Читать книгу Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf Dr. Küster - Страница 8
ОглавлениеApril 1936
„Hallo, ich bin der Kurt Rübnitz.“
Hatte mir fest vorgenommen, die Vereidigung der Pimpfe in diesem Jahr sausen zu lassen!
Der ‘Atze’ hatte mich aufgefordert, aber der kann mich. Der will doch nur eine Welle angeben.
Aber nun latsche ich trotzdem zum Exerzierplatz, ich Weichmann.
Mensch Kurt, denk ich, du bist aber auch zu nachgiebig. Oder ist es Neugierde?
Da stehen sie nun alle, die Neuen. Blass, ängstlich.
Ja, unbedingt wollen sie aufgenommen werden in die HJ.
Ihre kurzen schwarzen Kordhosen noch ganz glatt, sauber und neu. Die braunen Hemden alle glatt gebügelt. Und, guck dir das an, Koppel und Schulterriemen glänzen wie eine Speckschwarte. Lange anhalten wird das nicht. Ein einziges Geländespiel und aller Glanz ist zum Teufel.
HJ-Führer zu spielen ist nicht so mein Ding.
Außerdem wollen die mich ja auch gar nicht.
Das Kindergeschrei geht mir sowieso auf die Nerven.
Der ‘Atze’ hat sich danach gedrängelt, er wollte partout HJ-Führer werden.
Das war dann das Ende unserer Freundschaft. Und ausgerechnet mich in sein Fähnlein holen zu wollen, das hätte mir gerade noch gefehlt.
Mich stört an der HJ und den ganzen anderen politischen Organisationen, dass da keiner mal nachdenkt. Nein, alle plappern hirnlos nach, was man ihnen vorsetzt. Und das Schlimme ist: sie sind noch stolz darauf, auf ihren unbedingten Gehorsam.
Das ist noch so wie beim “ Alten Fritz“.
Wir schreiben inzwischen aber doch das Jahr 1936.
“Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not. Unsere Fahne ist mehr als der Tod.”
Ehrlich gesagt: ich mach mir nichts aus Not und Tod.
Wenn ich das sage, ist Atze empört und fasst sich an den Kopf: “Mensch, hast du denn keine Ehre im Leib?”
“Doch, aber eine andere, als deine!
Du besuchst deine HJ-Führerschulen und ich wandere lieber durch Wald und Flur. Das ist meine Art zu leben. Was kann ich dafür?”
“Was kann ich dafür? Was kann ich dafür?
Du musst dich am Riemen reißen! Verantwortung übernehmen für Deutschland. Die Jungen begeistern, ihnen helfen.”
“Und womit hilfst du ihnen?”
“Ich mache mir Gedanken darüber, wie ich die Abenteuerlust meiner Pimpfe ausleben lassen kann, ihren Bewegungsdrang stillen, ihren Wetteifer befriedigen und ihrem Wunsch nach Verantwortung entsprechen kann.”
“Atze, wo hast du denn diese hochtrabenden Sätze aufgeschnappt? Alles auf der HJ-Führerschule gelernt?”
“Ach, mit dir kann man ja nicht vernünftig reden, du Spießer. Wandere nur in deinen Wald!”
Ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. Die Sonne wärmt schon ein wenig.
Der große Platz der SA, der frühere Kaiser-Wilhelm-Platz – KWP, wie die alten Rottlinger auch heute noch sagen – füllt sich mit Menschen.
Auf den umgebenen Straßen, der Lönsstraße und der Bahnhofsstraße fahren die neuen Büssing-Busse.
Die Kutschen können sich dahinter verstecken.
Aber auch Personenwagen sieht man immer häufiger.
Da drüben fährt er gerade, der neue 6-Zylinder von WANDERER. Das Coupé ist mein Lieblingswagen, den kaufe ich mir später.
Hier an meiner Ecke vorm Rathaus sammeln sich Atzes Pimpfe.
Ein blonder schlaksiger Jungzugführer mit grüner Affenschaukel ruft militärisch laut, dass es jeder hören muss.
“Jungzug 1 Achtung!!…. In Reih’ und Glied angetreten!!!”
Die angesprochenen Pimpfe sausen wie von der Tarantel gestochen dorthin und bilden im Nu einen der Größe nach geordnetem Block, der nun exakt ausgerichtet steht.
