Читать книгу Der Aufstieg der Ultra-Läufer - Adharanand Finn - Страница 8

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Ich habe fast sechs Monate, um für den South Devon Ultra in Form zu kommen, doch nach zwei Monaten kämpfe ich immer noch damit, mein Training zu steigern. Aus Zeitgründen war es mir bis jetzt nicht möglich gewesen, länger als zwei Stunden am Stück zu laufen. Ich muss es irgendwie schaffen, den frühen Morgen zu nutzen – ich sehe es bei immer mehr Ultra-Läufern, denen ich auf sozialen Medien folge, dass sie frühmorgens trainieren, um Vorbereitung, Arbeit und Familienleben unter einen Hut zu bringen. Aber das ist leichter gesagt als getan. In Wirklichkeit ist es doch so, dass wenn der Wecker mitten im Winter um sechs Uhr läutet und man die eisige Kälte spürt, wenn man unter der warmen Bettdecke hervorkriecht, die Müdigkeit gleich wieder zurückkommt, den ganzen Körper durchströmt und einen wieder unter die Decke zieht … dann denkt man schnell einmal: „Ich gehe einfach etwas später. Das geht sich schon aus. Ich muss mich ja ausruhen, Schlaf ist auch wichtig. Schlafen ist etwas Schönes.“

Aber wenn der Tag dann einmal so richtig angefangen hat, ist die Zeit schnell dahin. Die Kinder müssen zur Schule gebracht werden, die Arbeit ruft auch, ich muss etwas essen, abwaschen und dann bin ich auch schon wieder müde. Gehe ich eben morgen Früh doppelt so lange laufen, sage ich mir. Dann stehe ich um fünf Uhr auf und mache einen langen Lauf. Da gehen sich locker drei Stunden aus, bevor die anderen wach sind.

Doch ich stehe nicht auf. Und so wiederholt sich das Ganze.

Natürlich gehe ich gelegentlich laufen. In einer guten Woche sogar um die 65 Kilometer. Aber das ist nicht genug, um mich nur annähernd wie ein Ultra-Läufer zu fühlen.

Und dann fordert mich mein in Edinburgh lebender Bruder zu einem 40-Kilometer-Trail-Rennen in Schottland heraus. Das wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, meine Fitness zu testen, zu probieren, ein längeres Rennen in schwierigem Gelände zu laufen. Es wäre ein guter Anfang auf dem Weg zu meinem ersten Ultra. Obwohl, Freundschaftsrennen wird es keines werden. Das ist keine Herausforderung im Sinne von ‚Lass uns doch etwas zu zusammen unternehmen und sehen wie wir abschneiden‘. Das wird mehr eine Art Rennen-bis-auf-den-Tod.


Ich bin der älteste von drei Brüdern, die altersmäßig recht nahe beieinander liegen. Es war also nie wirklich einfach, immer zu versuchen, den anderen einen Schritt voraus zu bleiben. Ich erinnere mich noch gut an den Tag im Kinderbecken des lokalen Schwimmbads, als ich fünf Jahre alt war und mein mittlerer Bruder Jiva, damals drei, zu schwimmen begann. Und so lernte auch ich in einem Cocktail gemischter und verworrener Gefühle innerhalb von fünf Minuten zu schwimmen.

Der wohl demütigendste Moment in meinem Sportlerleben war der Tag, an dem der Schwimmverein meine beiden Brüder noch vor mir in die nächsthöhere Leistungsklasse beförderte. An diesem Tag hörte ich mit dem Schwimmen auf. Und ich begann mit dem Laufen.

Beim Laufen war ich besser. Zu meinem Glück begann sich unsere geschwisterliche Rivalität über die Jahre hinweg mehr ums Laufen zu drehen. Zusammen bestritten wir unzählige hart umkämpfte Rennen. Selbst Trainingsläufe arteten am Ende oft zu einem Wettkampf aus. Vor dem Start einigen wir uns jedes Mal, dass es kein Wettrennen ist. Doch irgendwann kommt dann der Punkt, wo du genau weißt, dass einer sich nicht an die Abmachung halten und loslegen wird. Damit meine ich nicht etwa das Tempo verschärfen, weil er sich gut fühlt und schneller laufen kann, sondern loslegen, um zu ‚gewinnen‘. Vor allem Jiva ist für sein ‚Loslegen‘ bekannt, manchmal sogar gleich am Anfang, um uns damit am falschen Fuß zu erwischen.

Meine beiden Brüder, Jiva und Govinda, der jüngste, sind beide gute Läufer. Als Schüler lief Jiva auf County-Ebene und Govinda verzeichnet eine Marathonbestzeit von 3 Std 12 Min. Doch ich war ihnen immer etwas überlegen. Naja, fast immer. Die Gelegenheiten, bei denen sie mich besiegten, fanden Eingang in unsere Familienannalen. Da war zum Beispiel dieser eine Tag im Jahre 1997. Erst überholte mich Jiva. Dann zog Govinda an uns beiden vorbei. Gut, es war nur ein sonntäglicher Freundschaftslauf, doch es war das erste Mal überhaupt, dass ich von beiden besiegt wurde. Zwanzig Jahre später wird diese Geschichte immer noch regelmäßig bei Familientreffen aufgewärmt.

