einer Beinahe-Apokalypse als Athleten und Athletinnen. Es sagt schon etwas aus, dass genau diese Bilder verwendet werden, um das Rennen zu bewerben. Die Teilnehmer wollen diese Verzweiflung erleben, sie wollen so nahe wie möglich an ihre eigene Selbstzerstörung kommen.

Viele Ultra-Läufer sagen mir, sie hätten ihre Inspiration, mit diesem Sport zu beginnen, gefunden, nachdem sie Dean Karnazes erstes Buch Ultramarathon Man: Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers gelesen hatten. Darin beschreibt er in allen Details, wie er in einem 160-km-Rennen langsam kaputtgeht, wie Körper und Geist nach und nach aufhören zu funktionieren, bis eigentlich nichts mehr geht und er die Straße buchstäblich auf Händen und Füßen entlangkriecht. Ich erschaudere, während ich das Buch lese. Solche Schmerzen will ich nicht empfinden. Doch es gibt Läufer, die sagen, dass sie das Buch gelesen hätten und dabei dachten: „Genau das will ich auch.“

Etwas ängstlich, doch mit einem Ego, das mir zuflüstert, ich wäre robust genug, beginne ich nach einem Rennen zu suchen, bei dem ich die volle Ultra-Marathon-Erfahrung machen könnte. Ein Rennen, das mich direkt ins Herz dieses wachsenden Sports brächte, das mir alle Geheimnisse offenbaren würde und es mir erlaubt zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht.

Das Ganze ist ein riesiges, unüberschaubares Thema, das ich hier begreifen will. Ein Sport, der sich gleichzeitig in mehrere Richtungen entwickelt. Ohne zentralen Verband oder Dachorganisation streiten und kämpfen Rennveranstalter, Interessensgruppen und selbsternannte Wächter des Ultra-Laufs um Kontrolle und einen Anteil am Geld, das darin involviert ist. Das weite Feld des Ultra-Marathonsports ist wie der Wilde Westen: unbändig und entschlossen, verteidigt von vielen der Alteingesessenen gegen die Eingriffe von Marken und Außenstehenden – Personen, von denen sie der Meinung sind, dass sie die Mentalität des Sports nicht wirklich verstehen. Es ist dieser unbeschwerte „Raus-in-die-Wildnis“-Minimalismus, die Chance, sich da draußen in der Natur zu verlieren, die härtesten und extremsten Gegenden unseres Planeten mit nicht mehr als einer Flasche Wasser und einer Regenjacke zu durchqueren, das den Reiz dieses Sports für viele ausmacht.

Einige der routinierten Ultra-Läufer empfinden den Zustrom von Neulingen bereits als zu viel und sie beginnen den großen Rennen den Rücken zuzukehren, auf der Suche nach noch isolierteren Herausforderungen. Ein Ableger für all diejenigen, die Massenstarts und „Goody bags“ mehr verabscheuen, als die eine oder andere Nacht unterkühlt an einer gefrorenen Felswand zu verbringen, ist ein weiteres wachsendes Phänomen namens FKT (Fastest Known Times/Schnellste bekannte Zeit). Dabei läuft man einfach los, meist allein, um eine bestimmte, vordefinierte Route schneller als irgendjemand anderer (von dem man die Zeit weiß) zuvor zu bewältigen. Das kann von einem bis ans andere Ende Neuseelands sein, oder ein bekannter Wanderpfad, wie der Appalachian Trail in den Vereinigten Staaten. Oder der Weg hinauf zum Gipfel des Mount Everest.

Doch darüber werde ich später mehr herausfinden. Jetzt suche ich einmal nach Rennen. Das reicht fürs Erste für mich. Ich habe viele Rennen über die Jahre bestritten. Nun möchte ich einfach längere Strecken laufen, das ist alles.