Es sind…, ich zähle 30, 33, 36 Pimpfe.
Das Ritual des Antretens ist mir geläufig. Sechs Jahre stecke ich nun schon in der braunen Uniform. Davon die letzten zwei Jahre im HJ-Streifendienst. Weshalb sie ausgerechnet mich zu diesem Haufen kommandiert haben, ist mir unerklärlich.
Ich trage Uniform nicht gerne, gewöhne mich auch nicht daran. Atze würde sie am liebsten auch nachts anbehalten.
Nun sind alle vier Züge angetreten. Der Oberjungzugführer vom Zug 1 tritt vor die Front: “Fähnlein 3 stillgestanden, die Augen links!”
Von links kommt mein gewesener Freund anstolziert. Atze dieser Angeber. Die Brust geschwollen wie bei einem Torero.
Sein Oberjungzugführer meldet: “Fähnlein 3, Frundsberg vollständig angetreten.”
“Danke, Oberjungzugführer!”
“Heil Hitler”, ruft er laut in die Kolonnen.
“Heil Hitler, Fähnleinführer!” brüllt es wild entschlossen zurück aus 140 jungen Kehlen.
Drüben, Ecke Lönsstraße, vor der Albani-Kirche hat sich Fähnlein 1 formiert, dahinter Fähnlein 2. Alle zusammen bilden den HJ-Stamm ’Rottlingen’, dessen Führer auch auf unser Gymnasium geht.
Peter Schreiber heißt er. Der ist in der Oberprima und ein feiner Kerl.
Aha, Marschmusik ertönt vom Wagner-Park. Und da kommt er anmarschiert, der HJ-Fanfarenzug.
Wirkt auf mich wie ein Landsknechthaufen.
Toll, ganz helle Fanfarenklänge und dazwischen dumpfes Getrommel.
Kommt mir vor, als wollten die Fanfarenklänge gen Himmel flüchten, aber die Landsknecht-Trommeln holen sie zurück in den Kampf.
Der Fanfarenzug nimmt Aufstellung auf der breiten Freitreppe vorm Rathaus.
Diese vielen schwarz-braunen Uniformen, die eiserne Disziplin, die klaren Befehle und dazu traditionsreiche Musik aus früheren Schlachten!
Es ist mal wieder soweit. Mich schlägt so was total in seinen Bann, und es ist genau das eingetreten, was ich unbedingt für mich heute habe verhindern wollen: Opfer einer Massenhypnose zu werden!
Ich bin dann nicht mehr ich.
Die sich ausbreitende Hochstimmung krallt sich quasi in mein Innerstes und macht mich willenlos. Mein Herz schlägt höher, schneller.
Den vielen Menschen um mich herum geht es anscheinend nicht anders. So bilden wir ganz automatisch eine zusammengehörende Gruppe. Die Volksgemeinschaft, von der die Nationalsozialisten ständig herumspinnen.
Der Stammführer befiehlt den neuen Pimpfen fünf Schritte vorzutreten.
Die markigen Befehle werden von einem leisen Getrommel aus vielen fassgroßen schwarzen Trommeln untermalt, an denen weiße Flammen züngeln und auf der sich, die uns allzu bekannte, riesige Siegrune befindet. Dieses markante Blitzzeichen.
Der Stammführer: “Ihr neuen Pimpfe in der Hitlerjugend erhebt eure rechte Hand zum Hitlergruß und sprecht mir nach unsere Treueformel:
“Ich verspreche…”
Peter macht eine sehr bedeutungsvolle Pause, und in diese Pause fällt das Echo aus vielen jungen Kehlen ein:
“Ich verspreche…”
“In der Hitlerjugend…”
“In der Hitlerjugend…”
“allzeit meine Pflicht zu tun…”
“allzeit meine Pflicht zu tun…”
“in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne!”
“in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne!”
Der HJ- Stammführer befiehlt nun zurückzutreten und die Zehnjährigen treten sichtlich erleichtert zurück in ihre Jungzüge, wo sie sich geborgen fühlen. Sie sind glücklich, man sieht es.
Laute Blasmusik und wuchtige Trommelschläge erfüllen nun das Quadrat des großen Platzes.
Der Stammführer hält seine markige Ansprache. Da geht es um Schmach und Ehre, Mut und Verantwortung, und immer wieder um Deutschland und seine Feinde.