Wenn mir Govinda also wieder einen Fehdehandschuh hinwirft – ein Rennen namens Great Wilderness Challenge in den schottischen Highlands – weiß ich, dass das kein Spaziergang wird. Erst vor kurzem hatte er aus Spaß damit begonnen, an den Wochenenden durch die Berge zu laufen, also wusste ich, dass er sich gute Chancen ausrechnete. Alle meine vergangenen Rennsiege hatte ich auf dem harten, ebenen Asphalt der Straße gewonnen. Dieses Rennen – Trailrunning in den Hügeln – ist noch immer nicht das Meine. Doch irgendwo muss ich ja einmal anfangen, wenn ich ein Ultra-Läufer werden will, und ein Rennen gegen meine Brüder ist der perfekte Anstoß, mich endlich dazu aufzurappeln.

Und auf einmal bin ich auch schon im nahe gelegenen Dartmoor Nationalpark trainieren. Meine ersten Versuche sind nicht gerade von Erfolg gekrönt. Nach zirka 10 Meilen (ca.16 km) beginne ich schon zu kämpfen und schaffe kaum mehr als Schritttempo. Meine Uhr sagt mir, dass ich mit einer Laufgeschwindigkeit unterwegs war, die ich normalerweise als langsames Joggen bezeichnen würde, doch da draußen im Moor fühlt sich alles viel anstrengender an. Es sind nicht nur die Hügel, sondern das ganze unebene, matschige Terrain, dass einen bei jedem Schritt aus dem Rhythmus bringt. So beginnt die Frustration langsam in mir hochzusteigen. Ab und an trete ich auf einen Stein oder eines meiner Beine stößt an das andere und ich stürze beinahe. Ich beginne zu fluchen. „Wessen dämliche Idee war das?“ Sobald ich endlich ein Stück Straße finde, fühle ich mich wieder wie zu Hause. Zurück dort, wo ich mich wohlfühle. Zurück beim Laufen.

Ich mag zwar Probleme haben, doch Jiva geht es noch viel schlechter. Er lebt in London und seine Arbeit, sowie sein Umzug, nehmen den Großteil seiner Zeit in Anspruch. Je mehr wir über das Rennen lesen, desto unmöglicher scheint es, sich da einfach irgendwie durchzumogeln. Einmal beendete Jiva den Edinburgh Marathon, ohne wirklich dafür trainiert zu haben. Auf der Strandpromenade in Edinburgh gegen diese sprichwörtliche Wand zu laufen, mag eine Sache sein, aber draußen in den Highlands ins Straucheln zu geraten, ist eine ganz andere. Das Rennen schreibt den Läufern vor, wasserdichte Kleidung, eine Karte und einen Kompass für Notfälle bei sich zu tragen. Das ist kein Vergnügungslauf.

Letztendlich sieht Jiva ein, dass er ungenügend vorbereitet ist und verzichtet auf einen Start. Somit verwandelt sich das Rennen in ein direktes Duell, Mann gegen Mann, zwischen mir und Govinda dem Bergläufer.


In der Nacht vor dem Rennen fahren wir von Edinburgh hinauf in die Highlands, wo wir bei Sturm und peitschendem Regen in Poolewe ankommen, während die Berge auf beiden Seiten still in Finsternis gehüllt sind. Je näher wir kommen, desto stärker heult der Wind. Wortlos blicken wir beide nervös aus dem Fenster.

Es regnet noch immer, als wir am nächsten Morgen zum Start kommen, wo uns keine guten Nachrichten erwarten. Das Wetter ist so schlecht, dass die Veranstalter die Route ändern mussten, um die besonders gefährlichen Sektionen zu vermeiden. Dabei stellt sich auch heraus, dass einer der Organisatoren am Vortag beim Besichtigen der Strecke von einem überfluteten Fluss erfasst und weggespült wurde und sich nun im Spital befindet. Einige Wochen später sollten wir erfahren, dass er verstorben war. Mit den Bergen spielt man sich nicht und ich bin der erste, der nichts dagegen hat, als wir erfahren, dass anstatt eines 40-Kilometer-Laufs durch einen der unwegsamsten Abschnitte der Highlands das Rennen auf einen 30-Kilometer-hin- und-zurück-Abschnitt gekürzt worden war, und zwar entlang einer Strecke, welche von enttäuschten Veteranen des Rennens als die langweiligste Sektion des Kurses bezeichnet wird.

Keiner der Anwesenden ist von der Änderung begeistert und so spiele ich mit und sehe enttäuscht drein, obwohl ich innerlich höchsterfreut bin. Dreißig mehr oder weniger flache Kilometer kommen mir viel mehr entgegen. Nicht nur, dass ich weniger gehen müsste, die Berge waren Govindas Stärke. Er blickt enttäuscht zu mir herüber – er weiß, was ich denke.

Die Great Wilderness Challenge ist ein kleines, lokales Rennen und so stellen wir uns zusammen mit etwa 70 anderen Teilnehmern auf. Am Start fühle ich mich frisch und als ich mich so umblicke, beginne ich mir sogar leise Chancen auf den Gesamtsieg auszurechnen. Das Feld sieht nicht gerade besonders einschüchternd aus.

Govinda versucht noch einmal etwas Ruhe zu finden und atmet ein paar Mal tief durch. „Er macht sich viel zu viel Stress“, denke ich mir, während mein Selbstvertrauen steigt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich das Ganze bereits in der Tasche habe.

Der Anfang des Rennens führt entlang eines engen Pfades, wo es, wie uns gesagt wird, schwierig ist, zu überholen. Also preschen wir drauf los. Die ersten anderthalb Kilometer ist alles ein wenig chaotisch, zu schnell, doch Govinda liegt vor mir und so entscheide ich mich, an ihm dran zu bleiben. Ich kann ihn nicht einfach davonziehen lassen. Der Weg ist matschig und felsig, windet sich und geht bergauf und bergab. Es ist unmöglich, einen Rhythmus zu finden.

