Читать книгу Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf Dr. Küster - Страница 5
ОглавлениеJanuar 1936
Welchen Schlafanzug nehme ich denn mit? Hier, diesen blau-weiß gestreiften, aus Zellulose? Der glänzt so schön.
Lust hab ich nicht für einen Groschen. Hätte mich lieber in den letzten Ferientagen mit meinen Weihnachtsgeschenken, den Büchern “Oliver Twist“ und „Anna Karenina“ von der nervenden Familie zurückgezogen und mir zwei gemütliche Tage in meiner Zimmerecke gemacht.
Eigentlich fahre ich nach Solbach, diesem Nest, nur aus Mitleid. Ich denke mir, ich bin der einzige Freund, den Willi in der Klasse hat, „Bonzo“ nennen wir ihn; den fetten Moppel. Ich schätze, Bonzo wiegt 2 Zentner und auch mehr. Wenn der mich so bettelnd ansieht, werde ich weich. Auf Mitleid reagiere ich prompt. Aber mal ehrlich: wie kann man sich nur so vollfressen? Was der liebe Willi auf meinem Geburtstag so alles in sich hineingestopft hat, wir alle konnten nur staunen.
Heute holt Willi mich so gegen 11: 00 Uhr mit einem Firmenauto seines Vaters ab. Die Fahrzeuge beliefern laufend die Filiale „Landbäckerei Ötkers“ in der Kanal-Straße. Halb Rottlingen sich dort seinen frischen Apfel- Schmand Kuchen; eine Spezialität der Ötkers. Im Gegensatz zu den Postautos verkehren die Lieferwagen der Landbäckerei häufiger. Und für ein freundliches Dankeschön nehmen die jeden Solbacher mit, wenn man die Chauffeure lieb darum bittet. In das Postauto, das nur dreimal täglich verkehrt, steigt oft keine einzige Solbacher Seele ein.
Wäre es Sommer, ich wäre mit dem Fahrrad gefahren. 8 km - keine Hürde. Aber heute Morgen, wo es die ganze Nacht geschneit hat, bei nahezu zwei Meter Schneehöhe, kein Gedanke dran. Die Autos wühlen sich durch den Schnee, mit schlackernden, klickenden Schneeketten. Gott sei Dank ist die ganz strenge Kälte vorüber, das waren zum Teil minus 32º. Ein Rekord. Zuletzt wollte keiner mehr Schlittschuh laufen, selbst dein Atem gefror zu Eis. Leider haben viele Vögel und Tiere diese extreme Kälte nicht überlebt.
Gegen Willis Aussehen kann man eigentlich nichts haben. Er ist nicht klein und seine prallen Beine sind keine X-Beine, obwohl er gern ein wenig breitbeinig dahin latscht. Sehr ebenmäßige, sympathische Gesichtszüge hat er, wie überhaupt die meisten Dicken. Seinen Bauch streckt unser Bonzo arglos heraus. Wie eine Schwangere. Ich habe ihn mal gefragt, wann er entbindet. Hinterher hat’s mir leidgetan. Sein miesepeteriger Vater übrigens ist genau so dick, und schwer zuckerkrank. Kein Wunder.
Mich hat’s neugierig gemacht, was der Willi mir alles vorgefaselt hat. Von einer Elli, ihrer Dienstmagd in Solbach. Die Magd, die selten mehr sprechen soll als, Ja und Nein oder Danke! Als ich im letzten Sommer eine Radtour nach Solbach machte, bin ich ihr nicht begegnet.
Mit sechs Stück Schmand-Kuchen im Einkaufsnetz ist Willi damals im Sommer mit mir auf die Luisen-Höhe in die Solbacher Heide geradelt. Man hat von dort einen schönen Blick auf das rote Fachwerkdorf, mit seiner ehrwürdigen Feldsteinkirche. Es gibt auf der Luisen-Höhe eine Aussichtsbank. Im Schatten von drei Birken. Dort wollten wir uns über den herrlich duftenden, frischen Schmand-Kuchen hermachen.
Als ich mich setzen wollte, schrie mich der Willi an. Mit ernster Miene und drohend gestrecktem Zeigefinger: „Halt, bist Du auch kein Jude?“ Tatsächlich zierte ein neues Schild die Bank: „Nur für Arier.“ Herzlich lachen mussten wir beide. Ich fragte den Willi, was denn im Schmand-Kuchen drin wäre. “Ach das Rezept hat mein Großvater aus Herberhausen mitgebracht“. Das ist ein Dorf, ganz in der Nähe von Göttingen, wo er herstammt. „Dort bezeichnet man die saure Sahne, als „Schmand“. Und du weißt ja wie man saure Sahne erzeugt?! Man führt Milchsäurebakterien zu. Wir machen sie selber.“ Bakterien? Igitt“. Nein, das wusste ich nicht.
An diesem Nachmittag, auf der Bank, inmitten blühender Heide, hat er mir alles Mögliche von der Elli „vorgebrubbelt“. Der Willi verschluckt zu gern die Endsilben. Wahrscheinlich ist er deshalb so dick.
“Verrätst du mich auch nicht?“ Ich musste hoch und heilig schwören, dicht zu halten. Ich hatte den Eindruck, dass dem Willi sehr viel daran liegt, dass die zu Hause nichts mitbekommen. Wenn es stimmt, dann schleicht er sich beinahe täglich in den Stall zu Elli. Angeblich befummelt er sie dort.
“Bumst du sie da auch?“, hab ich ihn gefragt. “Bist du verrückt, die lässt sich doch nicht“, hat er nur geantwortet. Nun ja, ich werde sie ja nachher erleben. Übrigens, diese Elli soll jedes Mal tieftraurig, ganz krank sein, wenn eines ihrer Lieblinge geschlachtet wird. Sie füttert und pflegt die Schweine mit viel Liebe. Ich kann mir schon denken, dass man sich auch an Schweine sehr gewöhnen kann. Weshalb man das, was die Ötkers morgen vorhaben, ausgerechnet ein „Schlachtefest“ nennt, zu dem mich der Willi unbedingt haben will, ist mir nicht erklärlich. Ich hab noch nie erlebt, wenn ein so großes Tier getötet wird. Deshalb hab ich vor dem morgigen Tag auch ordentlich Bammel.
Die Fahrt durch den hohen Neuschnee war abenteuerlich. Kurz vor Solbach mussten wir einem entgegenkommenden Lastwagen ausweichen, und schon saßen wir fest. Weil wir auf Eis standen griffen die Reifen trotz Ketten nicht. Mit ein paar Schaufeln Sand aufs Eis und dem kraftvollen Geschiebe von Willi und mir, ging die Fahrt dann schließlich erfolgreich zu Ende. Und nun bin ich in Solbach und sogar ganz froh, mal aus Rottlingen heraus zu kommen.
Ich staune, als Bonzo mir stolz sein Zimmer zeigt. Es ist riesengroß, im Vergleich zu meiner kleinen Bude. Es liegt in der ersten Etage vom sogenannten „Alten Bauernhof“. Im Parterre leben die Eltern. Hier im Hof, im zum weißgekachelten umgebauten Schlacht- und Kühlhaus, dem ehemaligen Pferdestall, soll morgen geschlachtet werden.
Willis Vater, der bullige, bärbeißige Karl Ötkers, hat mir umständlich erzählt, wie er gleich nach dem Weltkrieg, das „Bäckerhaus“ an der Straße, errichtet hat. Nach modernsten Richtlinien, und gleich mit Abwasserklärung für beide Häuser.
“Kein anderes Haus in Solbach verfügt über moderne Spülklosetts.“
Ich ahne, dass der behinderte, fleischliche Kollos, der mit hochgelagertem rechtem Bein im dunklen Wohnzimmer hockt, für diese „Heldentat“ gelobt werden will. „Gratuliere, das war sehr fortschrittlich. Auch in Rottlingen gibt es noch eine Menge alter Plumpsklos.“
Willi hat mir alles vorgeführt. Im sogenannten „Neubau“ befindet sich der große, helle Verkaufsraum der Bäckerei, der das ganze Parterre einnimmt. Im Garten angebaut, die imposante, moderne Ötkersche Backstube mit vier Gehilfen-Wohnräumen darüber.
Im Neubau in der ersten Etage residiert Willis energischer Bruder Gerhard. In meinen Augen ein ‛Lackaffe’, zwölf Jahre älter, mit seiner sympathischen Frau Anne.
Ich hab Willis Bruder im Sommer kennen gelernt. Da kam er im offenen flotten MG-Roadster mit weißen Glacéhandschuhen am Lenkrad auf den Hof geknattert und behauptete eben auf der Chaussee nach Rottlingen 150 km/h gefahren zu sein.
Soweit mir bekannt ist, hat dieser britische Wagen eine Höchstgeschwindigkeit von 130 Sachen.
