Читать книгу Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf Dr. Küster - Страница 6

Оглавление

Februar 1936

Wie heißt es doch auf Plattdeutsch: “Was dem enen sien Uhl, ist dem anderen sien Nachtigall”.

Nein, Dr. Fritz Rübnitz ist ein Mann von Prinzipien. Und selbstredend gehört dazu: Achtung vor Würde und Eigentum des Anderen.

In letzter Zeit lässt die gesellschaftliche Entwicklung aber viele Prinzipien fragwürdig erscheinen. Die Welt befindet sich im Umbruch. Immer häufiger gerät der 51 jährige Frauenarzt ins Grübeln.

Er ist oft verunsichert. Bei vielen Ereignissen kann er die Hintergründe nicht mehr klar durchschauen.

Gerade heute hat er sich, nach der Lektüre des „Rottlinger Tageblattes“ gefragt: Was steckt wirklich hinter allem Judengeschrei der Braunen? Gibt es überhaupt so etwas wie eine „Weltverschwörung der Juden“?

Wie sollte so was funktionieren?

Er kann es sich nicht vorstellen.

Ist das alles nur so ein ‛Dahingerede? ’

Und dann dieser Arier-Spleen der Braunen.

Darf man dem Alfred Rosenberg überhaupt folgen, wenn er den Ariern das Recht einräumt, die Herrschaft über den Rest der Welt anzutreten?

In Wirklichkeit kann doch so was nie gut gehen. Das führt doch zu Mord und Totschlag.

Ich darf gar nicht darüber nachdenken. Nun, ich vermute ohnehin, dass das nur die allerwenigsten tun.

Echtes Zutrauen in seine Erkenntnisfähigkeit hat er aber auch nicht.

Wie sage ich gerne zu mir, wenn es nur kein anderer hört: “Fritz, dumm bist du nicht, aber bestimmt auch keine Leuchte.”

Fritz, alter Junge, was bin ich froh, dass ich nicht Mathe studiert habe, was ich tatsächlich anfänglich wollte. Da hätte ich doch bestimmt kein Bein auf die Erde bekommen. Schon nach dem ersten Semester hätte ich passen müssen.

Ja und dann gibt es da noch so etwas, was ihn heute Nacht sehr beschäftigt hat. Ihn den Frauenarzt. Da geht es um ‛erbgesunden Nachwuchs’, für den wir Frauenärzte sorgen sollen. Bravo, eine sehr schöne Vorstellung.

Nur noch kerngesunde Kinder. Herrlich. Aber wie?

Gestern erst hatten wir die Geburt einer süßen kleinen Maus mit mächtiger Hasenscharte. Totmachen von Amtswegen?

Nee nee Leute, so geht das nicht, so kann das nie und nimmer gehen.

Nun aber mal wieder nach vorn geschaut und positiv gedacht. An so einem schönen, sonnigen Morgen redet schließlich auch der Frühling ein Wörtchen mit! Die ersten Schneeglöckchen schauen heraus und läuten. Aber das können nur Kinder und Narren hören.

Wenn ich mir alles so im Geiste vorstelle: vom Lehrer-Landkind zum Facharzt für Gynäkologie in der Kreisstadt, gutes Einkommen, wunderbare Frau, 4 wirklich gut geratene, nette Kinder.

In meiner Frauenarztpraxis ein paar liebestolle Frauen, die hinter mir her sind. Ein eigenes Reitpferd, ein schnelles Auto, was will ich mehr, ich, das Glückskind par excellence.

Und nun noch Aussicht auf den Erwerb dieser herrlichen Villa! Die Ulmenallee kenne ich schon ewig. Bin schließlich 9 Jahre mit dem Fahrrad hindurchgebraust. Auf dem Wege zur Penne.

Hatte es immer eilig. Aber sobald ich in die Allee einbog, die prächtigen Villen sah, das Grün der Ulmen im Sommer, mein Herz hüpfte jedes Mal schneller auf und ab.

Weshalb der Weiß diese tolle Villa verkaufen will, ist mir ein Rätsel. Der ist doch noch nicht so alt! Er wird es mir erklären!

Vom Sehen her kenne ich ihn. Ist auch aufs Paul von Hindenburg Gymnasium gegangen; 2 Klassen über mir. Hat sich viele Jahre an Schachmeisterschaften beteiligt. Lange Jahre war er in Rottlingen Schach-Stadtmeister; ist ein drahtiger Typ.