Nach zirka 3 Kilometern macht Govinda einen Fehler und biegt auf den falschen Weg ab. Ich packe die Gelegenheit beim Schopf und überhole ihn. Doch bald ist er mir wieder auf den Fersen. Ich brauche gar nicht nach hinten blicken, ich höre ihn durch die Pfützen platschen. Allein seine Anwesenheit, so knapp hinter mir, treibt mich weiter an. Ich fühle mich richtig gut, also drücke ich aufs Tempo, als ich die Hügel durch den Wald hinauflaufe. Langsam werden seine platschenden Schritte immer leiser und leiser. Und jedes Mal, wenn ich einen kurzen Blick nach hinten riskiere – zu viel Motivation möchte ich ihm auch nicht geben – ist er ein Stück weiter zurück.

Nach ungefähr fünf Meilen (ca. 8 km) fliege ich nur so dahin. Hinweg über das schwierige, unvorhersehbare Terrain. Wie sich herausstellt, ist „langweilig“ ein relativer Begriff. Die Szenerie ist wild und wunderschön. Doch es ist schwierig, sie genauer zu betrachten. Die meiste Zeit muss ich meine Augen auf den Boden vor mir richten, da der Pfad schonungslos morastig und uneben ist. Ein falscher Schritt könnte hier schlimme Folgen haben.

Ich fange an mich zu entspannen. Irgendwie ist es schade, dass Govinda nicht mehr dagegenhalten kann. Natürlich bin ich auch froh darüber, aber so ist es fast zu einfach. Wir haben beinahe die Hälfte der Strecke erreicht. Das geht ja wie im Flug.

Jetzt den steilen Abschnitt hinunter zum Wendepunkt, ein paar Läufer holen mich ein. Da ich vor allem den Boden im Auge habe, sehe ich nicht, wer die anderen sind, aber ich kann spüren, wie sie an mir vorbei wollen. Anstatt sie weiter aufzuhalten, weiche ich ins Gras aus, um sie vorbeizulassen. Einer, zwei, drei gehen an mir vorbei.

„Mach schon, Dhar“, sagt der Letzte von ihnen.

„Huh?“ Es ist Govinda.

Sie wenden und kommen mir wieder entgegen und er läuft an mir vorbei, ohne mich anzublicken. Vorbei an der Wende beginne ich den Weg, den ich gekommen war, wieder hinaufzuklettern. Meine Beine fühlen sich plötzlich schwer an. Ich habe nicht mehr die Kraft zu versuchen an ihm dranzubleiben. So sehe ich nur, wie er davonzieht, kraftvoll, wie jemand, der jetzt loslegt. Für mich war es das. Ich bin leer.

Mutig kämpfe ich mich weiter. Ich habe die leise Hoffnung, dass er blau läuft und sich zu mir gesellen könnte, doch ich weiß, wie unwahrscheinlich das ist. Außerdem – so denke ich in meinen großzügigeren Momenten – wäre es schade, wenn das passierte. Ich verlege mich nun darauf, nur mehr mein eigenes Rennen zu laufen, doch es sind noch neun lange Meilen (ca. 15 km) zurück bis ins Ziel.

Als ich dann endlich ankomme, ist Govinda schon umgezogen und jubelt mir zu, als ich über die Ziellinie laufe. Danach erzählt er mir, dass er immer wieder gedacht hätte, ich würde ihn wieder einholen und so trieb er sich weiter und weiter an. Am Ende lag er dann mehr als 15 Minuten vor mir. Eine vernichtende Niederlage.

Später, am Weg nach Hause, ruft er seine Frau an. „Wie war es?“, höre ich sie fragen. „Ich habe gewonnen“, sagt er. Nein, das eigentliche Rennen hat er nicht gewonnen. Doch er hat das Rennen, auf das es ankam, gewonnen. Er hat seinen großen Bruder besiegt.

Also, Gratulation an Govinda, doch für mich ist es kein guter Start. Ich sehe jetzt ein, dass ich viel öfters auf dieser Art Terrain laufen muss, lernen muss, nasse, matschige Hügel hinauf- und hinunterzulaufen. Mit einem Ranzen auf dem Rücken. Auch wenn das Rennen nur über 19 Meilen (30 km) ging, so war es komplett anders als ein Straßenmarathon.

Glücklicherweise lebe ich im Süden der Grafschaft Devon, wo ich das Moor und gut 100 Meilen (160 km) Küstenpfade zum Trainieren habe. Ich muss nur raus und dorthin. Die frühen Morgenstunden endlich nutzen.

Ein paar Wochen später, als mein Ultra schon vor der Türe steht, fühle ich mich bereits fitter, spritziger, doch ich bin trotzdem nie mehr als eine Marathonstrecke am Stück gelaufen. Sogar im Oman war keine Etappe länger als die 42,195 Kilometer. Somit ist dies irgendwie mein erster Ultra-Marathon, den ich in gutem Glauben laufe. Wird mein Körper dieser Belastung überhaupt standhalten? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.


Am Tag vor dem Rennen klopft es an der Tür. Als ich sie öffne, steht dort ein gutaussehender Mann: 1,78 m groß, buschiger rost-oranger Bart, langes Haar mit Zöpfen, die in seine Stirn hängen, und einem breiten Lächeln.