Bruder Gerhard ist seit drei Jahren der Chef der traditionellen Bäckerei, weil die Zuckerkrankheit des Vaters diesem längeres Stehen unmöglich macht. Durch den langjährigen Diabetes bedingt, quälen ihn Durchblutungsstörungen und ein großes Unterschenkel-Geschwür. Das Bein sollte schon mehrfach abgenommen werden, aber der Alte will lieber die oft höllischen Schmerzen ertragen als eine Amputation. Der Willi hat mich eine ganze Stunde herumgeführt, und mich der ganzen Familie vorgestellt. Nur der Elli bin ich bislang immer noch nicht begegnet. Irgendwie kann ich mir denken, dass es dem Willi peinlich ist, nachdem er so viel über ihre ungewöhnliche Beziehung ausgeplaudert hat. Aber als es um 16: 00 Uhr langsam dunkel wird höre ich im Hof die Eimer klappern; und das infernalische Quieken der Schweine.
Das muss ich unbedingt miterleben! “Ah, Kurt, jetzt ist die Elli im Stall, wenn Du willst, dann kann ich Dir mal ihren ‛Wigwam’ zeigen. Der ist gleich gegenüber. Sie hat immer abgeschlossen, aber jetzt passt er, mein Ersatzschlüssel. Lange hab ich an dem Ding herumgefeilt. Anschließend gehen wir zu ihr in den Stall. Ist das ok?“
Oh, was hat der Willi für heiße Hände! Ohne meine Antwort abzuwarten, zerrt er mich auf den Flur und schließt leicht knackend das Zimmer auf, das seinem gegenüber liegt. Es wird durch eine brennende Öllampe schummerig erleuchtet und ich erschrecke fürs erste vor einem Gekreuzigten am Galgen. Aha, schießt es mir durch den Kopf, katholisch ist sie! Natürlich weiß ich, dass das ein Kruzifix ist, aber uns Evangelischen ist dieser Anblick wenig vertraut. Es riecht muffig-süßlich nach Petroleum, Lavendel und Rosenöl. Oder schnuppere ich zwischen allem Toska, das Parfüm meiner Mutter? Über einem hölzernen Kastenbett mit hohem Kopfteil, das wie eine Festung wirkt, hängt ein bescheidenes, kleines Regal mit nur wenigen Büchern.
Im Schummerlicht erkenne ich in golden glänzenden Buchstaben „Bibel“ auf einem Buchrücken. Dann „Anna Karenina“ von Tolstoi und eines mit einem schwer auszusprechenden Titel: „Summa theologiae“ von Thomas von Aquin. Und noch eines von Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Aber das habe ich noch nicht gelesen. Daneben ein dicker Wälzer in kyrillischer Schrift. Im Buch das Bild des Autors. Ich erkenne ihn. Ein schwarzer Schnurrbart und ein gewaltiger weißer Backenbart. Mir fällt sein Name nicht ein.
„Ist deine Elli Russin?“
„Wie kommst du denn darauf? Die ist eine Deutsche wie du und ich.“
„Hat die mal in Russland gelebt?“
„Weiß ich nicht.“
Teufel, ich bin perplex. So was hätte ich in dieser Kammer am wenigsten vermutet. Auf Willi macht meine Entdeckung keinerlei Eindruck. Er ist ohnehin ein Dösbaddel, wie die Hamburger sagen. Ein richtiger Tollpatsch. Seine Elli ist mit Sicherheit keine Dienstmagd. Ich vermute, die Polizei ist hinter ihr her.
Eine hohe Funktionärin der Kommunistischen Partei könnte sie sein? Alle Führungskräfte der KPD sind in Konzentrationslagern gelandet.
Der dicke Willi amüsiert sich lieber mit einer schneeweißen Monatsbinde, die er über seinen Dickschädel zu zerren versucht, was freilich nicht gelingen kann. Es schaut lustig aus, wenn er bei allem seine Grimassen schneidet.
„Komm, wir müssen! Sie ist schon dabei, die Kühe zu melken.“
„Rutsch, rutsch“ hat mein ‛Bonzo’ die Kammertür wieder verschlossen und rennt nun die Treppen herunter. Im Dämmerlicht des mir unbekannten Hauses, mit seinen engen Treppen, fällt es schwer ihm zu folgen.
Beim Lauf über den Hof höre ich eine kleine Schweineherde, die genüsslich ihr Futter schlabbert.
Bonzo läuft hinüber zum Kuhstall und reißt die Tür derartig temperamentvoll auf, dass jede der 6 Kühe den Kopf zu uns Störenfrieden dreht. Zwischen den Kühen hockt die melkende Elli. Man sieht es ihr an, dass sie ‛Polterjochen’ im Kuhstall verabscheut. Ihre Augen funkeln zornig
*****
“Wie findest du den Stotterer Witz?“
„Welchen meinst du? Erzähle ihn doch noch mal. Ich vergesse Witze so leicht.“
„Gut. Ein Jahr nach Ende der Schulzeit treffen sich zwei alte Schulfreunde auf der Straße wieder. Der eine ist enttäuscht, dass der andere noch immer stottert.“
„Mensch, wozu gibt es Sprachtherapeuten.“ Sein Freund verspricht einen aufzusuchen. Sechs Monate später begegnen sie sich wieder und der Stotterer empfängt ihn strahlend mit dem bekannten Satz: „Fischers Fritz fischte frische Fische“. Vollständig fehlerfrei.
„Bravo“, sein Freund klatscht in die Hände. Der andere wiegelt ab und sagt: „pp passt aaber nnicht iimmer!“
Ich finde diesen Witz ganz gut. Ach, es ist schon merkwürdig. Bei vielen Witzen geht es ungerechterweise gegen die Mädchen. Bei denen vergeht mir das Lachen. Ich bin Kurt Rübnitz , 14 Jahre alt, das jüngste Kind in der Familie Rübnitz. Ich halte wohl zu viel von den Langhaarigen.
"Bei Witzen, mit Mädchen-Kränkungen, melden sich in mir meine beiden Schwestern “Malu“, Marie-Luise und “Bienchen“, Sabine. Und schon verdampft alle Häme und Schadenfreude.
Aber da fällt mir noch ein Judenwitz ein, den sich die Juden selbst gern erzählen.
Beim Großdeutschen Rundfunk in Hamburg meldet sich ein jüdischer Abiturient in der Hoffnung , dort ein Radiosprecher zu werden. Was er selbst nicht wahrhaben will, er hat einen Aussprachefehler.
Statt Deutschland sagt er immer „Deutschand“. Er wird zum Vorsprechen geladen. Siegesbewusst spricht er vor und wird abgelehnt.
„Weshalb hat man dich nicht genommen?“ wird er gefragt.
„Alles Antisemiten.“
Noch ein Witz!
Jetzt hab ich, der Kurt noch mal den schwarzen Peter. Gedanken fegen mir durchs Gehirn, wie rasende Eisenbahnzüge. Ja, sakra, welchen nehme ich denn nur? Meine Schwäche kenne ich nur allzu gut. So auf Anhieb versagt mein Gedächtnis gern den Dienst.
Hier, vielleicht dieser? Ein harmloser Witz, der ginge halbwegs. Leider auch wieder so ein doofer vom Schwein. Beileibe keiner meiner Knüller. Ach, wenn mir jetzt doch nur ein einziger davon in den Sinn käme!
“Die Mutter fragt ihre Tochter, weshalb legst du dem Onkel Hugo kein Gedeck auf?“
“Na, du hast doch selber gesagt, Onkel Hugo frisst wie ein Schwein.“
“Ha, ha, einen besseren hast du wohl nicht auf der Pfanne, was?“
Der gleichaltrige Samuel Wieser, „Sami“, wie ihn seine Freunde nennen, findet den Kurt eigentlich ganz in Ordnung. Er ist froh ihn gefunden zu haben, nach der Umsiedlung. In seiner Gegenwart fühlt er sich sauwohl. Ihr Zusammensein gibt ihm auch eine Menge und, was wichtig ist, ihre Interessen decken sich.
Aber klar: Kurt ist nicht in Hamburg aufgewachsen. Das merkt man. Da fehlt eine Menge. Nicht nur der hamburgische Dialekt. Aber das Fehlen des nordelbischen Singsangs empfindet Sami nicht als Manko.
Nein, diesem ’Provinzler’ fehlt vielmehr diese gespielte Gleichgültigkeit seiner Hamburger Altersgenossen und deren humorvolle Rotzigkeit.
Hamburg! Mensch, mein Hamburg! Hamburg kann man nicht einfach so erklären. Hamburg ist eben ganz anders, als hier in der Heide.