Wenn man ihn sieht, denkt man an einen Sportler. An einen Langstreckenläufer, aber bestimmt nicht an einen Landgerichtsdirektor.

Das Rottlinger Tageblatt hat vor einiger Zeit mehrere Folgen einer Novelle aus seiner Feder gedruckt. Hat mich beeindruckt. Es ging um eine Katzenfamilie. Hildegard hat sie ausgeschnitten und gesammelt. Irgendwo müssen die Schnipsel noch herumliegen.

Wenn ich es recht bedenke, nun wird es aber auch Zeit, dass wir eine größere Wohnung bekommen. Jedes der Kinder braucht dringend sein eigenes Zimmer.

Malu ist 17, da kann sie doch nicht dauernd mit ihrer kleinen Schwester zusammen hocken.

Dem Andy geht es ebenso. Obwohl er duldsamer ist als seine Zwillingsschwester.

Außerdem stört es mich und wohl auch Hildegard, dass unsere nun älter gewordenen Kinder alles mitbekommen, was wir Alten so treiben.

Ich, der Frauenarzt Dr. Rübnitz meine, die Häuser Nr. 13 und 14 der Ulmenallee sind die weitaus schönsten Häuser.

So einen Säulenvorbau mit Giebelfeld nennt man Portikus. Das habe ich nachgelesen.

Zu meiner Freude habe ich festgestellt, dass Haus Nr. 13 nicht nur einen Portikus, sondern auch eine achtstufige Freitreppe besitzt. Die Nachbarhäuser haben so etwas nicht.

Der Schmuck am Haus ist edel. Sieht nach was aus!

Eckquader aus Kalkstein, viel heller mit Breit- und Schmalseiten. Ich mag so was. Zum dunkleren Sandstein des Mauerwerks, ist das ein sehr schöner Kontrast.

Hoffentlich verlangt dieser Weiß keine Unsummen. Die hab’ ich nicht zur Verfügung. ’

Ding-Dong!

Wie telefonisch verabredet springt Dr. Fritz Rübnitz pünktlich um 15 Uhr die Freistufen des Hauses Ulmenallee Nr.13 empor.

Er staunt über den langanhaltenden “2-Klang” eines Gongs, den er soeben durch Drücken eines Klingelknopfs ausgelöst hat. Er kennt bislang nur dieses erschreckende Gerattere von elektrischen Klingeln.

Aha, der „Chef“, er öffnet mir persönlich. Dr. Weiß, ein Mann wie ich um die 50, in den besten Jahren. Mindestens 1,80 Meter groß, schlank, mit blondem- im Gegensatz zu mir - noch dichtem, leicht gekräuseltem Haar. Schwarzer Kammgarn-Anzug und schwarze Fliege. Dieser Aufzug eines Trauernden irritiert mich.

Blitzschnell versuche ich zu analysieren. Nein, Frau und Sohn können es nicht sein, das hätte sich hier in Rottlingen herumgesprochen. Soll ich mich etwa namentlich vorstellen? So mach’ ich’s immer bei meinen wenigen ärztlichen Hausbesuchen. Bin ja Gynäkologe.

Eine von ihm, zum freundlichen Gruß vorgestreckte Rechte, erlöst mich von weiteren Betrachtungen.

“Bitte treten sie doch näher, Herr Dr. Rübnitz”.

Aha, der Mensch legt Wert auf korrekte Formen, geht es mir durch den Kopf. Aber den “Doktor” könnten wir getrost begraben, sind schließlich Schulkameraden.

Ich sehe ihn noch genau vor mir, den Oberprimaner Weiß.

Keiner trug die Schülermütze derartig herausfordernd schief, wie er.

Er wusste, was er wollte. Für mich ein typischer ‘Hedonist’. Genuss war sein Lebensstil.

Immer hinter den hübschesten Mädchen her.

Ich weiß noch, dass er einmal backen blieb. Damals freute ich mich über die Nachricht. Er war dann nur noch eine Klasse über uns.

Als sein Vater auf tragische Weise in den Alpen verunglückte, soll er ein ganz anderer Mensch geworden sein.

“Bitte, kommen sie herein!”