Ein Wort, das man oft hört, wenn über Ultra-Marathons und Ultra-Rennen gesprochen wird, ist „laufbar“. Einige Rennen werden als laufbarer betrachtet als andere. Das heißt nun nicht unbedingt, dass man die ganze Strecke durchlaufen kann – außer man ist einer der Superstars des Sports – aber theoretisch ist der Weg recht eben und die Anstiege und Abwärtspassagen gut machbar, so dass man zumindest den Großteil der Strecke laufen kann. Es gibt aber immer wieder Athleten, die sich darüber beschweren, wenn Rennen zu laufbar sind. Diese Sportler bevorzugen das genaue Gegenteil – im Ultra-Jargon auch als „technische“ Rennen bezeichnet – wenn das Gefälle zu steil und der Boden zu uneben sind, um frei dahinzulaufen. Rennen, bei denen man bei jedem Schritt aufpassen muss, wohin man tritt, und manchmal auch die Hände benutzen muss, um weiterzukommen.

Ich tendiere definitiv mehr zu laufbar als zu technisch. Natürlich, auf den richtig schwierigen Abschnitten darf man schon einmal gehen und über ein paar Felsen klettern ist auch O. K., aber wenn ich das tue, möchte ich trotzdem auch laufen.

Die Welt des Ultra-Sports ist vergleichbar mit einem Baum mit vielen Ästen. Einer der ältesten Äste ist, zumindest in unseren Breitengraden, das Berglaufen. Solche Rennen können über die unterschiedlichsten Distanzen gehen, von ein paar Kilometern bis zu einer nach oben hin offenen Ultra-Distanz, und führen in der Regel über Berge sowie meist unmarkierte Routen, was wiederum ein wenig Navigationskenntnisse voraussetzt. Der erste überlieferte Berglauf fand im Jahre 1040 n. Chr. in Großbritannien statt, als König Malcolm Canmore von Schottland einen Lauf in Braemar, Aberdeenshire, veranstaltete, um den schnellsten Boten zu ermitteln.

Trotz seiner langen Geschichte ist der Berglauf ein recht isolierter Zweig im Ultra-Laufen. Seine regionalen Wurzeln sowie der recht nüchterne, ernsthafte Charakter sind Teil des Anreizes und werden vehement verteidigt. Ich würde es wirklich gerne einmal ausprobieren, doch wenn ich Ultra-Marathons laufen will, dann denke ich an etwas mehr Internationales und Allumfassendes. Genau an das, was für den Boom des Sports verantwortlich ist.

Ein anderer Zweig im Ultra-Sport und einer, der einen starken Teilnehmeranstieg verzeichnet, sind mehrtägige Etappenrennen, wie der Marathon des Sables, die meist an exotischen, unwirtlichen Orten stattfinden: in der Wüste, im Dschungel, am Polarkreis. Die Teilnahme an solchen Rennen ist sehr kostspielig und benötigt eine Menge Vorausplanung.

In einigen Teilen der Ultra-Welt herrscht eine starke Abneigung gegenüber manchen dieser Mehrtagesrennen. Diese Ablehnung basiert teilweise auf den Kosten und dem damit einhergehenden Hype solcher Rennen wie dem MdS. „Ein Urlaub für Vorstandsmitglieder“, meinte einmal ein Ultra-Läufer zu mir. Da ich selbst schon da draußen in der Wüste war, wusste ich, wie hart und zermürbend es ist, andererseits verbrachten wir einen guten Teil des Tages in unseren Zelten, um uns zu erholen. Und trotz meiner ungenügenden Vorbereitung konnte ich die meiste Zeit im Vorderfeld einigermaßen mitlaufen. Urlaub würde ich es also nicht gerade nennen, doch es gibt sicherlich noch härtere, herausforderndere Rennen da draußen.

Ein weiterer Ableger dieses Sports inkludiert eine ganze Palette von Rennen, die so hart und extrem sind, dass jedes davon eine eigene Kategorie darstellen könnte. Diese Rennen umfassen Rennen wie das Spine Race, das etwa 430 Kilometer entlang des Pennine Way im Norden Englands verläuft. Non-stop. Im Jänner. Oder der Badwater 135-Meilen-Lauf (ca. 217 km), dessen Start – mit Renntemperaturen bis zu 54 °C – an einem der heißesten Orte der Erde, dem Death Valley in Kalifornien, liegt. Dann wäre da noch der Barkley Marathon, ein 160-Kilometer-Extremlauf entlang einer unmarkierten Strecke, die durch abgelegene Bergregionen in Tennessee führt – so schwer, dass es in den ersten 25 Jahren nur 10 Teilnehmern gelang, das Rennen überhaupt zu beenden. Oder wie wäre es mit dem längsten Ultra-Lauf der Welt: dem Self Transcendence 3.100-Meilen-Lauf, ein Rundlauf um einen Block des Stadtteils Queens in New York über exakt 4.988 Kilometer.