Wenn ich an Hamburg denke, sehe ich vor mir die vielen tuckernden, laut tutenden Schlepper, Kähne und Schiffsriesen. Ganz viele, hohe stählerne Kräne am Kai. Umflogen von Möwen, diesen Kunstfliegern, die jedermann bewundert.
Und ich sehe vor mir hübsche Mädchenbeine, die zu kichernden, blonden Wesen gehören, die fröhlich durch tiefe Häuserschluchten flanieren und nach überall Ausschau halten.
Und ich rieche das Meer. Aber auch den Qualm der vielen Schornsteine und den Dieselgestank. Ich sehe blaue Matrosen aus aller Welt, die nicht selten, auf sehr wackeligen Beinen, ihre gesamte blaue Existenz mit Mädchen, Schnaps und Bier vervollständigen.
Aber besonders wir Jugendlichen sind wohl aus einem anderen Holz geschnitzt. In Barmbek ist Klauen zurzeit ein angesagtes Spielchen. Aber nicht nur Essbares wird geklaut, nein, in Kaufhäusern geht es manchmal richtig zur Sache: Klamotten, Uhren, Schmuck, Taschenmesser, sogar Fotoapparate sind für uns ein begehrtes „Klaugut“.
Ich sehe noch Kurts ängstliche Hasenaugen vor mir. Wie die Pupillen immer größer werden, als ich ihm vom Klauen erzähle. Natürlich gibt’s eins drauf, wenn man erwischt wird, aber trotzdem: der Kurt ist ein ganz schönes Weichei. Tut mir leid, aber das muss gesagt werden. Anscheinend fehlen ihm die Hormone, oder was auch immer.
Er war mit seinen 14 Jahren tatsächlich noch nie in einer Puffstraße, obwohl es in Rottlingen eine gibt. Das muss man sich mal vor Augen führen. Mit einem Meter und Achtzig, ist man doch mehr als erwachsen, oder? Dem Kurt möchte man zurufen: Kurt bist du erst mal ausgewachsen, schadet dir die Vögelei keineswegs.“ Auf jeden Fall ist sie besser als die ewige Wichserei. „Das müssen wir schleunigst nachholen“, habe ich ihm schon angedroht.
In Barmbek habe ich mal als 13-Jähriger, damals war ich gerade erst ein Meter sechzig groß, mit viel Herzklopfen, eine Nutte im Koben angesprochen, es war schon dunkel. Vatis Hut hatte ich mir tief vors Gesicht gezogen. Hat mir aber nichts genützt.
„Warte noch zwei, drei Jährchen“, hat sie freundlich lächelnd zu mir gesagt. „Dann kommst du zu mir, ich freue mich schon drauf.“ Und ich sage euch, die hatte ein Paar Titten! Bei der geht einem das Taschenmesser in der Hose auf. Ich war richtig froh als der Kurt gestern sagte: „So, dann bis morgen, bei euch um 9: 00 Uhr“.
*****
Ich stellte meinen Rappelwecker auf 8.00 Uhr. Und dann, welcher glückselige Weltuntergang heute früh. Ich lag im allersüßesten Traum meines bisherigen Lebens.
Mit viel Überredungskunst schaffe ich es voll Leidenschaft und Eifer, mein Patengeschenk endlich dort unter zu bringen, wo man es als Jüngling unbedingt hin haben will. Das mir völlig unbekannte Mädel, es war warm, weich, zärtlich, anschmiegsam und sehr freundlich zu mir.
Und in diese Glückseligkeit rappelt dieser Höllenhund von Wecker. Meine Hochgefühle stürzen ab, wie Steinschlag im Gebirge. Ich hätte heulen können wie ein Kind, dem man seine Mutter für immer genommen hatte.
Bei Sami, diesem betont lässigen Hamburger, sieht es so aus, als habe er eigentlich durchgehend gute Laune.
Kein Außenstehender ahnt wie zerrissen er ist. Wie sehr er auf der Suche nach Ausgeglichenheit und Glücksgefühlen ist, die sich nicht mehr einstellen wollen, seit seine Pickel blühen und er von Geilheit geplagt ist. Obendrein steht die Angst seinen Gelüsten im Weg.
Und dann jede Nacht diese wollüstigen Versteifungen. Sie beunruhigen ihn mehr, als dass sie ihn erfreuen.
Am Morgen des ersten Tages der Sommerferien war er erst einmal sehr muffelig, als er vom Gärtnerhaus herübergetrottet kam. Brachte kaum ein Wort heraus. Aber jetzt ist er wieder der alte Sami, herrlich übermütig.
Sami umfasst, neugierig taxierend, Kurts prallen Oberarm, und Kurt macht das, was in solchen Prüfungen alle Jünglinge zu tun pflegen: die gepresste Faust wird langsam zum Gesicht geführt, damit sich der Bizeps zur druckfesten Melone wölbt. Sami nickt anerkennend.
Dass der Kurt gottlob, einen, eine Winzigkeit weniger imponierenden Bizeps aufzuweisen hat, das beruhigt Sami ungemein.
Überhaupt, hier draußen im Freien, ohne das nie abreißende Getöse der Großstadt, in klarer Luft, zwischen vielen Frühbeeten und Unkraut, beginnt Sami das andere Leben zu genießen. Ob er allerdings jemals auf die Landungsbrücken, auf St. Pauli, St. Georg, Hagenbecks-Tierpark und die Reeperbahn wird verzichten können, das muss sich erst noch erweisen.
Heute freut er sich in der Gärtnerei über die vielen kleinen Bäumchen, die in diesem Jahr rasch hochgeschossen sind und ihm schon zum Bauchnabel reichen. Hätten sie feste Nadeln, wären es kleine Weinachtbäumchen. Aber so, wie sie wachsen; mit ihren weichen, hellgrünen, pfeilförmigen Blättern und grünem Samen, sind sie nichts als gewöhnliches Unkraut, dessen Namen aber nur Kurt kennt.
Anders beim „Landraub“ spielen, hier stellt sich Kurt, dieses Landei noch ein wenig blöd an. Sein Messer will einfach nicht aufrecht im Boden stecken bleiben. Der richtige Dreh fehlt ihm noch. Man darf nicht zu zögerlich werfen.
Allerdings ist die Erde nach 14 Tagen ohne einen einzigen Tropfen Regen ausgetrocknet und die Messer prallen leichter ab.
Mit dem nötigen Druck und richtigem Dreh das Messer zu schleudern, das ist die Kunst des Messerwerfens.
„Du Samuel, vor was hast du dich in deinem Leben am meisten geekelt?“
“Du stellst blöde Fragen!“
„Vor was hast du dich in deinem Leben am meisten geekelt?“
Samuel erzählt gern seine wahre Geschichte. Die hat noch nie ihre Wirkung verfehlt, wenn man sie nur spannend genug erzählt. Samuel hat für sich herausgefunden, dass man die Zuhörer so lange wie möglich auf die Folter spannen muss, dann hat man Erfolg.
“Ach, das war vor vier Jahren, 1932, dieser Jahrhundertsommer. Die Badesaison fing an, auch ich wollte ins Freibad. Im Herbst hatte ich meine Badetasche offen, achtlos im dunklen Keller stehen lassen. Mit Handtuch und Badehose.
Ich schnappe mir also die Tasche und merke zu meinem größten Schreck, „zack“, wie etwas über meine Hand hinweg huscht.
Verängstigt greife ich in die mir vertraute Tasche, höre es sogleich piepen, fühle was Warmes und auch Weiches, das drunten herumwuselt.
Schreiend vor Ekel schüttele ich die ganze Tasche aus und vor mir liegen zappelnd, 6 junge kleine, blinde, nackte Mäuse und ein völlig zerknabbertes Handtuch samt Badehose.“
“Uhä, ekelig.“ An Kurts maximal verzogenem Gesicht erkennt man seine Betroffenheit: „Da hätte ich aber auch geschrien. Und was hast Du mit denen gemacht?“
“Ich bin kopflos zu meinem Vater gerannt, der auf unserem Balkon die Blumen goss.
Vati ist dann mutig allein in den Keller gegangen. Was er mit den vielen Mäusen angestellt hat, wollte er mir später, trotz aller Bettelei, nicht verraten.
Ich weiß es bis heute nicht und nun will ich es auch gar nicht mehr wissen.“
“Du hast wohl deinen Vater sehr gemocht, was?“
Kurt stellt sich in diesem Moment vor, seinen Vati zu verlieren. Aber er schafft es nicht länger als 3 Sekunden.
So was kann man sich als 14-jähriger überhaupt nicht richtig vorstellen. Aber wenn es nun doch so wäre? Vor wenigen Jahren noch hing er unheimlich an seiner Mutter. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert.
Den Verlust seines Vaters – so empfindet er momentan, würde er kaum überleben. Das ist die reinste Katastrophe. Ohne ihn, würde er seiner derzeitigen Lebensangst, nicht Herr werden.