Donnerwetter. Eine so große Diele hätte ich in diesem Hause nicht vermutet. Mehr als 60 Quadratmeter.

Sehr repräsentativ: eine doppelläufige breite Treppe nach oben. “Repräsentativ” hier passt das anspruchsvolle Wort hin.

Dennoch. Irgendetwas stört mich.

Was ist es bloß?

Nun meldet sich mein zweites Ich: „Ihr Männer könnt doch nie bei Konkurrenten vorbehaltlos etwas anerkennen“.

Sei still, alter Ego!

Halt, jetzt sehe ich es.

Hier fehlen Bilder an den Wänden! Und hier haben welche gehangen.

Da, sieh’ nur, die dunklen Quadrate auf den geschmackvollen Tapeten verraten es.

Außerdem gab es nicht eine einzige Pflanze vor den Fenstern im Wohnzimmer?

Herr Weiß manövriert mich in eine anheimelnde Sitzecke. Donnerwetter, in solchen alten Clubsesseln verschwindet man ja regelrecht!

“Einen Cognac?”

“Ja, bitte.”

Diese Stimme höre ich heute bewusst zum ersten Mal, ungewöhnlich rau ist sie. Sie passt nicht zu ihm. Um nicht mundfaul und unfreundlich zu erscheinen, sage ich, was man so zu sagen pflegt: “Schön haben sie es hier, ein wunderbares Haus. Weshalb wollen sie es verlassen?”

Mein Gegenüber schaut mich entgeistert an. Ich fühle mich ertappt, habe wohl etwas Dummes gesagt? Er rezitiert mich mit zwei Worten und diese Worte tropfen herunter wie schwarzer Teer: “Wollen?” “Verlassen?”

Aber was macht er denn nun? Er steuert auf mich zu, reicht mir seine rechte Hand, die sich heiß anfühlt. Ich gehorche, gebe ihm die meine. Und nun zieht er mich aus dem Sessel, ohne meine Hand loszulassen, geht mit mir hinüber zur Wohnzimmerwand, die dem Fenster gegenüber liegt.

An dieser Stelle hat früher ein großformatiges Bild gehangen. Jetzt findet sich da ein gerahmtes Din A4 großes Schriftstück, das Respekt einflößt, denn oben links findet sich der Absender: Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung.

Ich lese:

Unter den Linden 4.

UI Nr. 20.311

Aufgrund von § 2A des Gesetzes zur Wiederherstellung

des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 werden Sie

hiermit aus dem Staatsdienst entlassen.

Bis Ende Dezember 1934 erhalten Sie noch Ihre

bisherigen Bezüge. Ein Anspruch auf Ruhegeld

oder Hinterbliebenenversorgung und auf

Weiterführung der Amtsbezeichnung steht Ihnen nicht zu.

Berlin, den 31.3. 1934

Der Preußische Minister für Wissenschaft,

Kunst und Volksbildung.

In Vertretung:

gez. S. Schubert

An den leitenden Landgerichtsdirektor

Christian Wilhelm Weiß

Rottlingen, Ulmenallee 13

Ich bin sprachlos, wie vor den Kopf gestoßen, stammele:

“Davon habe ich ja gar nichts gewusst!”

“So was steht selten in der Zeitung“, kontert mein Gegenüber mit unbewegter Miene.

“Aber warum denn das alles, haben sie sich was zu Schulden kommen lassen?” fährt es aus mir heraus.

“Sie Unschuldsengel, wohl noch nie etwas von Judenverfolgung gehört? Ich bin Jude! Und was für einer!” Beißender Hohn in seiner Stimme. “Gut, dass die Nationalsozialsten mich daran erinnern. Ich war doch glatt dabei, es zu vergessen.”

“Man darf doch einen Menschen ohne Verfehlungen nicht einfach aus seinem Beruf schmeißen?”

“Dürfte, Konjunktiv!”, antwortete er, nun wieder mit gewohnter Miene, die keinerlei Erregung vermuten lässt. “Schauen sie mich genau an, ich bin ein Untermensch. Gut getarnt, nicht wahr?!”

Mir wird immer mulmiger zumute. Herr Gott! Das ist doch mein Schulkamerad, der Hallodri von damals, der zu einem spitzenmäßigen Juristen mutierte, als das Schicksal ihm seinen Vater nahm.