Ich suche zwar nach etwas, das mich an meine Grenzen bringt, aber ich bin nicht verrückt. Und ich möchte immer noch laufen können. Man kann 4.900 km nicht nur laufen. Bei Rennen wie dem Barkley Marathon stehen Geist, Wille und Überlebenstechniken im Vordergrund, weniger das Laufen. Natürlich will ich davon auch etwas, doch ich möchte trotzdem noch einigermaßen ein Rennen laufen.

Noch eine Kategorie in der Welt der Ultra-Läufe, bei der man wirklich laufen kann, sind die meist ebenen Rundkurse über genau abgemessene Distanzen von 100 km, oder Rennen, die über eine bestimmte Zeit gehen, zum Beispiel 24 Stunden. Es gibt Weltmeisterschaften und Weltrekorde für diese Rennen, die dem Marathonlauf wahrscheinlich am ähnlichsten sind.

Solche Rennen interessieren mich, doch genauso wie Berglaufen sind sie nicht der Grund für den phänomenalen Aufstieg des Ultra-Laufs. Die Starterzahlen dieser Veranstaltungen haben sich gegenüber ihrer Glanzzeit in den 1870er Jahren oder seit den 1950ern und 1980ern kaum geändert.

Ein interessantes Detail am Rande ist, dass sich diese Ultra-Rundläufe, die heute unter den am wenigsten glamourösen und am wenigsten bekannten Ultra-Laufdisziplinen sind, einst zu den größten Sportevents der Welt zählten.

Es mag uns heute eher seltsam vorkommen, doch im 19. Jahrhundert war Laufen ein unglaublich populärer Sport, der riesige Mengen an Zusehern anzog, die die Wettkämpfer bei Sechstagerennen auf den engen Hallenlaufbahnen in London oder dem Madison Square Garden in New York anfeuerten. Die Sieger konnten hochdotierte Preise im Wert von bis zu mehreren hunderttausend Euro mit nach Hause nehmen, während sich die Reichen und Schönen der damaligen Zeit unter den Pöbel mischten, der kam, um sich zu betrinken, zu wetten und Spaß zu haben.

Die Popularität des Sports war teilweise auch dem Amerikaner Edward Payson Weston geschuldet. Alles begann im Jahre 1861, als Weston aufgrund einer verlorenen Wette 725 Kilometer zu Fuß von Bosten bis nach Washington innerhalb von 10 Tagen zurücklegte, damit er dem Amtsantritt von Präsident Abraham Lincoln beiwohnen konnte.

Als die Kunde dieser Ausdauerleistung bekannt wurde, weckte das die Neugier der Menschen, die entlang der Strecke lebten, und sie strömten in Massen herbei und säumten die Straßen, nur um zu sehen, wie Weston durch ihren Ort marschierte.

Motiviert von dieser Reaktion begann er während der folgenden Jahre immer herausforderndere Strecken zurückzulegen. Dazu schien er auch ein richtiger Showman zu sein – manchmal blies er sogar auf einem Horn, während er ging, oder marschierte rückwärts, um seine Zuseher zu unterhalten. In den 1870er Jahren war Westons Ruhm als Langstreckengeher so weit angewachsen, dass er an einem Punkt angelangt war, an dem er entschied, Geld damit zu verdienen, indem er seine Darbietung nach innen verlegte, wo er Eintritt von den Leuten verlangen konnte. Damit legte er den Grundstein für einen Begeisterungssturm für Sechstagerennen – die längste Zeit, die man gehen oder laufen konnte, ohne dabei gegen das Gebot des heiligen Sabbats zu verstoßen. Über die folgenden Jahre hielt er eine Reihe spannender und sehr beliebter Head-to-Head-Rennen mit Daniel O’Leary, einem Amerikaner irischer Abstammung, ab.