„Kurt, ich sagte es dir doch schon, manchmal könnte ich schreien, so sehr vermisse ich ihn.“
“Hast du ihn nach dem Autounfall noch mal gesehen? Als er tot war?“
“Nein, meine Mutter wollte das nicht. Er muss schlimm ausgesehen haben. Das Gesicht total zerschnitten. Als Mutter mir vor 3 Monaten eröffnete: „Wir ziehen nach Rottlingen“, da hatte ich eine große Wut und war verzweifelt
Dieses Kaff, da ist doch nichts los. Und dann liegt es auch noch in der Heide, wo sich Hasen und Füchse gute Nacht sagen. Rottlingen, wer kennt schon Rottlingen?
Ob sich der Kurt überhaupt vorstellen kann, wie schwer mir das fällt, bei keinem Spiel des HSV mehr dabei zu sein? Meinem heißgeliebten Fußballverein.
Mensch, was herrschte beim Spiel seines HSV immer für eine Bombenstimmung. Aber was blieb meiner Mama übrig? Sie musste umziehen. Ob sie wollte oder nicht.
Die Unfallrente meines Vaters ist nur winzig, davon können wir nicht leben. Nun haben wir diese Gärtnerei von Vatis Vater geerbt. Das war ein Segen.
Ich glaube anfänglich wollte Vati auch Gärtner werden. Aber dann hat er sich mit seinem Vater derartig verkracht, da war sein Traum zu Ende.
In Hamburg wurde er ein erfolgreicher Autoverkäufer, bis er sich dann in einem ’Horch’ überschlagen hat. Vor einem halben Jahr. Aus. Tot!
Lange Zeit wollte ich es nicht wahrhaben, ich ertrug es nicht, dass mein Vater nicht wiederkommen sollte. Mir kam es ähnlich vor, wie bei einem Geschäft: Erst erst wenn man zugestimmt hat, ist die Sache perfekt. Und wie kann man von einem 12 Jährigen verlangen, dem Tode seines Vaters zuzustimmen.
Trotz alledem, mal abgesehen vom Tode meines Vaters, der elegante ’Horch’, mit seinen 12 Zylindern, das ist schon ein tolles Auto, ich kenne kein Besseres. Mutter bietet diese Gärtnerei in allen Zeitungen zum Verkauf an, der ganze Betrieb ist mit 20 Tausend RM verdammt preiswert.
Ich würde sie sehr gern behalten. Einen aufregenderen Spielplatz kann man sich kaum vorstellen. Die großen reflektierenden Glasflächen, irgendwie erinnern sie mich an unsere Binnenalster, sogar ans Meer, wenn es mal vergessen hat, zu toben.
Mutter schaut dreimal täglich nach dem Briefträger. Sie kann es nicht lassen. Wie mich das aufregt. Nach Möglichkeit geht sie ihm sogar entgegen. Mutter kann sich eben in Rottlingen nicht eingewöhnen.
Jedes Mal dann die gleiche Enttäuschung. Keine Post, kein Kaufinteressent, niemand will die Gärtnerei haben. Seit einem viertel Jahr verkommt das Gelände langsam, aber stetig. Das Unkraut wächst hier und dort und überall, dass es nur so eine Art hat.
Durch die Schilder:
Achtung Selbstschüsse.
Betreten strengstens verboten!!
an der Hannoverschen Landstraße und an der Feldstraße, traut sich tatsächlich niemand auf das Gelände. Nur Kurt, der Stenz und da finde ich ihn toll, der glaubt nicht an Selbstschüsse. Vom Fenster seines Kinderzimmers kann er die ganze Gärtnerei überblicken.
“Sami, wenn die nach dem Tode deines Opas Selbstschüsse eingebaut hätten, das hätte ich mitbekommen.“ Kurt kennt sich aus in der Gärtnerei. Wie in seinem Kinderzimmer.
Schon als kleines Kind hat er sich hier getummelt. Beim schnurrigen Gärtner Wiese, der seine erdigen Hände so gern am eigenen Hosenboden abwischte und uns damit klarmachte, wie liebenswert ihm jeglicher Mutterboden war.
Für das kleine Kurtchen gehörte es zu seinen ersten beglückenden Fähigkeiten, gelernt zu haben, stets saubere Hände vorweisen zu können. Schwupp, schwupp, er wischte den Dreck gleichfalls an der Spielhose ab. Mutter hatte unglücklicherweise andere Vorstellungen von kindlicher Reinlichkeit und es gab Ärger. Bei allem Hin und Her, Kurt entwickelte sich in dieser Gärtnerei zum Blumen- und Pflanzennarr.
Wer in einer Großstadt aufgewachsen ist, hat in der Regel wenig Ahnung von alledem, was da wächst und rumkriecht. In dieser Beziehung kann ich viel von Kurt lernen. Ich bin so froh, dass es funktioniert hat. Seit einer Woche bin ich in Kurts Klasse. In der 4a des Paul von Hindenburg-Gymnasiums. Anfänglich war ich in seiner Nebenklasse gelandet.
Wenn man in seiner Schulklasse nicht einen einzigen kennt, ist das ganz schön doof. Kurt hat noch drei Geschwister. Diese „Malu“, wie sie in der Familie genannt wird, ist ein ganz steiler Zahn. Zwei Jahre älter, klar, die schaut mich nicht mal mit ihrem schönen Hintern an.
Für die würde ich alles tun. Auf diese Art Mädel stehe ich. Sie ist genau das, was den Sohn meines Vaters um seinen bisschen Verstand bringen könnte.
Blond, blaue Augen und dabei selbstbewusst bis zum ’Geht-nicht-weiter’. Marie-Luise ist bereits eine hochrangige Jungmädelführerin. Irgendwas mit „Ring“. Ich glaube „Jungring, eine Jungmädel-Ringführerin. So jetzt hab ich es! Ich würde auch liebend gern in der Hitlerjugend sein. Mutter will davon nichts wissen.
„Du bist ein Jude“, hat sie zu mir gesagt. „Juden haben in der HJ nichts zu suchen.“ „Wieso?“, hab ich geantwortet. „Wenn man aber von der HJ begeistert ist?“
„Immer erst mal schön nachdenken, ehe man seinen Mund aufmacht“, hat sie mich wütend angefahren. Und sie hat vollkommen Recht.
Im Grunde genommen weiß ich es ja. Von wegen Hass auf Juden, usw. Kurt ist auch in der HJ. Aber im Gegensatz zu seiner übrigen Familie, kann er, wie er mir gestanden hat, der ganzen NS- Bewegung nicht viel Spaß abgewinnen. Kurt ist Individualist. Aufmärsche hasst er; ist eben kein Massenmensch.
Im mittleren, trostlos leeren Gewächshause wollen wir morgen, gleich zu Anfang der langen Ferien beginnen, das dortige 6x2 Meter lange Bassin wieder ganz zu füllen. Ein einziger dicker Goldfisch hat dort überlebt, aber nur, weil Kurt ihn von Zeit zu Zeit fütterte. „Jonas“, hat er ihn getauft. Hat wohl an diesen Menschen in der Bibel gedacht, der von einem Walfisch verschlungen wurde.
“Wenn wir das Bassin prima säubern und schrubben, wir können darin zackig baden, wenn es heiß ist. Für den Goldfisch finden wir vorübergehend auch ne andere Bleibe.“
Kurt hat Recht, aber wer fängt den Jonas? Einfach mit den Händen schnappen, das glitschige Ding, ich könnte es nicht. Der ist so lang wie ein ausgewachsener Hering.
Was glaubst du, wie so ein ’Löke’ zappeln kann.
Kurt ist ein netter Kumpel, wie es aussieht, aber noch kenne ich ihn zu wenig. Mit seinen vielen Sommersprossen auf der Nase erinnert er mich an Eddi, meinen alten Klassenkameraden, der als Sextaner Regenwürmer vor unseren Augen verdrückte und sich somit unsere Hochachtung verschaffte.
“Du Sami, ich hab eine Idee. Ich habe so oft deinen Opa beobachtet, wie er mit diesem Ding, mit dem Lagerhaus dort hinten telefoniert hat. Er hat an dieser Kurbel gedreht und dann konnte man es dort drüben klingeln hören.“
“Na klar, dieser alte Kasten ist ein altes Feldtelefon. Mit dem Drehen der Kurbel erzeugst du den nötigen Strom zum Telefonieren. Aber was willst du mit ihm anstellen?“
“Wenn wir das andere Feldtelefon zu uns verlagern, in mein Zimmer in der Feldstraße, und die Strippe nach dort verlegen, dann könnten wir Tag und Nacht miteinander telefonieren.“
“Kurt, du hast Ideen. Toll, das machen wir auf jeden Fall.