Er entstammt der Maschinenfabrik Gebrüder Weiß, dem zweitgrößten Arbeitgeber der ganzen Region. Die Fabrik ist ein Segen für alle.

Das kann doch nicht sein, so einen Menschen darf man doch nicht “mir nichts - dir nichts” von “heute auf morgen” kaltstellen. Wo leben wir denn! Ich könnte schreien!

Mein Gegenüber ahnt wohl, was mir alles durch den Kopf schwirrt, denn er klopft mir väterlich auf die Schulter: “Lassen sie´s nur gut sein. Wir müssen uns beugen, die Kröte muss geschluckt werden. Aber bitte, nehmen sie doch wieder Platz. Sie sind ja nicht gekommen, um mich zu bedauern.”

Ich fühle echtes Mitleid und ertrage momentan diese lakonische Feststellung nicht, deshalb brabbele ich:

“Doch, doch, doch, ich bin – ich bin gekommen…” (Pause). Ja, weswegen eigentlich, was soll ich sagen? Hier gibt’s nichts zu reden!

“Na dann Prost”!

Mein Gegenüber hat sein Glas gehoben. Der Schluck, den ich nehme, ist viel zu groß! Der hochprozentige Weinbrand fließt brennend durch die Kehle. Ich möchte husten, aber ich verkneife es mir.

Ah’ wie angenehm, der Alkohol entspannt!

Ich strecke meine Füße auf einem hochflorigem Perserteppich aus

Wir, die Hildegard und ich, haben uns bislang noch keine echten Teppiche genehmigt.

Auch eine Menge meiner Kollegen sind Juden. Oft habe ich es nicht einmal gewusst. Woher denn auch? Man kann doch einem Menschen, der mit uns aufgewachsen ist, sein Judentum nicht ansehen.

Aber eines trifft zu: Unsere neue Regierung spielt verrückt. Besonders, wenn es um Juden geht. Aber auch Pazifist darf man neuerdings nicht mehr sein. Was habe ich die Romane vom Arnold Zweig geliebt, z.B. seinen „Der Streit um den Sergeanten Grischa.“ Nach der Machtergreifung musste Zweig fliehen, und was haben die Braunen jetzt gemacht, sie haben ihn und viele andere vor einigen Wochen einfach ausgebürgert.

Gewiss, neue Besen kehren gut! Aber vieles ist doch hirnrissig! Das wird sich wieder legen, da bin ich mir sicher.

Je länger ich mich in diesem respektablen Salon aufhalte, desto mehr fesselt mich an der Stirnseite des Raumes ein mächtiger Schrank, den ich von der Zeit seiner Entstehung her, nicht einordnen kann. Habe dergleichen noch nie gesehen. Viele Schmuckelemente bilden eine geschlossene Einheit.

Zwei Ebenen mit je zwei Türen und jede erscheint wie ein Eingangsportal mit wunderschönen gedrechselten Säulen.

“1603, zweistöckiger Fassadenschrank aus Ulm, Renaissance”, unterbricht der Herr Landgerichtsdirektor die Stille. Er hat wohl geahnt, was mir durch den Kopf geht.

“Unbezahlbar?”, sage ich. Er schmunzelt.

Nun halte ich die Zeit für gekommen, uns dem eigentlichen Thema zu widmen. ‘Villa mit großem Park abzugeben’, so hatte es in der Rottlinger Tageszeitung gestanden. Ich kenne von der ’Rottlinger’ einige Buchhalterinnen und so weiß ich, dass es mehrere Kaufinteressenten gibt.

“Weshalb wollen sie diese Villa ausgerechnet mir verkaufen? Ihnen wird doch wohl nicht entgangen sein, dass ich die hiesige Reiter SA führe“. Der Landgerichtsdirektor schaut mich fragend an und schüttelt den Kopf.

“Da muss ich gleich einen Irrtum ausräumen. Das Haus will ich nicht verkaufen, abgeben will ich es, so stand es auch in der Zeitung”.

“Stimmt, aber was wollen sie? Abgeben, nicht verkaufen, was verstehen sie darunter?“

“Ich hätte gern, dass dieses Haus in ihre Hände käme, weil ich sie für einen charaktervollen Menschen halte.”

Aha, denke ich, was versteht er unter “Charakter”?