Solche Reden kennt man. Schon 100 Mal gehört.
Allerdings wird er nun aktuell. Ich spitze die Ohren.
Es geht um das neue Gesetz der Hitlerjugend: Die gesamte deutsche Jugend ist, abgesehen von Elternhaus und Schule, nur noch in der Hitlerjugend zu erziehen.
Das heißt, so verkündet stolz der Stammführer, dass in Zukunft weder die Kirchen, noch alle anderen Jugendverbände das Recht hätten, die Jugend zu erziehen.
Es muss diesem Gesetz nach sichergestellt werden, dass jegliche geistige und sittliche Erziehung unserer jungen Menschen im Geiste des Nationalsozialismus stattfindet; also in der HJ.
Die entschiedene Rede verwirrt mich, ich muss nachdenken.
Aber nun ist es so weit. Er ruft seine Pimpfe zum dreifachen “Sieg Heil!” auf den geliebten Führer, Adolf Hitler auf. Die Pimpfe brüllen nicht allein. Plötzlich schmettern begeistert alle Menschen, die hier versammelt sind, ihr “Heil”, “Heil”, “Heil” heraus, so als hätten sie auf nichts anderes gewartet.
Ach, ich weiß nicht, ich finde einerseits die HJ auch nicht übel.
Manchmal bin ich auf den alten Graefe zornig. Er will mir die HJ ausreden und die ganze NSDAP dazu. “Das sind Nichtsnutze, Neurotiker, machtbesessene Monster!”
Ja, so hat er sie wirklich genannt.
Wenn Papa Graefe in Stimmung kommt, dann müsstet ihr ihn mal erleben! Der nimmt kein Blatt vor den Mund. Der redet sich eines Tages noch um Kopf und Kragen.
Wenn Vater Graefe nicht ein so wahnsinnig toller Mensch wäre, ich würde nicht auf ihn hören. Aber so? Er beschäftigt mich. Das Fatale ist, ich mag seine ruhige Art, denn so ist er.
Sein Backenbart schon silbrig, der Bart auf der Oberlippe und die Augenbrauen aber nahezu noch schwarz. Er hat wissende Augen, aus denen gerne ein Schalk heraus lacht.
Ich habe mal zu ihm gesagt: “Sie hätten Schauspieler werden sollen.”
Er hat nur gegrinst.
Seinen Zorn auf die Nazis kann ich andererseits auch verstehen.
In vielen Stunden, die wir in seinem Gewächshaus verbrachten, da hat er mir von seiner Jugend erzählt.
Dieser Orchideenzüchter, er ist ein Naturmensch durch und durch.
Seine Eltern hatten in Schifferhaven eine große Landwirtschaft. Das liegt in der Nähe von Frankfurt an der Oder.
In seiner Jugend, so hat er mir erzählt, bekümmerte ihn vieles, aber ganz besonders der Zustand seiner damaligen Altersgenossen, die ihm zu lasch, viel zu träge vorkamen. Die Folge: Sie bekamen bei dieser Einstellung zum Leben jede Menge Zunder von Seiten der Schule, von der Kirche und auch hauptsächlich von ihren Familien.
Rechte hatten sie keine. Das Ergebnis war, dass sie alles vertranken und verqualmten, sobald sie nur etwas Geld in den Händen hatten. Gelangweilt hingen sie herum in den Kneipen, auf den Straßen und Plätzen.
Mir erzählte Papa Graefe dann sehr anschaulich, wie er Ende vorigen Jahrhunderts einige von den “Herumhängern“ angequatscht habe. Ja, das hat er genauso gesagt: “angequatscht”.
“Wollt ihr mich nicht mal besuchen in Schifferhaven?” Sie hätten ihn blöde angeschaut, einer hätte gesagt: “Was denn, bist du mein Vetter? Ich kenne dich ja gar nicht!”
“Nein, dein Vetter bin ich nicht, aber ich kann dich gut gebrauchen beim Bau meiner Kothe. Als das Wort Kothe fiel, hat einer von ihnen gebellt wie ein Köter. Ich musste denen dann erst einmal erklären, was überhaupt eine Kothe ist.”
Ich war froh, als Papa Graefe es mir erklärte. Anfangen konnte ich mit dem Wort Kothe auch nichts. Heute weiß ich, dass es sich um ein Feuerzelt handelt. Vater Graefe hat es den Eskimos abgeschaut.