Nur, hast du gesehen, das Lagerhaus ist fest verrammelt. Mutter hat bislang keinen Schlüssel gefunden. Sie will es aufbrechen lassen.“
“Soll ich mal was Kluges sagen?“
“Na. bitte!“
“ Nie verzagen, Kurtchen fragen!“
“Was denn, du Dichter, weißt du etwa wo ein Schlüssel liegt?“
Die beiden hatten gemütlich in der Sonne, auf der Bank vor dem Gewächshaus „A“ gesessen. Jetzt rennen sie quer durch die Gärtnerei, hinüber zum Lagerhaus mit den Viehställen, das sich am Ende des handtuchförmigen Betriebes befindet.
Das große Scheunentor des Lagerhauses ist durch einen schweren Eisenriegel gegen unerlaubtes Eindringen geschützt. Ein goldfarbenes schweres Vorhängeschloss grinst die beiden triumphierend an.
Kurt hat sich auf eine derbe Holzkiste gestellt und steckt nun seinen rechten Arm tief durch eine Art Loch, das von den Fachwerkbalken rechts oberhalb des Tores gebildet wird und zaubert nach langem Herumfingern einen schmalen Schlüssel ans Tageslicht.
“Das ist er! Verdammte Vogelscheiße!“
Triumphierend hält er Sami den Schlüssel unter die Nase und versucht den frischen Vogeldreck vom Ärmel herunter zu kriegen.
Sami kann die Schadenfreude nur schwer unterdrücken.
“Kurt, du bist ein richtiger Tausendsassa.“
Sami schließt das große Vorhängeschloss auf und legt es zur Seite.
Er hebt den schweren Eisenriegel aus seinen Verankerungen und öffnet das Scheunentor.
Beide Blicke fallen in ein großes Lagerhaus, in dem sich neben vielem Gemöcks, Bodenfräsen und anderem Ackergerät, auch ein gummibereifter Pferdewagen und ein uralter Pferdeschlitten findet.
“Das muss ich unbedingt meiner Mutter zeigen.“
Sami läuft auf flinken Beinen hinüber zum Gärtnerhaus, das er mit seiner Mutter seit wenigen Tagen bewohnt.
Kurt hat die Vorbesitzer der Gärtnerei, die Wiesers, noch lebendig vor Augen. Von seinem Zimmer aus, beobachtete er schon als kleines Kind zu gern diesen geschäftigen Betrieb da unten, sofern er nicht selbst dazwischen herumlief.
Frau Wieser war eigentlich die Seele des Betriebes. Wenn sie auf schlanken Beinen zwischen den Frühbeeten und Gewächshäusern herumwirbelte, dann stimmte die Richtung.
Alle mochten sie und jedermann arbeitet gern mit ihr zusammen. Ihr Mann wirkte eher wie ihr Angestellter und sie bestimmte die Richtung. Nach ihrem Tod vor zwei Jahren ging es rapide abwärts mit der ’Gärtnerei Wieser.’ Das Pferd, die ’Bella’ verschwand als Erstes.
Liebend gern saß der kleine Kurt auf dem Rücken dieses lammfrommen Pferdes und ritt stolz mit, wenn Frau Wieser zum Blumenmarkt fuhr und dort unter anderem Alpenveilchen, Primeln und Geranien verkaufte. Neben Schnittblumen, Obst und Gemüse.
Frau Ester Wieser nähert sich neugierig, mit langen, unsicheren Schritten der Lagerhalle. Eine ansehnliche Frau mit vollem schwarzem Haar. Eine Frau um die Fünfzig.
Kurt Rübnitz hatte sie bislang noch nicht gesehen. Er ist sofort angetan, von dieser gepflegten Frau, mit so einem ehrlichen, freundlichen Blick.
“So, dann bist du also der Kurt Rübnitz! Samuel hat viel von dir erzählt. Ist doch schön, dass du so nahe wohnst. Wenn dein Vater Frauenarzt ist, dann weiß ich jedenfalls in Zukunft, wo ich hinzugehen habe.“
“Er würde sich freuen, bestimmt.“
Kurt Rübnitz weiß schon eine Menge über diese Frau.
Sami hat gleich, nachdem er sein Zimmer im Gärtnerhaus bezogen hatte, intensiv im Jugendzimmer seines Vaters nach einem Geheimfach gesucht, von dem sein Vater vor Jahren mal gesprochen hatte.
Sami hatte Glück und wohl auch die richtige Nase. Eine Diele unter seinem Bett ließ sich hochheben, was man ihr aber von außen nicht ansehen konnte.
Er fand in diesem Geheimfach eine Menge schwärmerischer Liebesbriefe aber auch einen sehr wichtigen Brief von dieser Frau. Von Samis Mutter, die jetzt vor ihm stand. Dieser Brief ließ einen verstehen, weshalb Bernhard Wieser, der Vater von Sami, sein Elternhaus für immer verließ.
Sami hatte ihm gestern diesen schicksalsschweren Brief vorgelesen.
„Wir müssen uns trennen“, war die Kernaussage.
Wörtlich: „Dein Vater hat mich, hinter meinem Rücken, wiederholt als „die Judenschlampe“ bezeichnet. Wie kann ich dauerhaft in einer Familie leben, in der ich grundlos, derartig beleidigt werde.“
Als er das hörte, änderte Kurt Rübnitz schlagartig seine Meinung über den „Alten Wieser“. Ein überzeugter Nationalsozialist war der schon immer. Das wusste hier jeder.
Bei Wiesers wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine lange, ehrerbietende Hakenkreuzfahne an der Stirnseite des Gärtnerhauses gehisst.
Rübnitzens begnügten sich, wie die meisten, mit einer Fahne, so groß wie ein Handtuch.
Der alte Wieser, Hermann hieß er mit Vornamen, war ja auch ihr „Zellenleiter der NSDAP“, der den Bezirk Hannoversche Landstraße, Feldstraße und Berliner Straße umfasste. Hermann Wieser organisierte, dass jeder Haushalt seiner Zelle, regelmäßig Propaganda- Nachrichten erhielt. Kurt hatte in seinem Auftrag auch schon diese Zettel verteilt und sogar seinen Spaß dabeigehabt. Nach allem was er jetzt erfahren hatte, würde er dem Zellenleiter keinen Gefallen mehr tun.
Wie kann man bei solch einer sympathischen Frau von einer ’Schlampe’ reden? Kurt kann das nicht begreifen. Aber es gibt eben in Deutschland Menschen, die Juden irrsinnig hassen. Wie viele es sind, ist schwer zu sagen. Sicherlich mehr als man denkt.
Ein herrlicher Sonnenaufgang im August begrüßt die jungen Schläfer. Aber Kurt und Sami verpennen alles. Heute starten sie überglücklich in ihre Sommerferien.
“Mensch Sami, du hast es gut. du musst dich jedenfalls nicht übers Zeugnis ärgern.“
“Ich hab auch eins. Mein Zeugnis liegt im Kaiser- Wilhelm-Gymnasium in Hamburg-Barmbek, ich muss es nur anfordern. Vielleicht tue ich’s sogar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es schlecht ist. Nur ’Latein’, da drohte mir zuletzt, ein schwaches ’ausreichend’. Ansonsten zu allen Zeiten viele ‚gute’ Noten.“
“Toll, bei mir sieht das trüber aus. Genau wie dies Wasser, das wir jetzt so schön aufgewirbelt haben.“
Das ist ein „Hallo“, bis der Kurt endlich seinen Jonas in den Händen hält. Und der Fisch zappelt, dass es eine reine Freude ist.
“Immer die Hand davor“, hatte Sami gebrüllt, „Fische schwimmen nicht rückwärts.“
Der Schlamm im Bassin liegt knöcheltief. In 30 Jahren ist hier bestimmt nie entschlammt worden. Mit den Eimern haben wir versucht, vom trüben Wasser so viel wie möglich auszuschöpfen. Nun amüsieren wir uns mit dem modderigen, schwarzen Schlamm, den wir mit kleinen Schaufeln in die Eimer schlickern.
„Da!“ Irgendetwas blinkte im Wasser auf. Kurt versucht es im Eimer zu angeln.
“Sami, schau draußen bitte mal genau nach, ich hab eben was in den Eimer geschaufelt. Es hat geblinkt.“
Abwechselnd tragen sie die gefüllten Eimer auf einen Komposthaufen in der Nähe des Gewächshauses. Ein eingespieltes Team.
Samis Rückkehr hat länger gedauert als gewohnt. Sami kommt und sieht blass aus. „Das ist doch ein Finger. oder?“
Sichtlich angewidert hält er dem staunenden Kurt ein 3 gliedriges, zartes Knochengebilde vors Gesicht und legt es auf den Rand des Bassins.
„Und dies hier ist dein ‛Blinker’.“
In seiner flachen Rechten präsentiert er einen typischen Siegelring, wie ihn eitle Männer zu tragen pflegen.