Es ist Tom Payn, ein guter Freund von mir.1 Er ist aus Essex angereist, um das Rennen mit mir1 zu laufen. Auch er möchte am UTMB teilnehmen und befindet sich daher auf Punktejagd. Wir können uns zusammentun.

Tom ist ein richtig guter Läufer und ich weiß bereits, dass er das morgige Rennen wahrscheinlich gewinnen wird. In der Tat erzählt er mir, dass er noch nie ein Ultra-Rennen im Vereinigten Königreich verloren hätte.

Ich traf Tom das erste Mal in Kenia, zu einer Zeit, als er der viertschnellste Marathonläufer im UK war. Es war das Jahr 2011 und er hatte gerade seinen Schreibtischjob bei einer Wasserfilterfirma in Portsmouth gekündigt, um seinen Traum, sich für die Olympischen Spiele in London zu qualifizieren, zu verwirklichen. Dazu verbrachte er sechs Monate in einem kenianischen Trainingslager in der Kleinstadt Iten, wo er sich ein winzig kleines Zimmer mit einem Mitbewohner teilen musste. Zum Duschen gab es nur kaltes Wasser, ein Loch im Boden diente als Toilette und das tägliche Mittagessen bestand aus Reis und Bohnen. Damals sah er nicht so gut aus, wie er es heute tut, doch er hatte ein freundliches Gesicht und eine frohe, warmherzige Natur, jemand, der in allem immer das Positive sehen wollte. Das war auch gut so, denn als er nach sechs Monaten im Rift Valley zurückkehrte, blieb er zehn Minuten über seiner persönlichen Bestzeit und verpasste somit die Olympiaqualifikation.

„Den langsamsten Marathon meiner Karriere bin ich doch tatsächlich nach meinem Aufenthalt in Kenia gelaufen“, meint er. Klarerweise schwer enttäuscht, fühlte er sich damals irgendwie verloren. „Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte“, erzählt er weiter.

Doch er hatte nun einmal eine neue Seite in seinem Leben aufgeschlagen und auf keinen Fall würde er das alles wieder aufgeben und in einen regulären Bürojob zurückkehren. Mit Hilfe seiner kenianischen Kontakte gelang es ihm, einen Job bei einer Sportmanagement-Agentur zu ergattern, wo er kenianische Topläufer zu Rennen auf der ganzen Welt begleitete, sich um sie kümmerte, mit ihnen trainierte und den Tempomacher für sie bei den großen Rennen gab. Er lebte sogar in einer Wohnung in London, die als Unterkunft für Athleten aus Kenia diente, wenn sie für Rennen nach Europa kommen. Trotzdem funktionierte es auf der Straße nicht so, wie er wollte, und als er mich in Devon besucht, liegt seine Marathonbestzeit noch immer bei den 2 Std 17 Min, die er noch als Bürohengst in Portsmouth gelaufen war.

Doch jetzt steht ein Mann vor mir, der vor Vitalität nur so strotzt. Seit den Tagen nach Kenia ist einiges passiert. Vor allem begann er mit Ultra-Marathons, wo er auch Rachel kennenlernte, seine Verlobte. Beides hatte riesigen Einfluss auf sein Leben.

„Im Endeffekt führte mein damaliges Leben, wo laufen und trainieren schon ein Zwang waren anstatt einem Vergnügen, zum frühzeitigen, aber auch kurzzeitigen Ruhestand“, erzählt er mir, als ich uns in meiner kleinen Landhausküche Spaghetti Surprise zubereite. „Als ich wieder zu laufen anfing und mich in den Ultra-Sport stürzte, schwor ich mir, nur mehr aus Liebe zum Laufen zu laufen, und diese Liebe besteht seit damals.“

Der Umstieg zum Ultra-Running war eigentlich fast unbeabsichtigt. „Nicht lange nachdem ich meinen Rückzug vom Laufsport angetreten hatte“, so erzählt er weiter, „kam ich auf die Idee, den Weg von meiner Wohnung in London bis zum Haus meiner Eltern in Tiptree, Essex, zu laufen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit das war, ich wusste nur, dass es länger ist als ein Marathon. Seit ich als neunjähriger Junge meinem lokalen Leichtathletikverein beigetreten war, war dies das erste Mal, dass ich mich nicht an einem Trainingsplan oder Renntraining orientierte und so erkannte ich, dass ich so weit und so schnell – oder auch langsam – laufen konnte, wie ich wollte.“

So wachte er also eines schönen Morgens auf, zog sich seine Schuhe an, schnallte sich seinen Rucksack mit ein paar Energieriegeln und einer Flasche Wasser um und machte sich auf den Weg. „Ich fühlte mich frei, ohne Druck. Ich konnte es gemütlich angehen, wenn ich wollte, und etwas aufs Tempo drücken, wenn ich mich gut fühlte. Nicht lange und ich hatte die Marathondistanz erreicht, dann fast 50 Kilometer. Meine Füße waren bereits etwas wund, doch ich fühlte mich noch richtig gut, als ich Chelmsford erreichte, wo der Anblick des Zugs so reizvoll war, dass ich mich entschied, die letzten 15 Meilen (ca. 25 km) doch mit der Bahn zu fahren.“

Eine Entscheidung, die er sofort wieder bereute, wie er sagt, und so packte er die Woche darauf wieder seinen Rucksack und lief diesmal die gesamten 56 Meilen (90 km) von London nach Tiptree, wofür er sieben Stunden benötigte. „Das war ein so großartiges Gefühl, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen, und es dauerte nicht lange, bevor ich mich zum ersten Ultra, dem Ring O’Fire, ein 135-Meilen-Rennen (ca. 217 km), rund um die Insel Anglesey, anmeldete.“ Er gewann das Rennen mit einem Vorsprung von mehr als drei Stunden.