Eine geschichtliche Tatsache ist, dass ein erstes gemeinschaftliches Wochenende von arbeitslosen Jugendlichen vom 18. bis 20. Mai 1896 in Schifferhaven in einer selbstgebauten Kothe im Obstgarten von Graefes stattgefunden hat. Es waren sechs junge Burschen aus Frankfurt an der Oder.
Da große Teile des nahe gelegenen Schifferhavener Forstes den Graefes gehörten, hätten sie an diesem ersten gemeinsamen Wochenende den Wald erkundet und große Wanderungen unternommen. Spontan hätten sie sich die ‘Schifferbären’ tituliert, eben wegen Schifferhaven.
Schon drei Wochen später seien es acht Mann gewesen, die ein ähnliches Wochenende zusammen in der Natur verbracht hätten. Und dann hätten sie den ersten größeren Jugendverein gegründet.
“Später suchten sie Anschluss an schon bestehende, ähnliche Vereinigungen. Ab 1900 nannten sie sich ‘Wandervögel’. Die Bewegung der Wandervögel allein in Schifferhaven hat über 500 Mitglieder gehabt. Alle fanden Gefallen an der Kothe.”
Zig Jugendlichen habe er den Bau von Kothen erklären müssen.
Das war stets ein Thema, bei dem Vater Graefe sich in Stimmung redete. Mehr und mehr sei dann auch die Kothe neben dem Hordentopf zu einem Markenzeichen der neuen Jungendbewegung geworden. Das dauernd flackernde Feuer sei zum Symbol geworden für einen Gemeinschaftsgeist, der keine Zwietracht duldet.
“Das Feuer wärmt alle. Alle müssen es versorgen und überwachen. Das schlichte Wesen der Kothe duldet keinen Prunk, auch keinen Lärm, kein Gegröle. So wurde es mal interpretiert und allen gefiel das. Unsere Jugendlichen fingen an, den Innenraum der Kothe als etwas Ehrwürdiges zu empfinden, das in keiner Weise ‘verunreinigt’ werden darf.
Mich hat es selbst erstaunt, dass sich in den folgenden Jahren im ganzen Land so eine Art ‘Kothen Mythos’ entwickelte. Warum wohl? Vielleicht hatten alle Wandervögel bei nächtlicher Feuerwache ähnliche Erfahrungen gemacht. Wenn alles schlief kamen sie der ursprünglichen Natur in sich selbst und um sie herum ganz, ganz nah.
Das Knistern des Feuers und die Flammen entfachten regelrecht magische Kräfte. Ich habe es erlebt: Plötzlich mussten die jungen Menschen nicht mehr qualmen, plötzlich fühlten sie sich mit der neuen Gemeinschaft ganz, ganz eng verbunden. Ihnen ging dieses neue Erleben der unberührten Natur über alles. Aber während wir noch davon träumten, wie elitär einmal unser Aufbruch war, mussten wir erfahren, dass wir lediglich vom Zeitgeist erfasst waren, wie viele andere auch. Zeitgleich sprossen überall im Lande Jugendverbände wie Pilze aus der Erde.
Wir erfuhren beispielsweise, dass sich – im gleichen Jahr in Berlin-Steglitz – die Schüler der Gymnasien zu ‘Wanderfahrten’ versammelt hatten. Etwas gänzlich Neues”
“Kurtchen”, sagte vor ein paar Tagen Vater Graefe mit Begeisterung in der Stimme, “du ahnst nicht, welche Aufbruchsstimmung mit einem mal die Jugendlichen erfasste. Glaube mir, das was ich vor der Jahrhundertwende erlebte, war phänomenal!
Das jetzige Getrommel der NSDAP ist nichts dagegen. Das wird künstlich erzeugt in einer parteipolitischen Retorte. Das damals war eine Urkraft, die sich entfesselte.Nun muss man sich aber auch mal die damalige Kaiserzeit vorstellen. Was verlangte die Wilhelminische Gesellschaft von ihrer Jugend? Treue und Gehorsam, sonst nichts.
Man wollte Untertanen erziehen, die sich klaglos in die bürgerliche Gesellschaft einpassten. Ruhe war die erste Bürgerpflicht. Nicht dumm sollten sie sein, sondern klug. Aber keineswegs allzu klug, brauchbar und pflegeleicht.