“Mensch, die gehören doch wohl zusammen? Oder was glaubst du, Sami?“
„Klar, kleiner Finger mit Ring. Kannst du entziffern, was darauf steht?“
“Jedenfalls ein großes R und ein T. Aber sieh mal hier, das T sieht aus wie ein Hammer und das R ist eine …? Wie nennt man diese Dinger, mit denen die kleinen Leute ihr Gras mähen, ich komme im Moment nicht drauf?“
“Sichel.“
“Na klar, Hammer und Sichel. Das ist das Zeichen der Kommunisten, die Sowjetunion hat’s in ihrer roten Fahne.“
“Du hast Recht, jetzt sehe ich’s auch.“
Die beiden spüren das ganze Grauen dieser Szene. Mit klopfenden Herzen steigen sie aus dem Wasser. Wer weiß schon, was sich noch alles im Schlamm finden könnte.
Der skelettierte Finger macht ihnen Angst.
“Du, der Finger wurde bestimmt abgehackt.“
Tatsächlich findet sich eine beschädigte, glatte Knochenfläche am Grundglied des Fingers
“Frag doch mal deinen Jonas, woher dieser Finger stammt. Er war doch dabei, er muss es schließlich mitgekriegt haben.“
“Du Sami, da fällt mir was ein.
Das war im vorigen Jahr, kurz nach meinem Geburtstag. Also Anfang September, an einem Sonntagmorgen. Ich gucke aus meinem Zimmer und denke, was ist denn da los? Ich sehe, wie in der Hannoverschen Landstraße ein Opel Laster, mit 5 oder 6 grölenden SA-Leuten, einen PKW verfolgt.
Ich denke noch, die kriegen den nie. Der PKW ist doch viel schneller Da fährt ein zweiter, unbemannter Lastwagen den beiden Autos entgegen. Der muss wohl aus der Feldstraße gekommen sein.
Vor der Gärtnerei Wieser, genau hier, stellt der Laster sich quer.
Aus dem gejagten PKW sehe ich einen gut gekleideten Herrn im mittleren Alter aussteigen und in die Gärtnerei flüchten. In dieses Gewächshaus. Die SA-Männer hinter ihm her.
Was dann hier im Gewächshaus abläuft, kann ich oben vom Fenster nicht richtig erkennen. Die Glasscheiben spiegeln.
Aber sehr ruppig müssen die SA-Leute mit ihm umgegangen sein. Ich konnte aus dem ganzen Gebrüll seine ängstlichen Schreie heraushören. Als ich dann endlich den Herrn Wieser sah, wie er ins Gewächshaus lief, war ich etwas beruhigt.
Gott sei Dank, Schüsse habe ich nicht gehört. Aber den Verfolgten später auch nicht mehr gesehen. Allerdings habe ich etwas von ihm, dessen Bedeutung ich selbst erst noch erkunden muss. Ich zeig’s dir nachher mal.
Mutter hatte mehrfach zum Mittagessen gerufen, also ging ich klopfenden Herzens ins Esszimmer, denn in der Gärtnerei war endlich Ruhe eingekehrt.
Natürlich habe ich sofort die ganze Angelegenheit erzählt. Vater sagte nur: Wer weiß, welchem Schieber die SA-Männer eine Lektion erteilt haben, und aß in Ruhe weiter seinen Sonntagsbraten.“
“Ja, und was wäre, wenn es kein Schieber, sondern ein Jude, ein Kommunist oder Sozialdemokrat war? Ein Mensch, der möglicherweise keinem Lebewesen ein Haar krümmen kann?“
Beide starren entsetzt auf den weißen Knochen vor ihnen.
Endlich schnippt Kurt das Skelettteil mit dem Finger zurück ins Bassin.
Kurt quält der Gedanke, wartet hier in der Gärtnerei eventuell noch mehr auf Entdeckung?
Kurt ist sich sicher, dass Sami ähnlich denkt.
Sami und Kurt haben noch lange über das gestrige Ereignis nachdenken müssen.
Kurt hat heute Morgen, ehe Sami auf der Bildfläche erscheint, den Wasser-Haupthahn für die Freilandversorgung geöffnet. Ungeduldig hockt er mit einem Gartenschlauch bewaffnet in seinem Versteck, um Sami mit einem mächtigen Wasserstrahl zu begrüßen.
“Du alte Sau.“
Sami ist erschreckt zurückgesprungen und schüttelt das Wasser ab. Es ist 9: 00 Uhr und die Augustsonne scheint übermütig auf die beiden herab. Nach dieser ungewollten Dusche will Sami es dem Kurt nun mal so richtig zeigen und ist sich sicher, dass ihm das auch gelingt.
„Komm, mach mit!“
In den Ferien trägt Sami stets einfache braune Turnschuhe mit Gummisohle. Genau wie die Kinder der meisten Eltern, die sparsam leben.
Sami hat sich eine Leiter geschnappt und nun steigt er behände an der Stirnseite vom Gewächshaus C aufs Dach und balanciert leichtfüßig mit ausgestreckten Armen entlang des Dachfirstes, wie ein siegesgewisser Seiltänzer im Circus. Zu allem Übermut hält er noch eine Nelke mit dem Munde.
“Sami, bist du total verrückt, der First trägt nicht mehr, der ist morsch. Die Häuser, das sind alte Kisten, komm zurück, los dalli.“
Mir stockt der Atem, wenn ich daran denke: ein Schritt zur Seite, und aus ist es. Wenn der Sami durchs Glas stürzen würde, welche Katastrophe.
Wie das Dach schwingt, oh Gott!
Ich presse verzweifelt meine Hände vor die Augen, unmöglich, so was mit anzusehen.
Unfassbar, aber Sami hat es geschafft. Sein glücklich strahlendes Lächeln gleicht einem Triumphator. Ich muss ihn umarmen, obwohl das sonst nicht meine Art ist. Und ich fühle, Sami ist ab jetzt mein bester Freund.
“Was ist, willst du’s nicht auch mal versuchen?“
“Nee, nee, so spinnerig kannst nur du sein. Ehrlich gesagt, mein Bammel ist so riesengroß, der allein bringt das Dach schon zum Einsturz.“
“Na gut, dann würde ich vorschlagen, wir fluppen jetzt erst mal eine in aller Ruhe. Vielleicht da drüben, wo die vielen Schmetterlinge sind?“
Sami zeigt auf die Bank am Schuppen.
Der alte Geräteschuppen steht mit seinem Rücken zur Berliner Straße. Neben der Bank blüht üppig ein stattlicher Sommerflieder. Wir nähern uns der Bank und eine dunkle Wolke flattert davon.
Hunderte von Schmetterlingen verzichten kurzfristig auf ihre Nektarmahlzeit, als wir uns auf der Bank niederlassen.
“Kennst du alle diese Flattermänner?“
„Ja, die kannst du dir leicht merken. Da, der ’kleine Fuchs’ und da das ’Pfauenauge’.
Wenn du Glück hast, entdeckst du auch mal einen ’Schwalbenschwanz’. Die Raupen dieser Schmetterlinge sind nicht wählerisch. Sie alle verputzen Brennnesselblätter.“
„Was du nicht alles weißt!“
“Bitte schön.“
Sami hat ein schmales Päckchen hervorgekramt. Ein Päckchen mit 3 Zigaretten. Ein großes R und eine 3 zieren die Packung, R3.
Kurt schielt auf dessen freigiebige Hand und wünschte, es gäbe sie nicht. Vor einiger Zeit probierte er mal, den Rauch einer Zigarette richtig einzuatmen. Es war die reinste Katastrophe. Sein Gehuste wollte und wollte nicht enden. Damals hatte er sich hoch und heilig geschworen: Nie, und nimmer!
Aber nun greift er doch zu, ohne zu zögern. Er will sich vom Sami auch nicht mit allem unterbuttern lassen.
Bis auf Naturkunde weiß Sami tatsächlich alles besser, er ist tapferer, ist schneller auf den Beinen und schneller mit der Zunge und mit den Gedanken. Mit Mädchen kann er viel lässiger umspringen. Und Pläne hat der, davon wagt Kurt nicht einmal zu träumen.
Sami will so bald wie möglich eine Weltreise starten. Anschließend will er sich in Paris niederlassen, um seine Erlebnisse in Reiseliteratur, und auf jeden Fall will er ein luxuriöses Leben führen. “Das Geld wird schon fließen, man muss es nur entschieden anpacken“, hat er mir auf meine Frage nach dem Gelde geantwortet.
Wenn ich ehrlich bin, ich glaube sogar an den Erfolg dieses ’Dauerlächlers’, dieses Spinners. Und zwar gegen alle meine Vernunft.
Sami hat etwas Gewinnendes, Suggestives. Damit schlägt er jeden in seinen Bann.