Als er ein Jahr später bei einem trendigen, von Adidas gesponsertem Event in Südlondon auftauchte, war Tom noch immer größtenteils auf Straßenmarathons fixiert.

Vor dem Rennen, so sagt Tom, sah er eine Frau, die er von der Laufbahn her, wo er trainierte, wiedererkannte. „Wir unterhielten uns kurz und ich dachte mir, ich sollte heute Abend wohl zusehen, dass ich schnell laufe.“ Da er unbedingt Eindruck schinden wollte, stellte Tom sicher, dass er das Rennen gewann. „Danach ging ich zu ihr und sagte: ‚Gewonnen!‘ Doch sie zeigte sich nicht besonders beeindruckt.“

Beim nächsten Mal, als er auf Rachel traf, bei einem Eliminationsrennen namens Wings for Life, lief die Sache besser. Bei dieser Art von Rennen starten die Läufer mit einem 30-Minuten-Vorsprung auf ein Auto, das ihnen – beginnend mit 15 km/h und danach schrittweise schneller werdend – nachfährt. Wird ein Läufer von dem Fahrzeug überholt, so ist er aus dem Rennen und wird zurück ins Ziel gebracht, wo er oder sie das Rennen auf einer großen Leinwand mitverfolgen kann. Natürlich gewann Tom das Rennen. „Weil ich der Letzte war, sahen mir alle zu“, erklärt er. Er war der Held des Tages. Rachel saß da und sah ihm mit steigender Bewunderung zu. „Sie stellte irgendwas auf Facebook mit Cheering Tom Payn und verlinkte mich. Nach dem Rennen kam sie zu mir und umarmte mich herzlich. Also habe ich sie gefragt, ob sie mit mir ausgehen will.“

Seitdem inspirierten sich Rachel und Tom gegenseitig ihre regulären Jobs aufzugeben, einen gelben VW Käfer zu kaufen und nach Frankreich zu ziehen, um eine Vollzeitkarriere als Ultra-Läufer zu starten. Ach ja, und sie leben jetzt beide vegan. Und sind verlobt. Da ist also einiges passiert, während der letzten paar Jahre. Ich konnte das größtenteils via Social Media mitverfolgen, sehen, wie Toms Haar immer länger wurde, sein Grinsen breiter und die Hintergrundlandschaften auf seinen Fotos immer größer, bunter und epischer. Tom und Rachel haben sich auch eine Wohnung in Chamonix, der europäischen Hauptstadt des Ultra-Running und Basis des UTMB, zugelegt. Dort wohnen sie zur besten Laufzeit im Sommer und vermieten das Apartment in der Schisaison, während sie selbst nach Kenia oder Marokko ziehen, um zu laufen.

„Warum ausgerechnet Marokko?“, frage ich ihn.

„Wir sind eben sehr spontan“, antwortet er. „Wir folgen einfach unserem Herzen. Wir wollten irgendwohin, wo es im Februar und März warm ist, und überlegten, was da in Frage käme? Als wir dann dort ankamen, war es bitterkalt.“

Trotz des überraschend kalten Wetters entpuppte sich das Folge-deinem-Herzen-System als Volltreffer. Einige Monate bevor er an meiner Türe steht, wurde Tom dazu auserkoren, bei den Trail-Weltmeisterschaften für Großbritannien an den Start zu gehen. Ein britisches Trikot überzustreifen war schon immer sein Kindheitstraum und gerade als er nicht mehr daran zu glauben wagte, wurde der Traum wahr. Seine Mutter und Rachel reisten extra aus Portugal an, um ihm beim Rennen zu unterstützen.

„Das war der glücklichste Tag meines Lebens“, sagt er mit leicht zittriger Stimme. „Im Ziel habe ich dann sogar geweint.“


Wir verlassen mein Haus um sechs Uhr am nächsten Morgen und fahren entlang der engen Landstraßen zum Rennstart. Eigentlich sollte ich navigieren, doch ich sage den Weg immer wieder falsch an, da ich mehr damit beschäftigt bin, die richtige Musik vor dem Rennen zu finden, um in Stimmung zu kommen.

Der offizielle Parkplatz ist eine große Wohnsiedlung am Rande eines Dorfes, nur wenige Kilometer von der Küste entfernt. Als sich die zu dieser Zeit normalerweise menschenleeren Straßen mit Autos füllen, sich die Wagentüren nach und nach öffnen und Männer und Frauen in engen Laufhosen und Laufjacken aussteigen, kommt es einem so vor, als fände hier eine Invasion im Morgengrauen statt, während die Dorfbewohner noch schlafen. Jeder unwissende Anrainer, der einen Blick durch das Fenster riskiert, kann sich nur darüber wundern, was hier abgeht. Am Ende der Straße stellen sich die Läufer bereits an und warten auf die Busse, die uns an den Start bringen sollen.

Einige versuchen ein bisschen Konversation zu betreiben. „Hast du den Regen gestern mitbekommen?“ Doch niemandem ist so wirklich nach plaudern zumute. Es zeichnet sich schon langsam ab, was da vor uns liegt, und es ist schwer, nicht daran zu denken. Tom kaut auf einem Fruchtriegel herum. Vor sechs Tagen war er noch beim Marrakesch Marathon gelaufen, wo er für die Topathletinnen 30 km lang den Tempomacher gab, bevor er dann nach 2 Std 35 Min ins Ziel „joggte“. Er fühle sich müde, meint er, und hätte sich auch keine Renntaktik überlegt.