Jeder Jugendbund im Lande entwickelte seine eigene Note. Immer mehr Jugendbewegungen kamen hinzu, proletarische, konfessionelle, deutschnationale Freischaren. Aber in allen sprudelte diese neue Lebenskraft, der Wunsch nach Eigenleben und Eigenverantwortung.
Als man sich im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner traf, da erhielt diese neue deutsche Jugendbewegung ihr endgültiges Programm. Es tauchte erstmalig der Begriff der ‘Inneren Wahrhaftigkeit’ auf; er hat uns lange beschäftigt. Dieser Begriff war Ausdruck neuer Normen.
Wir strebten fortan den ganzheitlichen Menschen an: ‘Geist, Körper und Seele in freier Selbstbestimmung’. ‘Erkenne dich selbst und werde der, der du bist’.
Wir wollten fortan für den Rest der Gesellschaft unbequem werden. Aufrechte Menschen wollten wir sein, mit einem klaren Gefühl für Recht und Unrecht, Gut und Böse. Schluss mit Falschheit und Verlogenheit, Verhaltensweisen, die die übrige Gesellschaft so sehr charakterisierten.”
Aber nun bin ich neugierig. Von Vater Graefe will ich erfahren, ob die Jugend von damals zu dieser „Inneren Wahrhaftigkeit gefunden hat?“
“Kurti, wir waren auf gutem Wege. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit uns.
Der schreckliche Weltkrieg zog auf. In einer mächtigen Springflut von nationalem Wahn und grausamem Kanonenfeuer zerbröselten unsere Ideale. Und danach wurde nichts wieder wie vordem.
Was mich heutzutage ganz krank macht, ist die Dreistigkeit, die Frechheit der Nationalsozialisten, die sich bedenkenlos unsere Kluft, unsere Ideale angezogen haben.
Die haben sich das äußere Kleid der Jugendverbände aus Faulheit und Einfallslosigkeit unter den Nagel gerissen und es ihrem ideologischen NS-Monster übergestülpt.
Aber sie sprechen doch eine ganz andere Sprache. Sie meinen doch etwas ganz anderes als wir.
Die Nationalsozialisten kümmert doch nicht das Wohl des Einzelnen, denen geht es nur um Macht. Für uns war jeder Einzelne ein Geschöpf des Herrn, den wir fest in eine Gemeinschaft einbinden wollten. Eine Gemeinschaft mit menschlichem Antlitz. Und in Gottes freier Natur sollte sich das abspielen.
Nein, nein, diese neuen Propheten, die sich Arier nennen, sie wollen den Rest der Menschheit ihrem Machthunger unterwerfen. Die Juden wollen sie sogar vernichten, und alle anderen, die ihnen missliebig sind.“
Ja, so ist das, mein Kurtchen”, sagte er in ernstem Ton, “ab nun kannst du dich nicht mehr drücken, wegsehen, übersehen, die Augen verschließen. Ich für meine Person weiß, wohin ich gehöre. Ich hoffe, du findest auch deinen Platz und bringst die Kraft auf, eine klare Stellung zu beziehen.”
Himmel, der Mensch macht mich krank! Was soll ich tun? Mir ist schlecht. Ich bin nach Hause geflüchtet. Er erwartet doch glatt, dass ich mich gegen die NSDAP, gegen unsere Regierung entscheide. Und wenn ich das nicht kann? Ich habe einen Bärenbammel!
Ich will ihn aber auch nicht verlieren. Vater Graefe ist ein so edler, so wertvoller Mensch. Für mich ist er unverzichtbar. Nun hat er mich auch noch in seine Geheimnisse eingeweiht. Ich weiß, er hat im Keller seines Hauses eine Druckmaschine. Er plant eine Aufklärungs-Aktion mit Flugblättern.
“Ich werde den Nationalsozialisten die Tarnmaske herunterreißen”, sagte er zu mir. “Ich werde meinen Mitmenschen zeigen, wie gefährlich die Marschrichtung der Nationalsozialisten für uns alle ist. Sie führt todsicher in den Abgrund.”
Vater Graefe hat von mir nie verlangt, dass ich entscheide.
Aber ich merke, er rechnet mit mir! Offensichtlich ganz stark! Was mache ich nur? Was soll ich denn nur machen?
Na, eines ist klar. Ich werde mit niemandem darüber reden!