Ich lerne den Rauch einer Zigarette einzuatmen, ohne zu husten. Es macht mich stolz. Ich genieße die warme Augustsonne auf meinem Körper und genieße die Nähe meines besten Freundes.
Auch die Vorstellung ist toll, richtig beglückend, lange Zeit, nur das machen zu müssen, zu dem wir Lust haben.
Deshalb gehen wir heute erst mal in die Stadt.
Die Mädchen haben schließlich auch Ferien, klar!
Und morgen zockeln wir dann zusammen zum Baden. Sami wird es schon richten.
Wer hätte gedacht, dass Sami gleich zwei ‚Flammen‘ vom Gymnasium meiner Schwester, der Marie-Luise, abschleppt.
„Du, die Christa Müller, um die kannst du dich ruhig mal ein wenig kümmern, die ist aus guter Familie.“
Mist, da hat der Sami, dieser Himmelhund gespürt, dass ich auf Glubschaugen nicht so sehr stehe und schon gar nicht auf solch eine gequetschte Jungmädchenstimme. Obwohl, wenn man sie sich genau anschaut, dann ist es halb so schlimm. Ihr Vater ist übrigens Studiendirektor. Der Direks des Humbold-Privatgymnasiuns in der Bach-Straße.
Schade, aber die Christa Müller ist so gar nicht mein Typ. Es sind nicht nur die Augen und die Stimme, die mich stören, sie ist mir einfach zu brav.
Anita Sander ist das ganze Gegenteil. Rassig, keck und sieht toll aus. Sie gefällt mir wesentlich besser, ist doch klar.
Aber Anita, diese flotte Biene hat ja nur Augen für unseren Sami. Das merkt ein Blinder mit dem Krückstock.
Ausgezogen kann sich Christa allerdings durchaus sehen lassen.
Lange hübsche Beine und einen ansprechenden Busen. Jedenfalls hat sie mehr hinter der Bluse, als ich anfangs vermutete. Das kommt nur daher, weil sie keinen BH trägt.
Im Badeanzug an richtiger Stelle, zwei süße, knack-feste Mädchen-Hügel. Nachher, beim Rumalbern im Wasser, ergibt sich hoffentlich die Gelegenheit von unabsichtlichen Berührungen. Um Gotteswillen, sie darf das nicht mitkriegen. Sie ist der Typ, der Ärger macht.
„Wer kommt mit auf den Zehner?“
Was habe ich da gehört? Zehner! Ja, weiß denn der Sami überhaupt, was er da quatscht?
Das Freibad ist rappelvoll. Wer oben auf dem Zehnerturm kneift, einen Rückzieher macht, hat ausgeschissen für den Rest seines Lebens.
Wir jüngeren Rottlinger kennen uns doch nahezu alle persönlich, durch unseren ewigen Dienst in der Hitlerjugend.
Sami, dieser Knallkopp, rennt los und zerrt Anita hinter sich her.
Und was macht Christa?
Christa umklammert so entschieden, so fest meine Hand, dass ich gar nicht anders kann. Ich lass mich tatsächlich widerwillig von ihr auf diesen vermaledeiten Sprungturm ziehen; sogar auf die oberste Plattform.
Mensch, aber ich will doch überhaupt nicht springen. Und beileibe nicht vom Zehner.
Schon der Sprung vom Fünfer erfordert eine Menge Mut. Diesen Mut habe ich erst ganze dreimal in meinem Leben aufgebracht.
Ich Idiot, weshalb folge ich überhaupt dieser Meute? Gruppenzwang. Anders kann ich es mir nicht erklären.
Nun stehe ich auf der höchsten Bühne des Rottlinger Sprungturmes. Zehn Meter über dem Wasser. Mein Kopf ist nahezu 12 Meter darüber
Rottlingen vor mir. Die Bader und die ganz vielen Herumlieger auf ihren Badetüchern zu meinen Füssen. Viele schauen zu uns auf den Zehner.
Ein leichter Chlorgeruch wabert über dem ganzen Freibad. Von unter dringt das Gebrummel von Hunderten von Menschen an mein Ohr. Und diese Luft ist prallvoll gefüllt mit hohem Kindergekreische; dieser Mischung aus Angst und Übermut.
Dort hinten die Albani Kirche, das Rathaus und zur Rechten der Schwarzenberg-Park mit dem Hauptfriedhof. Aber das alles interessiert mich jetzt nicht die Bohne.
Vielleicht wird man sich ganz bald um einen Liegeplatz auf dem Friedhof kümmern müssen, weil ich vor lauter Herzklopfen auf der Stelle sterbe.
Keiner kann sich vorstellen, wie unendlich hoch sich zehn Meter strecken, sobald man sie herunterspringen muss. Allein der Blick auf das ferne Wasser unter mir ist eine Qual. Das Freibad erscheint von hier oben klein.
Himmel, was macht jetzt der Sami?
Der wird doch wohl nicht?
Da, ein kurzer, schneller Anlauf und schon fliegt er, leicht zappelnd, vom Turm. Dem Wasser entgegen. Eine Fontäne zischt, ein- zwei- drei-vier-fünf Sekunden und der Kopf Samis taucht aus dem Wasser auf. Sprung überstanden; beendet.
Ich höre, wie einige Menschen dort unten in die Hände klatschen, das gilt dem Sami, oh, dieser Glückspilz.
Verdammter Mist, die Anita tut’s ihm gleich, Nase zu halten, kurzer Anlauf und zappelnder Absprung vom Turm. Klatsch!
Jetzt wird’s für mich aber allerhöchste Zeit, dass ich von hier oben eine Fliege mache.
Mich kriegen keine zehn Pferde zum Springen.
Aber was denn nun, wieder dieser verdammte Klammergriff.
Christa, Hilfe, was machst du mit mir? Ich hasse das!
Zwei weit geöffnete Glubschaugen schauen mich warmherzig lächelnd an. Sie schiebt mich mit ausgestrecktem Arm völlig zur Seite, dirigiert mich einige Schritte nach vorn und schon haben wir beide nichts mehr unter den Füssen: Wir fliegen gemeinsam mit weit ausgestreckten Armen vom Zehner. Der Flug, er dauert erstaunlich lange und ich empfinde ihn als wunderbar! Ein mächtiger Aufprall, aber dennoch nicht zu stark. Das kühlende Wasser am Körper ist eine Wucht.
Wer hätte das gedacht, ich vom Zehner. Ich werde es nie begreifen.
Ich höre viele Menschen Beifall klatschen, viel mehr als bei Sami und Anita. Aber ich werde den Verdacht nicht los, der Beifall gilt nur ihr.
„Wie spät haben wir?“
“Zwanzig vor Sechs.“
“Schiet, ich muss los.“
“Ich komme mit.“
Der Sami hat mir erzählt, dass sich heute um sechs ein Quintaner vorstellen will, der ihn am letzten Schultag auf dem Schulhof angequatscht hat, Mathenachhilfe in den Ferien.
Ich hab dem Sami zugeraten.
„Leicht verdientes Geld“, habe ich gesagt.
Anita hätte ruhig dableiben können, das wäre mir lieber gewesen.
Es ist die reinste Sünde, bei diesem Traumwetter nach drinnen zu gehen.
Christa macht nicht die geringsten Anstalten, aufzubrechen.
Sie hat ihren nassen, dunkelblauen Badeanzug gegen einen buntblumigen gewechselt. Vom Kiosk bringt sie auch für mich ein ’Eis zu Zehn’ mit und eine Rolle Zugspitzkeks, die kostet auch einen Groschen. Sie will unbedingt, dass wir sie uns teilen. Und ich würde liebend gern beides spendieren.
„Nichts da, wer die Idee gehabt hat, dem gehört sie, basta“
Es ist eigenartig. Nachdem wir zusammen vom Turm gesprungen sind, und wie sie nun lächelnd und entspannt auf ihrem roten Frotteehandtuch liegt, ist sie mir plötzlich sympathisch. An ihre quietschende Stimme habe ich mich gewöhnt. Ihrer Bastbadetasche hat sie ein Büchlein entnommen und beginnt eifrig zu lesen.
“Darf man wissen, was du da liest?“
Wortlos reicht sie mir das Reclam-Bändchen: Mascha Kalėko.
“Die kenn ich nicht. Muss man die kennen. Sind ja nur Gedichte.“
“Hast du was gegen Gedichte?“
„Nee, aber ich kenne keine so richtig.