Die Zeit der Sechstagerennen erreichte 1878 ihren Höhepunkt, als sich der britische Adelige Sir John Astley dazu entschloss, fünf internationale Rennen zu sponsern, bei denen es ein äußerst lukratives Preisgeld und einen Meisterschaftsgürtel in Gold und Silber mit der Inschrift Long Distance Champion of the World, also Langstreckenweltmeister, zu gewinnen gab.

Aufzeichnungen früherer Inkarnationen des Pedestriantismus, wie der Sport damals bezeichnet wurde, reichen bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück. Während diese Rennen, die oft über Distanzen von 1.600 Kilometer reichten, ebenso große Mengen an Zusehern hatten, waren sie jedoch ein Wettgehen, bei denen es Regeln ähnlich dem heutigen Wettkampfgehen gab, etwa wie der Fuß aufzusetzen sei. Ganz im Gegensatz zu den Sechstagerennen der 1870er, die ähnlich dem modernen Ultra-Lauf waren und als „Go-as-you-please“-Rennen (Mach-was-du-willst-) bekannt wurden, in denen die Wettkämpfer gehen, laufen oder rasten konnten, wann sie wollten.

Die Rennen um den Astley-Belt-Meistergürtel von Sir John Astley wuchsen zu den größten Sportveranstaltungen der damaligen Zeit heran, inklusive Marschkapellen, euphorischer Berichterstattung und beträchtlichen Wetteinsätzen. Das erste der fünf Rennen fand 1878 in der Agricultural Hall in Islington, London, statt, bei dem sich 17 Engländer mit dem aus Irland stammenden O’Leary aus Amerika – Westons altem Rivalen – maßen. O’Leary gewann das Rennen bei dem er eine Gesamtdistanz von 520 Meilen (836 km) zurücklegte.

Das zweite Astley Belt Rennen wurde noch im gleichen Jahr vor einer Kulisse von mehr als 30.000 Zusehern in New Yorks Madison Square Garden ausgetragen. O’Leary, der Weltmeister, gewann auch dieses Rennen und durfte sich über ein Preisgeld von $ 10.000 (heute etwa 250.000 Dollar oder knapp 220.000 Euro) freuen, sowie über einen Anteil an den Eintrittsgeldern und den Nebenwetten.

Das dritte Rennen im März 1879, wieder im Madison Square Garden, war mit einem Preisgeld von mehr als $ 20.000 dotiert. Das öffentliche Interesse an dem Wettbewerb war nun schon so groß, dass die neuesten Informationen darüber im Stundentakt in Bars, Friseursalons, Lebensmittelläden und Hotels der Stadt ausgehängt wurden und die New Yorker Zeitungen täglich darüber berichteten.

Erst im vierten Rennen konnte der große Pionier des Sports, Edward Weston, endlich den inoffiziellen Weltmeistertitel erringen. Nachdem das Rennen wieder nach Islington, London, zurückgekehrt war, gewann der Amerikaner mit einer neuen Weltbestleistung von 885 Kilometern (550 Meilen) über sechs Tage.

Doch mit Beginn der 1880er Jahre verlor der Sport leider zusehends an Popularität und andere rivalisierende Sportarten erlebten ihren großen Aufstieg. Matthew Algeo, Autor des Buches Pedestrianism: When Watching People Walk Was America’s Favourite Spectator Sport, ist der Meinung, dass vor allem der Aufstieg des Fahrradfahrens eine Schlüsselrolle im Untergang der Sechstagerennen spielte.