“Sie haben 4 Kinder, ihre Ehe ist intakt, soweit ich weiß und sie gehen einem sehr angesehenen Beruf nach, da weiß ich mein Haus – das Haus meiner Eltern und Großeltern – in guten Händen.

Sie müssen folgendes wissen: ich werde vorübergehend nach Amerika auswandern.

Im hohen Alter möchte ich aber meine letzten Jahre nicht in Amerika verbringen, sondern hier in Rottlingen, wo die Weißens seit über 300 Jahren ansässig sind.

Falls wir uns einig werden, übergebe ich ihnen dieses Haus für 2 x 10 Jahre gratis und franco mit der alleinigen Auflage, es instand zu halten.

Sollte ich spätestens 1956 nicht wiederauftauchen, so geht diese Villa mit allem Inventar, samt Park am 31.12.1956 in ihren Besitz über.”

Vorsicht! Vorsicht!

Mahnt es machtvoll im Hirn vom Dr. Rübnitz. Wie kann man so etwas annehmen, da ist doch der Wurm drin.

“Ich bin perplex. Wo hat es so etwas je gegeben. Einerseits…?“

“Was ist, wollen sie das Haus nicht?“

“Doch, doch, doch! Aber sie machen mich sprachlos. Ich verstehe sie nicht. Weshalb wollen sie nach Amerika?”

“Da fragen sie noch?”

“Ich will ihnen mal was sagen, und was ich jetzt sage, dafür können sie mich eher heute als morgen, in ein Konzentrationslager bringen lassen. Hitler ist ein Demagoge, darüber sind wir uns beide wohl noch einig. Aber, was kein Mensch hier in Deutschland wahrhaben will, Hitler ist nicht das Genie, für das er sich hält.

Hitler ist ein Psychopath, der Deutschland nur ins Verderben führen kann.

Ich hoffe, es geht schnell. Aber diese Hoffnung werde ich wohl begraben müssen. Dennoch, 2 x 10 Jahre dürften wohl ausreichen.”

Oh, oh, oh, oh! Starker Tobak!

Woher nimmt dieser Mensch, diese Gewissheit?

Hat Hitler nicht schon eine Menge geschafft?

Geht es uns nicht von Tag zu Tag besser?

Uns ja, meldet sich wieder mein “alter Ego”. Aber was ist mit den anderen? Mit ihm hier, dem Schulkameraden!

Oh könnte ich doch auftauchen aus diesem ‘Meer des Irrtums’.

„Lass nur Fritz, da kann der alte Goethe auch nicht helfen.”

“Sind wir uns einig?”

„Ja, und nochmals ja!“

Ab jetzt denke ich nur noch an Hildegard, Andi, Marie-Luise, Kurtchen und Bienchen, was werden die für Augen machen.

“Lesen sie und wenn sie können, leisten sie bitte ihre Unterschrift. “

Einen dreiseitigen Vertrag schiebt mir der Landgerichtsdirektor unter die Nase. Genauso, wie wir es gerade besprochen haben, lautet der Inhalt. Meine Augen bleiben hängen an dem verhängnisvollen Satz: ‘…am 31.12.1956 in seinen Besitz über’.

Um Himmelswillen, das möge Gott verhindern. Unsere Familie will sich doch nicht bereichern an der Not der anderen. Ich unterschreibe: Dr. Fritz Rübnitz. Mir ist nicht wohl dabei.

Christian Wilhelm Weiß wirkt erfreut, er lächelt. Eigentlich ein hübscher Kerl, denke ich, aber da fällt mir etwas Wichtiges ein.

“Wo ist denn ihre Frau? Die erwähnen sie im Vertrag ja gar nicht.”

C. W. Weiß lässt sich zurück in seinen Clubsessel fallen, nachdem er noch einmal Cognac eingeschenkt hat.

“Wissen sie, meine Frau – wir haben Gütertrennung – lässt sich hier nur noch höchst selten sehen und unser Sohn Peter kommt so gut wie nie. Er versucht seine Mutter zu managen. Sie wissen, dass ‘Fritzi Morgen’ meine Frau ist?”

“Nein, woher denn? Die ‘Fritzi’ kennt jeder in Deutschland, aber die ist doch aus Hannover, das weiß man doch.”