Liest du mir mal welche vor?“
“Nein, nein, wenn, dann musst du es schon selber tun. Man muss sich aktiv damit auseinandersetzen, sonst verpufft die Wirkung jedes Gedichtes.“
“So, meinst du das? Dann mal her damit.“
“Nee, Kurt, vorlesen darf man nur, mit viel Verständnis für den Inhalt. Lies dir das Gedicht erst ein paar Mal durch und sprich es mir danach vor.“
„Jawohl, Frau Lehrerin.“
“Frechdachs!“
Mensch, da habe ich mir ja was eingebrockt, und das in den Ferien. Eigentlich ist das gegen meine Überzeugungen. Ich tue nur selten das, was andere von mir wollen.
’Ich bin Ich’, habe ich mir immer eingeredet.
Und nun überrumpelt mich dies. Das Mädchen kann hexen, verhext mich hoffentlich nicht. Ich lese, lese 2mal, 3mal und dann laut:
Gebet
Herr: unser kleines Leben – ein Inzwischen,
durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.
Und unsere Jahre: Spuren die verwischen,
und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen.
Was weißt du, Blinder von des Stummen Leiden!
Steckt nicht ein König oft in Bettlerschuhn?
Uns ward bestimmt, zu glauben und zu tun.
Laß du uns wissen, ohne viel zu fragen.
Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihen.
Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,
und lass uns einsam, nicht verlassen sein.
„Pah, ganz schön anspruchsvoll, deine Mascha Kalėko.“
“Gefällt sie dir?“
„Ja sie gefällt mir gut, aber es ist nicht meine Welt. Ich mag alles, was mich aufbaut, auf Pessimismus, der nur herunterzieht, kann ich gut verzichten. Bin selbst Pessimist.“
“Dann scheust du dich wohl auch, ein besonders nachdenklicher Mensch zu sein?“
“Kann sein. Ich glaube, ich bin einfach nur zu faul.“
“Schade, ich hätte dir anderenfalls gern erzählt, was mit der Kalėko geschehen ist. Faule sind leider in der Regel unpolitisch, oder?
Unpolitisch sein ist Zeitkrankheit: Nur über nichts nachdenken!“
“Nun erzähl schon, bitte, verzeih mir!“
“Mascha Kalėko, ist eine junge Frau, sie lebt in Berlin.
Ich bewundere ihre schriftstellerische Begabung, und diesen wachen, kritischen Geist.
Mascha hat seit einem Jahr Schreibverbot, genau wie Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Heinrich Mann und viele andere, bekannte Schriftsteller. Maschas Werke wurden alle aus unseren Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt.“
“Tut mir leid, aber von wegen ‛ bekannte Schriftsteller! ’ Da muss ich passen, ich kenne keinen dieser Namen. Und ich glaube, so geht es den meisten Deutschen.
Weißt du, der Jazz ist offiziell auch verboten, aber hören tun wir ihn trotzdem. Ich könnte gar nicht auf Jazz verzichten. Warum das so ist? Das ist eine Musik, die mich und meine Kumpel in eine andere Welt katapultiert, die uns regelrecht elektrisiert und inspiriert“
“Zu was denn?“
“Na, beispielsweise zu Gedichten.“
“Komisch, ich glaubte, du hättest grundsätzlich was gegen sie. Hast du eines deiner Gedichte auf Lager?“
“Hätt ich schon, aber hier draußen ist mir das zu doof.“
“Nun mach schon, sei kein Frosch. Das interessiert mich.“
“Ach, mir ist alles zu persönlich. Ich kenn dich zu wenig“
“Je persönlicher, desto besser. Leg schon los.“
Natur
Natur, wer bist du? Was bist du? Wie kann man dich erkennen?
Bist du das Kind eines Gottes?
Hast du was Menschliches an Dir?
Keine Antwort?
Gut, dann erschau ich dich jetzt mit meinen Augen:
Da sehe ich eine Horde im hellen Licht, die nur ein Vorwärts kennt.
Das Kraftvolle, das Starke, das nach Vollendung drängt,
sich nur dem ewigen Wechsel der Natur beugt.
Mitleid kennt ihr nicht. Fallendes zu stützen, käme euch nie in den Sinn,
Ich bin zurückgefallen.
Hatte nicht die Kraft da mitzuhalten.
Nun steh ich, allein, verzweifelt im dichten Nebel.
Aus Träumen werden Albträume.
Muss meinen Weg im Dunkeln selber finden.
Schwer wird es werden!
“Oh, so empfindest du das? Das hört sich traurig an, nichts vom siegreichen Helden.“
“Genauso ist es, der bin ich in der Tat.“ In seiner Ehrlichkeit und dieser Geradheit gefällt er mir, sehr sogar. „Gratulation, wenn das Gedicht von Dir ist.“
“Von wem soll’s denn sonst sein?“
Christa Müller fühlt sich zu diesem nachdenklichen, netten Jungen hingezogen, der so ganz anders ist als die übrigen seines Jahrgangs.
Ihre Mädchenfreundschaft mit der lebenslustigen Anita will sie aber auf keinen Fall aufs Spiel setzen. In seinem Freund Sami erkennt sie den typischen Juden. Der Sami ist ein Windhund, verschlagen und unehrlich.
Ein Jude verrät im Ernstfall seine Mutter. Man denke nur an Judas, dem Jünger Christi, der seinen Herrn Jesus dem obersten jüdischen Gericht ans Messer lieferte.
(Der übernächste Tag.)
“Na Kurt, warst du mit der Christa Müller noch lange zusammen?“
“Nee, das Freibad schloss für uns ja um 6. Später üben doch da die Vereine, das weißt du doch“
„Stimmt, hab gar nicht dran gedacht.
Du Kurt, vor ein paar Tagen hast du mir was angedeutet, du hättest was von dem Menschen, den die SA zusammen geprügelt hat, vorm Jahr. Das war doch hier in der Gärtnerei. Was war denn das?“
“Sami, so ganz richtig sehe ich da auch heute nicht durch. Ich sagte dir doch, dass der Mensch aus seinem Auto gesprungen und hierhergelaufen sei.“
“Ja, das sagtest du. Die SA- Männer hätten ihn verprügelt, und später hättest du ihn nie wiedergesehen.“
“Richtig, genau so war es. Das verlassene Auto, ein ganz neuer, blauer ’Lancia Aprillia’ stand am Abend noch vor der Gärtnerei, wie ich von meinem Kinderzimmer beobachten konnte.
Es hatte angefangen zu regnen, meine Neugier wurde unerträglich, Nach langem Zögern, schnappte ich mir meine Schultasche, entleerte sie, und schlich mit ihr in der Dunkelheit zum Auto.
Aber weshalb erzähl ich dir das überhaupt. Vielleicht kannst du nicht dichthalten?“
“Na Kurt, nun mach aber mal einen Punkt. Was soll denn auf einmal dein Misstrauen? Habe ich dir einen Anlass dazu gegeben?“
“Nein, entschuldige. Ich will nur ganz sicher gehen, dass es unter uns bleibt.“
“Da kannst du Gift drauf nehmen.“
“Außer dir weiß nämlich niemand etwas von meinem Klau. Ich musste den Lancia nicht mal aufbrechen. Die Wagentür war unverschlossen. Ich habe ’rutsch, rutsch’ das ganze Handschuhfach ausgeräumt, und dann, im Dunkeln, die hintere, lederne Sitzbank abgetastet. Dabei stieß ich, tief versteckt im Leder, auf einen Brief und auch den habe ich gestrunzt.
Dieser blöde Brief ist es. Der gibt mir eine Menge Rätsel auf.“
“Hast du ihn bei dir?“
“Nein. Warte, ich hol ihn mal.“
Sami Wieser empfindet ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit seinem neuen Kumpel gegenüber. Auch dessen Familie ist schwer in Ordnung. In der Klasse vom PvH- Gymnasium, haben ihn nicht alle mit offenen Armen aufgenommen. In Hamburg war er sich gar nicht bewusst, dass er Jude ist. Da war das überhaupt kein Thema.
Kurt kommt angerannt, wie ein geölter Blitz. Er reicht ihm einen Din A4 Bogen. Sami betrachtet ihn.
Lieber Genosse Eberhardt!
Ich grüße Dich und die Walli ganz herzlich.
Dieser Brief entspringt einer großen Sorge,
und Du weißt, wie sehr ich Euch beide verehre.
Unsere Partei ist nicht mehr in der Lage, unser
Leben und das Leben unserer Angehörigen
zu schützen, denn die Gegner werden von
Tag zu Tag mächtiger und barbarischer.
Sich weiterhin öffentlich für unsere Partei
zu engagieren, heißt in heutigen Tagen
sich um Kopf und Kragen reden.
Eberhardt, deine mutige Rede im
Stadtparlament war ein einziger Lichtblick,
was m. E. viele, ebenfalls so empfunden
haben, aber sie ließ mein Herz stocken.
Eberhardt, halte dich in Zukunft, um des
Himmels Willen, zurück.
Eines späteren Tages kommt Deine große Stunde.
Dessen bin ich mir und alle anderen Genossen,
ganz sicher.