„Sechstage Radrennen nahmen recht schnell den Platz der Gehbewerbe über sechs Tage ein, da sie viel spannender waren“, sagt er mir. „Die Renngeschwindigkeit stieg über Nacht von 6,5 km/h auf über 30 km/h. Und Unfälle waren natürlich auch viel spektakulärer.“

Trotz schwindender Zuschauerzahlen hörten einige der eingeschworenen Geher nicht damit auf, die Grenzen des physisch Möglichen weiter zu pushen. Der letzte große Kraftakt in der viktorianischen Ära waren die knapp über 1.000 km, die George Littlewood aus Sheffield in einem Sechstagerennen in New York bewältigte. Littlewoods Weltrekord blieb für fabelhafte 96 Jahre bestehen, bis er von der griechischen Ultra-Marathon-Legende Yiannis Kouros 1984 gebrochen wurde. Sieben Jahre später stellte Kouros den derzeitigen Sechs-TageRekord von 1.068 km auf.

Trotz ihres kurzen Moments im Scheinwerferlicht finden Ultra-Läufe, bei denen Runden auf Flachkursen absolviert werden, heutzutage eher wenig Beachtung. Stattdessen ist die bekannteste Disziplin dieses Sports, die mit dem meisten Drumherum und den größten Stars, der Ultra-Trail-Lauf. Hier findet man die ganz Großen dieses Sports, wie Kilian Jornet und Jim Walmsley, die sich Rennen über bis zu 100 Meilen (160 km) liefern. Im Gegensatz zum Rennen im Oman sind diese Rennen ein einmaliger Kraftakt. Wenn der Startschuss einmal gefallen ist, gewinnt derjenige, der als erster die Ziellinie überquert. Keine Nachmittage in Berberzelten und Plaudereien mit Dino. Nur weiter, weiter, weiter, bis man im Ziel ist.

Das größte Rennen von allen, quasi die Olympischen Spiele des Trail-Laufs, ist der Ultra-Trail du Mont-Blanc (UTMB). Jedes Jahr findet sich in Chamonix in den französischen Alpen die Crème de la Crème des Ultra-Trail zum großen Finale ein, dem Rennen aller Rennen. Gewinnst du hier, gehörst du auf ewig zu den Legenden dieses Sports.

Die Strecke verläuft über einen beliebten, etwa 172 km langen Wanderweg rund um den Fuß des höchsten Gipfels Westeuropas – zum Teil auch durch Italien und die Schweiz. Je mehr ich darüber höre, je mehr Videos ich mir vom Massenstart mit mehr als 2.000 Athleten ansehe, die aufwühlende Hymne, die atemberaubenden Bilder des Sonnenaufgangs, Gipfel, die durch die Wolken brechen, desto fester wird mein Entschluss, einen weiteren Ultra-Marathon zu laufen, nämlich genau diesen hier.

So gehe ich also online, um mich anzumelden. Und hier beginnt der eigentliche Spaß.

Der UTMB ist so beliebt, dass man sich nicht einfach so anmelden kann. Nein, zuerst muss man sich dafür qualifizieren, indem man drei andere Ultras, die als Qualifikationsrennen gelten, läuft. Und selbst wenn man diese bewältigt hat, garantiert das nur die Teilnahme an der Rennlotterie – bei der man in etwa eine Chance von eins zu drei hat, einen Startplatz im Rennen zu ergattern.

Der UTMB gibt eine Liste mit Rennen aus, die als Qualifikationsrennen anerkannt sind. Die Überlegung dahinter ist die, dass man sicherstellen will, dass nur ernsthaft vorbereitete Läufer an den Start gehen. Doch dieses recht vernünftig erscheinende Ziel scheint irgendwann im Laufe der Zeit verloren gegangen zu sein, und was übrig blieb, ist ein höchst umstrittenes System.

Das Problem, das viele Läufer und Veranstalter mit diesem System haben, ist, dass Rennveranstalter, die ihr Rennen auf der UTMB-Liste für Qualifikationsrennen sehen wollen, nicht etwa spezielle Sicherheitstests bestehen müssen oder einen Beweis dafür liefern müssen, dass ihre Strecke genauso fordernd und anstrengend ist, wie sie es sagen, oder dass es sicher wäre oder dass die Rennleitung gewissenhafte und vertrauenswürdige Arbeit leistet. Nein, man muss den UTMB-Veranstaltern nur einen bestimmten Geldbetrag dafür bezahlen.