„Manchmal gebe ich auf den ersten paar Kilometern so richtig Gas und lasse es danach lockerer angehen“, sagt er.

„Um gleich einmal allen das Fürchten zu lehren?“

Er lacht. „Ja, so in etwa.“

Rundum sieht man andere Läufer, die ihn genau mustern. Er sieht einfach schnell aus, auch wenn man nur kurz hinsieht. Er ist dünn, drahtig, aber da ist noch mehr. Er sieht fast so aus, als käme er von einem anderen Stern. Diese graue Eintönigkeit, die sich schon einmal über den Arbeitsalltag legt, die unsere Haut blass und unsere Augen müde macht, scheint er nicht zu kennen. Mit seinen feuerroten Haaren und einer allgemein fröhlichen Ausstrahlung, sieht er aus wie ein Superheld in einem Comic.

Im Anmeldezelt steht ein Mann mit einem Clipboard und fragt Tom nach seinem Nachnamen. „Payn“, antwortet er. Er hat sogar den Namen für einen Superhelden – obwohl der fast schon wieder etwas bedrohlich klingt.

„Guter Name für einen Ultra-Läufer“, sagt der Mann mit dem Clipboard.

Nachdem wir uns auf unserem Weg hierher so oft verfahren hatten, haben wir keine Zeit mehr, um uns aufzuwärmen, und bevor wir es uns noch versehen, werden wir bereits and den Start gerufen. Ich folge Tom nach vorne und stehe neben ihm in der ersten Reihe, in der Mitte unter dem Startbogen. Ich genieße es kurzfristig, ein wenig von seinem Ruhm zu profitieren, und sehe die nervösen Blicke, die uns die anderen zuwerfen. Ich klopfe ihm noch einmal freundschaftlich auf die Schulter.

„Gehen wir es an!“

Der Countdown ist bereits im Gange. Drei, zwei, eins … jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die Reise nach Chamonix und zum UTMB hat begonnen.


Tom sprintet über das Feld, als hätte er den Herd zu Hause angelassen. Keiner geht nach. Alle sehen nur dabei zu, wie er durch die Hecke am anderen Ende des Feldes hindurchsticht und das ist auch das Letzte, was man von ihm in diesem Rennen sieht.

Ich lasse mir Zeit, achte darauf, es nicht zu schnell anzugehen, und jogge den ersten Anstieg langsam hinauf.

Auf der anderen Seite kommen wir an einer Klippe heraus, unter uns das Meer, weit und wild, die Wellen brechen sich an den Felsen. Das Wetter ist recht ruhig, doch der Boden ist nass und glitschig. Die ganze Woche wurde die Küstenregion von Wind und Regen heimgesucht und die Wege sind komplett durchtränkt. Ein paar Tage zuvor hatte der Wetterbericht noch heftigen Regen und heftige Stürme vorausgesagt. Glücklicherweise ist der Sturm inzwischen abgeflaut, doch seine verheerenden Auswirkungen sind beim Laufen spürbar.

Meine Trailrunning-Schuhe sind leider nur für trockenen, festen Boden geeignet, nicht für Schlamm. Ich verwende sie, da die meisten meiner Trainingsläufe auch über Straßen führen und die strapazierfähigeren Schuhe fühlen sich auf hartem Untergrund genauso unangenehm an wie Stollenschuhe. Deswegen war ich der Meinung, dass diese Schuhe ein guter Kompromiss wären, doch ich rutsche nur hin und her. Somit setze ich mir als Priorität, das Rennen zu beenden, ohne mir dabei die Knie an den spitzen Felsen entlang des Weges aufzuschlagen.

Das relativ niedrige Tempo auf den ersten 10 Meilen (16 km) bedeutet auch, dass ich – wenn ich nicht gerade auf den Boden blicken muss, um Stürze zu vermeiden – die Landschaft genießen kann, die schroffen Klippen und sandigen Buchten, das aufgewühlte Meer, dessen salziger Geruch in meine Nase dringt, die Gischt der Wellen, die wie ein Sprühregen über den Pfad hinwegfegt.

Der erste richtige Hänger kommt bei etwa 10 Meilen (16 km). Ich hole einen Proteinball aus meiner Tasche und beiße ein paarmal ab. Eines der gängigsten Dinge, die ich während meiner ersten Recherchen über den Ultra-Sport höre, ist, dass es im Grunde „ein Esswettbewerb mit etwas laufen dazwischen ist“. Während eines Ultra-Marathons verliert man Energie und die muss durch Essen ersetzt werden. Bei kürzeren Ultras geht es schon einmal, dass man mit ein paar Päckchen Energiegel auskommt, aber von zu viel Gel kann einem nach einiger Zeit ziemlich übel werden. Es ist also besser, richtige Nahrung zu sich zu nehmen. Das ist natürlich nicht so einfach, wie es sich anhört. Nicht nur, dass laufen und gleichzeitig essen eine Herausforderung ist, so kann dies auch zu Magenbeschwerden führen. Man muss es also trainieren und herausfinden, welche Nahrung am besten für einen selbst funktioniert. Wie ich später bei einigen meiner längeren Rennen herausfinden werde, kann es schwierig werden, nach 10, 20 oder gar 30 Stunden laufen etwas zu kauen oder genügend Speichel zu produzieren, um das Essen überhaupt schlucken zu können.