“Stimmt, aber 20 Jahre hat sie in Rottlingen gelebt. Das verrät sie nicht. Sie hasst dieses provinzielle Nest wie die Pest. Reporter dürfen Rottlingen nicht mal erwähnen.”

“Fritzi Morgen hat gerade in letzter Zeit in vielen Filmen gespielt. Immer die Hauptrolle.

Eine schöne Frau, die auch gut tanzen und sogar recht passabel singen kann. Ihr ‘Flieg mit mir zum roten Mond’ trällern alle! Das ist ihre Frau, die “Fritzi Morgen”? Kaum zu glauben.”

“Ja, sie will sich scheiden lassen. Mit einem Juden verheiratet zu sein, schadet heutzutage einer UFA-Karriere. Mein Sohn Jakob will, dass wir uns offiziell trennen. Aber bitte, lassen wir das unerfreuliche Thema beiseite.“

Wie einsam würde ich mich fühlen, wenn ich in seiner Haut steckte.

“Wenn es ihnen recht ist, dann zeige ich ihnen jetzt das ganze Haus. Übrigens, den Übergabetermin können sie bestimmen. Von mir aus, so bald wie möglich; dann habe ich es hinter mir.”

Dass wir in Kürze in dieser tollen Villa wohnen werden will mir nicht in den Kopf.

Am liebsten würde ich jetzt zu Hildegard rennen und sie hierherholen. Aber ich traue mich nicht, und so stolpere ich hinter dem Herrn C. W. Weiß her, aber bin mit den Gedanken oft ganz woanders.

Dieses große Haus, erbaut um 1850, das hat bestimmt 12 Zimmer. Das eine noch schöner als das andere.

Und dann dieser riesige Park mit Stallungen und Kutscherhaus, alles sehr gepflegt. Ich schätze den Park auf 3.000 qm.

“Knapp 2 Morgen”, klärt mich C. W. Weiß auf.

Jetzt schleppt mich der Mensch auch noch durch die Kellerräume, die wegen der vorhandenen Freitreppe relativ hoch gelegen sind. Souterrain, nennt man so was, ein vollwertiges Kellergeschoß.

Aber was ist das? An der Ecke zum Park wird eine Kellertür zugemauert. Die Mauer ist schon einen Meter hoch. Verblüfft rutscht mir die Frage heraus, was wird denn das?

C. W. Weiß schaltet das elektrische Licht an, der Keller ist stockdunkel. Ich erkenne, dass das Fenster zum Park bereits feinsäuberlich zugemauert ist. In diesem Keller, aha, hier also, mir geht ein Licht auf. Hier wird gestapelt, was ich oben vermisst habe: die großformatigen Ölbilder und mehr. An der Wand ein kunstvoll gestickter Vorhang für einen Thoraschrein, eine Sabbatlampe aus Messing und andere Leuchter. Eine Menge übergroßer Holzkisten übereinandergestapelt, voll von Büchern und sicherlich von vielen persönlichen Dingen.

Wir schauen uns in die Augen. Ich fühle in diesem Moment mit ihm, wir sind auf gleicher Schwingungsebene. Ich gebe mir das heilige Versprechen, dass ich alles daransetzen werde, ihm diesen Rest seiner materiellen - und ganz bestimmt auch seelischen Existenz zu erhalten.

“Aber, wer mauert denn hier?”

“Ich alleine.”

“Darf ich helfen?”

“Danke, sehr freundlich, ich habe es bald geschafft. Ich werde alles so gut verputzen, dass es nicht auffällt.”

“Aber eines Tages, beim Niederreißen dieser Mauer, da darf ich doch dann dabei sein und helfen?“

“Herzlich gern! Aber können sie in die Zukunft schauen?

Wenn es ihnen recht ist, dann möchte ich morgen mit Ihnen zum Grundbuchamt gehen. Ich will, dass dieses Grundstück auf ihren Namen überschrieben wird. Ihnen will ich mal was verraten.

Lange wird es wohl nicht mehr dauern, dann tritt ein Gesetz in Kraft, dass uns Juden endgültig zu Staatsfeinden erklärt, deren ganzes Vermögen vom Staat eingezogen wird.”

Man kann es sich nicht vorstellen, wäre ungeheuerlich, aber so wie sich unsere neue Regierung in letzter Zeit verhält, durchaus denkbar.

Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst

Подняться наверх