„Es geht nicht länger darum, die entsprechende Erfahrung zu garantieren, sondern mehr um die Einnahmen und den Versuch, Trail-Läufe in Europa zu monopolisieren und zu kontrollieren“, sagt Lindley Chambers, Vorsitzender des britischen Trail-Running-Verbandes (TRA), der definitiv kein Freund dieses Systems ist.

Ein Renndirektor, der sich geweigert hatte, Geld dafür zu bezahlen, dass seine Veranstaltung UTMB-Punkte bekommt – und der hier nicht genannt werden möchte – erklärt, wie es zu dieser Situation kam. „Als die UTMB-Betreiber das erste Mal ein Punktesystem einführten, war fast jeder Ultra-Veranstalter im UK an Bord“, sagt er. „Viele dieser tollen Rennen, die sich auch gut alleine vermarkten konnten, waren plötzlich zu ‚Qualifikationsrennen‘ geworden und warben nun auch nur mehr damit, Qualifikationsrennen zu sein, anstatt ihre eigenen Stärken und Vorzüge anzupreisen.“

Dann, als diese Rennen einmal von UTMB-Punkten abhängig waren, um Läufer anzulocken, führten die UTMB-Betreiber eine Gebühr ein. „Diese Gebühr war gerade einmal gering genug, dass sie von den anderen Rennveranstaltern bezahlt wurde, um ihre Teilnehmerzahlen zu halten, aber hoch genug, dass man, wenn man alle Rennen weltweit addiert, auf eine recht hübsche Summe Geld kommt.“

Wenn Rennen dafür zahlen, Punkte zu erhalten, dann zahlen sie de facto für eine Mitgliedschaft im Internationalen Trail Running Verband (ITRA), der von sich behauptet, eine unabhängige, nichtkommerzielle Einrichtung zu sein, die für das Wohl des Sports arbeitet. Die ITRA vergibt dann die UTMB-Punkte.

In der wilden Welt der Online-Ultra-Sportforen bringen nur wenige Dinge das Blut von Renndirektoren so zum Kochen, wie das UTMB-Punktesystem. Ein kürzlich verfasstes, typisches Posting las sich folgendermaßen: „Ich würde mir lieber die Augen mit einem Löffel auskratzen, als dem UTMB Geld für Punkte für meine Rennen zu zahlen.“

Doch nicht alle sind der gleichen Meinung. Viele Rennveranstalter sagen, sie zahlen die Gebühr gerne, um Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die Punkte sammeln wollen, zufrieden zu stellen und außerdem würde sich die Gebühr aufgrund der höheren Teilnehmerzahlen sowieso von alleine zahlen.

Nic Tinworth erzählt, er begann Punkte für seine Rennen in Hong Kong anzubieten, da die Leute einfach immer wieder danach fragten. „Es schien so, als ob die Läufer ihre Rennen speziell nach der Anzahl der Punkte auswählten.“

Ein Problem für Läufer, die am UTMB teilnehmen wollen, sind Rennen, die in vergangenen Jahren auf der Liste standen, dann jedoch gestrichen werden, da die jährliche Gebühr nicht bezahlt wurde. Das führt dazu, dass Athleten, die erwarten Punkte zu machen, nach dem Rennen plötzlich damit konfrontiert sind, dass sie nicht qualifiziert sind.

Dieses Szenario trat ein, als der Hardrock 100, einer der bekanntesten Ultra-Läufe in den Vereinigten Staaten, sich dazu entschied, nicht länger Geld dafür zu bezahlen, ein UTMB-Qualifikationsrennen zu sein. Das war vor allem deswegen relevant, da der Superstar dieses Sports und dreifacher Sieger des UTMB, Kilian Jornet, auf die Punkte des Hardrock 100 zählte, um am UTMB teilzunehmen. In den Regeln des UTMB steht klar und deutlich, dass jeder Athlet und jede Athletin Punkte haben muss, auch die absoluten Spitzenathleten. Als die die Betreiber des UTMB nun aber sahen, dass die Veranstalter des Hardrock die Gebühr nicht entrichtet hatten, sandte die ITRA den Organisatoren des Hardrock 100 eine E-Mail, in der der Verband den Betreibern höflich nahelegte, die Gebühr zu bezahlen, damit Jornet in Frankreich starten könne.