Doch im Moment ist essen kein Problem. Während ich so vor mich hin trabe, ist meine größte Sorge, dass irgendeines meiner kleineren Wehwehchen plötzlich aufflammt. Es gibt kaum einmal einen Trainingslauf oder ein Rennen, bei dem nicht irgendwo etwas ein wenig zwickt, und so habe ich Angst davor – wie im Oman – wieder neben der Strecke zu sitzen, während mir jemand im Vorbeilaufen zuruft: „Komm, mach weiter. Du schaffst das.“

Aber meine Beine fühlen sich noch gut an und ich beginne die ersten Läufer zu überholen. Vielleicht war ich bis jetzt doch zu langsam unterwegs. Ich rechne mir aus, dass ich ungefähr an achter Stelle liegen muss und setze mir aus irgendeinem Grund das Ziel, dieses Rennen in den Top 10 zu beenden. Ein Ziel, das mir spontan in den Kopf kommt, und jetzt, wo es einmal da ist, wie in Stein gemeißelt ist. Rennziel: Top 10.

Und so beginne ich das Rennen richtig anzugehen. Als ich anhalte, um mich kurz hinter einem Busch zu erleichtern, und mich dabei zwei Läufer überholen, mache ich mich sofort wieder hinter ihnen her und überhole sie. Während andere Läufer bei einer Wasserversorgungsstelle anhalten, um ihre Flaschen aufzufüllen oder sich ein paar Kekse greifen, bleibe ich in Bewegung, um weiterhin Boden gut zu machen.

Nach etwa 14 Meilen (22 km) führt der Kurs ins Landesinnere, hinweg über matschige Felder, uralte ungenutzte Feldwege und ein paar normale, asphaltierte Straßen. Gelegentlich laufe ich neben jemandem her und wir beginnen zu plaudern. Es ist eigenartig, während eines Rennens noch genug Energie zu haben, um reden zu können. Die Müdigkeit ist in den Beinen, im Körper, aufgrund der Hügel, des tiefen Bodens und der Zeit, die man sich auf den Beinen befindet. Doch diese Atemlosigkeit, das Nach-Luft-Schnappen, wie man es von kürzeren Rennen her kennt, ist nicht da.

Und so unterhalten wir uns eben, bis einer einen Abhang schneller hinunterläuft oder eine Trinkpause einlegt, und dann bin ich wieder allein, umgeben nur von Gras, Bäumen und Kühen. An einem Punkt passiere ich eine Jagdgesellschaft. Die Reiter in ihren roten Jacken sehen verächtlich auf mich herab, als ich mich vorbeikämpfe, während die Hunde aufgeregt umherlaufen. Ich kann nur hoffen, dass sie mich nicht für ein verwundetes Tier halten.

Ich erreiche die 38-Kilometer-Marke in knapp über vier Stunden und beschließe, nicht länger zu versuchen einen Platz unter den Top 10 zu erreichen, sondern das Rennen unter sechs Stunden zu beenden. Ich fange an zu leiden, meine Schritte werden immer kürzer, so, als ob sich ein unsichtbares Band immer weiter um sie zusammenzieht. Ich will mich nicht mehr um Läufer sorgen, die an mir vorbeilaufen, sie werden es sowieso tun. Aber ich brauche etwas, auf das ich mich fokussieren kann.

Einige Wochen zuvor bemerkte ich, dass der Streckenrekord der Frauen bei 6 Std 6 Min lag und jemand, der meinen Kommentar auf Twitter über das Rennen gelesen hatte, schrieb mir, dass ich doch versuchen sollte, diesen Rekord einzustellen. Also streiche ich das Ziel unter die Top 10 zu laufen und ersetze es mit dem neuen Ziel, das Rennen in unter sechs Stunden zu beenden. Eine schöne runde Zahl. Dazu muss ich nur die letzten 10 Meilen in zwei Stunden absolvieren. Das müsste eigentlich möglich sein. Sollen die anderen doch ruhig an mir vorbeilaufen, wenn sie wollen.

Warum brauche ich überhaupt ein Ziel? Warum nicht einfach laufen? Reicht es nicht, ins Ziel zu kommen. Ich weiß nicht genau, aber nur ins Ziel kommen, naja, das kann ich auch, wenn ich gehe. Aber irgendetwas tief in mir weiß, ich wäre von mir selbst enttäuscht, wenn ich nur gemütlich ins Ziel schlenderte. Ich muss mich pushen, deswegen bin ich hier. Ich muss mich dazu zwingen, zu kämpfen, mich mit den anderen messen. Sonst wäre das alles nur ein langer Spaziergang, ein Tag im Freien. Und das fühlt sich nicht richtig an. Das ist ein Rennen und ich muss es auch so angehen.

Die nächsten Kilometer geht es komplett flach dahin, entlang eines exponierten Stücks Strand. Das Dorf am Ende will irgendwie nicht näherkommen und ich quäle mich weiter. Meine Beine schmerzen, meine Körperhaltung ist gebeugt, ich schlurfe vor mich hin. Mein Anblick muss erbärmlich sein. Von jetzt an ist es auch eine mentale Herausforderung, nicht mehr nur eine physische. Ich muss die negativen Gedanken vertreiben, wie ein Küchenjunge, der das Ungeziefer mit dem Besen aus der Küche jagt.