„Wir mochten dieses System einfach nicht und waren der Meinung, dass es etwas respektlos wäre“, meinte David Coblentz, Vorstandspräsident beim Hardrock 100. „Sie kommen nicht einmal vorbei, um deinen Kurs zu begutachten. Du schickst ihnen nur eine GPX-Datei, die sie in einen Algorithmus hochladen und dann geben sie dir Punkte. Das ist eigentlich nur eine andere Art Geld zu machen.“

Coblentz erklärte weiter, dass die jährliche Gebühr trotzdem zu bezahlen ist, auch wenn sich der Kurs nicht geändert hat und die GPX-Datei dieselbe sei. „Und das ist wirklich nicht akzeptabel.“

Somit verfassten der Hardrock 100 und noch acht weitere US-Rennen einen offenen Brief, in dem sie ihre Absicht, die Gebühr nicht mehr zu bezahlen, kundtaten und ihre Gründe dafür anführten. In diesem Brief hieß es: „Es ist nicht unsere Absicht, den UTMB/ITRA dafür zu kritisieren, ihre Gewinne maximieren zu wollen, doch ihr ‚Pay-For-Points‘-System trägt rein gar nichts zum Wohl des Sports bei.“

Die ITRA antwortete in einem eigenen offenen Brief, in dem sie klarstellte, dass sie eine Non-Profit-Organisation sei, dass sie nur versuchen würde, dem Sport bei seiner Entwicklung zu helfen (durch medizinische Forschung, Sicherheitsberatung, Einführung globaler Standards), und dass sie eine vom UTMB unabhängige Einrichtung sei. Doch Hardrock weigerte sich weiterhin einzulenken. „Danach haben wir nichts mehr von ihnen gehört“, sagt Coblentz.

Trotz der Pattsituation war Jornet in jenem Jahr dann doch am Start des UTMB. Es scheint so, als konnte das größte Rennen in diesem Sport nicht ohne seinen größten Star existieren, und so wurden die Regeln eben ein wenig zurechtgebogen. In ihrem Brief schrieb die ITRA, dass – Gebühr hin oder her – der Verband beschlossen hätte, „das Rennen [Hardrock 100] ausnahmsweise doch im Nachhinein zur Liste der Qualifikationsrennen hinzuzufügen.“

Dieses ganze Hin und Her sagt doch sehr viel über den Zustand, in dem sich dieser schnell wachsende Sport befindet, aus. Hinter all den tollen Instagram-Einträgen und den großartigen Leistungen der Athleten hat sich eine Art Goldrausch manifestiert, mit Goldsuchern, die um Macht und Kontrolle kämpfen. Genauso wie die ITRA und die großen Rennen haben sich bereits auch multinationale Bekleidungshersteller und Outdoor-Sportausstatter eingefunden und stecken ihre Claims ab, indem sie die größten Veranstaltungen und Top-Athleten und Athletinnen unter Vertrag nehmen und clevere Werbekampagnen produzieren, virale Filmchen mit Männern und Frauen, die durch prächtige Landschaften laufen und irrwitzige Abhänge hinunterrasen. Der Ultra-Marathonsport ist noch immer ein weitgehend unerschlossener und unkontrollierter Markt und es gibt kein Anzeichen dafür, dass sich das Wachstum in absehbarer Zeit verlangsamen wird. Während die LäuferInnen also da draußen durch ein Tal der Schmerzen laufen, sehen andere einen offenen, unbewachten Eingang zu einer Goldmine und beeilen sich, einen Teil dieser Mine für sich zu beanspruchen.

Trotz allem will ich noch immer den UTMB laufen. Wenige Monate nach dem Interview mit Elisabet, mein Interesse am Ultra-Lauf ist noch immer hellwach, sehe ich mir den Start des Rennens im Internet an. Es ist ein Freitagnachmittag und ich sitze im Londoner Büro. Auf meinem Bildschirm ist der Hauptplatz von Chamonix zu sehen, auf dem sich gerade hunderte von nervös dreinblickenden, berggestählten Männern und Frauen versammeln, während mitreißende klassische Musik aus den Lautsprechern dröhnt und langsam im Tal verhallt. Dann laufen sie los, sprinten durch die Straßen und hinaus in die Berge.

Als ich das Büro verlasse, bahne ich mir meinen Weg durch die belebten Straßen Londons zur Paddington Station, wo ich den Zug nach Devon, meinem Wohnort, besteige. Als ich gut erholt am Samstagmorgen erwache, denke ich daran, wie sie noch immer alle da draußen sind und laufen.

Später, es ist bereits Samstagabend, denke ich wieder an die Läufer, die noch immer um den Berg laufen. Ich logge mich ein und sehe, dass ein schweres Gewitter über dem Rennen niedergeht. Nach 24 Stunden laufen ist das ziemlich hart. Was wohl gerade in den Köpfen der Athleten und Athletinnen vorging?

Es ist nun Sonntagmorgen und ich befinde mich gerade auf einem gemütlichen 15-Kilometer-Lauf im Park. Wieder muss ich an die Läufer beim UTMB denken. Es erscheint komplett verrückt, dass sie noch immer unterwegs sind, noch immer laufen. Andererseits hat dieser Gedanke auch etwas ganz Faszinierendes an sich und ein seltsames Gefühl von Eifersucht steigt in mir hoch. Ich muss dieses Rennen einfach laufen. Es ist das pulsierende Epizentrum des Ultra-Trail-Laufens, der Schlüssel zu diesem Rätsel. Und wenn ich dabei sein will, muss ich mich eben an die Regeln halten und einige dieser Qualifikationsrennen auf der Liste absolvieren.


Während der nächsten Wochen verbringe ich Stunden damit, mir Videos von Rennen im Internet anzusehen. Teilnehmer, die nervös zusammengedrängt an der Startlinie stehen, oft noch in der Dunkelheit, um sich dann in irgendeine unwirtliche oder gar gefährliche Gegend aufzumachen. Die Musik schwillt an, als die Kamera den Läufern und Läuferinnen durch Schluchten hindurch oder über einsame tropische Strände sowie durch Schneestürme folgt. Man sieht Nahaufnahmen von Teilnehmern, die weinen, sich umarmen und beinahe stürzen, bevor das Video dann mit Szenen vom Zieleinlauf endet, die beim Zuseher Gänsehaut verursachen. Diesmal sind es Freudentränen, Kinder, die die mit Schlamm bedeckten Beine der Eltern umarmen, bevor die Kamera wieder zurück über den Himmel schwenkt und dabei eine epische Welt offenbart, bis das Rennlogo zum finalen Crescendo der Streicher am Bildschirm erscheint.

Nach einer Weile erscheinen die Zahlen, die zu Beginn heruntergerasselt werden, bedeutungslos: 100 km, 200 k, 3.000 Höhenmeter, 36 Stunden Cut-off-Zeit. Alles nur Zahlen. Die Videos sind der Beweis dafür, dass es geht. Melde dich einfach an und überlege dir den Rest später.

Es ist lustig, die Gesichter der Leute zu sehen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich mich für ein 100 km Rennen angemeldet habe.

„So weit ist das ja auch nicht“, meint meine Arbeitskollegin und Laufkumpanin Kate. „Mit dem Auto!“ Sie hat recht, was mache ich da eigentlich? Aber das Video, sieh dir das Video noch einmal an. Diese Leute sehen alle ganz normal aus. Da gibt es immer mindestens einen mutigen älteren Typen, der es schafft. Wenn der das kann …

Bevor ich es mich noch versehe, ist mein Jahr mit Reisen nach Kalifornien, Italien und Südafrika verplant. Aber der Beginn meiner Reise ist etwas bescheidener, nahe meinem Heim in Devon, im Südwesten Englands, mit einem „kurzen“ 55-km-Ultra, entlang Englands unglaublich schönem und 630 Meilen langem (1.014 km) South West Coast Path. Das liegt jetzt nicht so viel über der Marathondistanz und wird ein netter gemütlicher Beginn sein.

Der Aufstieg der Ultra-Läufer

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