„Vielleicht bin ich doch nicht dafür geschaffen.“ … „Ich bin eben kein harter Kerl, warum also vorgeben einer zu sein?“ … „Denk doch mal, wie toll es wäre, jetzt einfach aufzuhören.“

Komm! Komm! Hopp! Hopp! Die Tatsache, dass mein Körper noch zusammenhält, gibt mir Kraft. Nichts ist gebrochen oder gerissen. Und da ist auch der Umstand, dass ich nach viereinhalb Stunden noch immer laufe und nicht gehe.

Nach dem langen Stück Strand geht es noch einmal zurück zu den Klippen, bergauf und bergab. Die Anstiege fordern nun wirklich ihren Tribut und zwingen mich größtenteils zwischen laufen und gehen abzuwechseln.

Um dann noch einen draufzusetzen, führt die Strecke nach 27 Meilen (43 km) am Ziel vorbei und geht dann noch einmal auf eine sieben Meilen (12 km) lange Schleife. Eine Welle an Emotionen überkommt mich, als ich durch das kleine Küstendorf namens Beesands laufe, wo ich am Ziel vorbeikomme. Ich halte Ausschau nach Marietta, die sagte, dass sie vorbeikommen würde, um sich das Ende des Rennens anzusehen. Plötzlich will ich eine Umarmung, jemanden, der mir sagt, dass ich es schaffen kann. Doch ich kann sie nirgendwo erblicken. Mir kommen beinahe die Tränen, als ich unser geparktes Auto sehe, doch kein Anzeichen von Marietta. Und um es noch schlimmer zu machen, gibt es auch niemanden anderen, der mir etwas als Aufmunterung zuruft. Die Zuschauer versammeln sich am Zieleinlauf, parken ihre Wägen, kaufen ihre Fish & Chips, legen ihre Hunde an die Leine. Doch mich bemerkt anscheinend niemand. Mir ist zum Weinen.

„Dafür ist es noch zu früh“, sage ich mir und reiße mich noch einmal zusammen. Als wir die letzte Schleife angehen, überholt mich einer der anderen Teilnehmer, dann noch einer. Ich will nicht, dass mich jetzt noch eine Horde anderer Läufer überholt, nicht nach alldem, was ich durchgemacht habe. Also beiße ich die Zähne zusammen und laufe weiter. Einige verzweifelnd langsame Kilometer bergauf über Hügelkuppen gefährden mein Ziel von sechs Stunden. So quäle ich mich weiter. Gott, nimmt das denn kein Ende? Irgendwie überholt mich nun niemand mehr. Wo sind die alle hin? Ich habe Angst davor, dass jemand in der Ferne hinter mir auftaucht. Wie ein entflohener Verbrecher, der hofft, dass seine Verfolger weit weg sind. Doch jedes Mal, wenn ich einen Blick zurückwerfe, ist der Weg leer.

Meine Füße sind aufgeweicht, mein Wasservorrat aufgebraucht, meine Beine sind keine Beine mehr, sondern zwei Eisenstangen, die mit meiner Hüfte verbunden und festgerostet sind. Meine Arme bedienen die Hebel dieser Maschine, aber trotzdem bewegen sich meine Beine kaum.

Und dann, über einem der vielen schlammigen Pfade sehe ich ein wunderschönes Schild. Darauf steht: „Noch 1 Meile.“ Ich blicke mich um. Noch immer ist niemand hinter mir. Ich sehe mich bereits über die Ziellinie fallen und im Gras liegen.

Und weiter geht es. Nur mehr bergab. Als ich über das letzte Feld laufe, dort wo ich Stunden zuvor gestartet war, finde ich mich plötzlich unter Läufern, die den Marathon und den Halbmarathon beenden, die beide zur selben Zeit abgehalten wurden. Ich will freie Bahn bis zum Ziel und so sprinte ich bergab in Richtung einer Lücke. Macht Platz für den Ultra-Läufer! Ich schaffe es, ich fliege über die Ziellinie und falle ins weiche Gras. Marietta ist auch da. „Großartig, großartig.“ Sie macht Fotos und lächelt. Es ist vorbei. „Tom bekommt gleich seinen Preis verliehen“, sagt sie.

Ich blicke über meine Schulter auf den Mann mit dem feuerroten Haar und der hellen gelben Weste.

„Und unser Gewinner“, dröhnt eine Stimme über den Lautsprecher, „mit einem gewaltigen Vorsprung von 23 Minuten auf den Zweitplatzierten ist Tom Payn.“

Ein höflicher Applaus geht durch die Menge. Ich setze mich auf. Wir haben es geschafft. Wir haben es verdammt nochmal geschafft.


Und damit bin ich offiziell ein Ultra-Läufer. Schlussendlich habe ich sogar beide meiner selbsterkorenen Ziele erreicht: Ich belegte den 10. Platz in 5 Std 51 Min. Ein toller Beginn. Trotz all der Schmerzen ist mein Körper noch ganz. Wir humpeln hinunter an die Küste und holen uns ein paar Pommes, bevor wir ins Auto hineinkriechen und nach Hause fahren. Als wir den Parkplatz verlassen, sehe ich einen Läufer, der gerade an uns vorbeikommt. Ich erinnere mich, wie ich hier vorbeilief, ohne Jubel, noch 7 Meilen vor mir.

„Komm, schon“, rufe ich ihm vom Auto aus zu. „Du schaffst das.“

Der Mann blickt auf. An meinem müden Gesicht und der Medaille um meinen Hals sowie der Tüte Pommes Frites, erkennt er wohl, dass ich bereits fertig und am Nachhauseweg bin. Er lächelt.

„Bastard“, ruft er.

1Siehe: Im Land des Laufens und The Way of the Runner.

Der Aufstieg der Ultra-Läufer

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