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4 Pavel ist wieder Solist

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Ich brauchte, Herr Durbach, diesmal eine längere Pause. Als ich nach einigen Stunden zurück an den Tisch kam, las ich – wie gestern – noch einmal die letzten Zeilen.

Vielleicht stimmt es gar nicht, was ich vorher erzählt habe: Wahrscheinlich habe ich auf den Brief von Pavel gar nicht geantwortet … möglich, es ist mehr als zwanzig Jahre her. Was ich allerdings mit Sicherheit behaupten kann: Unser Kontakt brach ab; keine Briefe, keine Telefonate und falls ich doch etwas von ihm hörte, war es dank meiner Mutter.

Sie schrieb Milena regelmäßig, ich glaube sogar, sie fuhr zwei oder drei Mal im Jahr zu ihr nach Tschechien. So weit war es ja nicht, mit dem Auto etwa zwei Stunden. Ob die dortige Gegend oder Milena selbst der wesentliche Energiespender für Mamas Reiselust waren – ich weiß es nicht, wir redeten nie darüber.

Studium, Studienabschluss, Lehrerin; die erste Stelle, eine zweite Stelle; lange Reisen in Südeuropa und in die Schweiz; ein mittelschwerer Autounfall mit anschließendem einwöchigen Klinikaufenthalt; gut zwei Monate mit Krücken unterwegs.

Über all diese Stationen könnte ich jetzt Seiten füllen, ich mache es aber nicht. Ich versuche, mich lieber an die Vorgabe zu halten – wie wir es vor Ihrer Abreise, Herr Durbach, besprochen haben: Vojtyn, die ursprüngliche Heimat meiner Familie, alte Freunde. Und vor allem Pavel.

Wo soll ich nun beginnen? Vielleicht mit der Zeit nach meinem ersten Vojtyn-Besuch, also nach dem Tod unserer Großmutter.

Hugo.

Hugo war ein Berufskollege von mir, ein Ur-Bayer, nach einem Jahr Bekanntschaft heirateten wir. Wahrscheinlich ging damals alles zu schnell. Ich ahnte bald, dass wir es nicht schaffen würden, ich musste mit einem Scheitern rechnen. Aber warum eigentlich? Nun, das fragte ich mich nach dem schwierigen «siebten Ehejahr» auch.

Er war kein einfacher Mann. Viele Hobbys, unzählige Schulkameraden, zahlreiche Familienverpflichtungen; kein Wunder, er war hier in der Gegend aufgewachsen. Für mich und unsere Beziehung hatte er immer zu wenig Zeit, häufig gar keine. Und wenn wir einen Streit hatten – in den letzten Jahren oft –, war ich für ihn nur die «von drüben», «die Tschechin»: Zwar lustig, aber nicht so ordentlich, wie eine Frau sein sollte; oft unpünktlich und ziemlich unzuverlässig.

Wobei … ich will nicht behaupten, ich sei eine einfache und auffallend pflegeleichte Frau, ohne Kanten und Ecken, nur lieb und mustergültig anpassungsfähig. Nein, nein, mein Anteil am Scheitern unserer Ehe war groß, früher schätzte ich ihn auf fünf, jetzt auf fünfundvierzig Prozent. Hugo dagegen auf neunundneunzig; diese Zahl überraschte mich allerdings nicht.

Fast neun Jahre blieben wir zusammen. Wir bekamen ein Kind, Marcelka, sie wird bald acht, ein gescheites und weitgehend problemloses Kind; dieses Kapitel werde ich heute aber nicht aufschlagen, über Marcelka und unsere Sorgen mit ihr habe ich schon einmal ausführlich berichtet. Die schwierigsten Zeiten liegen, Gott sei Dank, bereits hinter uns, und die Pubertät steht uns erst bevor.

Kurz zu Hugo. Er war schon vor unserer Ehe drei Jahre lang verheiratet, und am Anfang sprach er oft von seiner Ex – nicht immer zu meiner puren Freude.

Lieb war sie. Vor allem aber schwierig: Sehr sprunghaft, labil, häufig Tränen und dann wieder eine laute Stimme oder der totale Rückzug – meistens habe er nicht gewusst, warum. Sie hatte, so Hugo weiter, zu ihrem Selbstschutz die Realität so zurechtbiegen müssen, bis sie sich den geschönten Umständen gewachsen fühlte. Für ihn nicht einfach. Wenn er endlich Ruhe haben wollte, musste er ihre adaptierte Realität annehmen … oder etwas zurechtrücken? Nein, das ging nicht, er hatte es oft versucht. Dann gab es nur Geschrei, Tränen und neue Vorwürfe. Er verlernte mit der Zeit zu diskutieren.

Haben Sie noch etwas Geduld, Herr Durbach? Ich bin gleich am Ende. Zuletzt kam nämlich der Clou: Bei mir, sagte er, sei er vom Regen in die Traufe geraten.

Was? Wie meinst du das? Ich war im ersten Moment entsetzt. Danach musste ich mir aber sagen, ganz falsch ist diese Meinung nicht, ein paar Gemeinsamkeiten gibt es da schon. Und später wieder: Schlimm! Diese Frechheit, diese Verkennung der Tatsachen! Gut, ich kann ab und zu auch laut sein, eher selten; in erster Linie dann, wenn ich auf meinem Recht bestehen muss, wenn ich mich nicht verschaukeln lassen will.

Einverstanden, im Augenblick übertreibe ich ein bisschen. Die goldene Mitte will ich noch suchen, vor allem in der Beziehung zu Pavel. Einfach ist das allerdings nicht.

Wenn ich es mir so überlege, ging die neue Phase unserer Freundschaft, die zweite Runde sozusagen, auf das Konto meiner Mutter.

Nach der Jahrhundertwende reiste sie – es dürfte mit ihrer Pensionierung zusammengehangen haben – immer häufiger nach Tschechien. Sie kam jedes Mal gut gelaunt und unübersehbar erholt zurück. – Wie schön, dass der Faden zu meiner alten Heimat nicht abgerissen ist!, verkündete sie oft mit strahlenden Augen.

Und sie hatte auch viel zu berichten. Von Milena, von ihrem Mann Alois, und natürlich von Pavel. Er schnitt jedes Mal gut ab, ja, hervorragend. Wach sei er, belesen, Geschichte interessiere ihn sehr, da wisse er enorm viel – auch von Tatíček Masaryk. Und höflich sei er, unterhaltsam … ein begnadeter Witzeerzähler dazu. Ein guter Junge!

Guter Junge … über vierzig. Na ja! Wollte sie, dass ich die gleiche Freude an ihm habe? Sicher. Aber lassen wir das!

Ich trotzte, schmunzelte und winkte ab. Oft musste ich sogar sagen: – Stopp Mama, mir reicht’s! Mit Pavel gehst du mir langsam auf die Nerven. Merkst du das nicht?

Und dennoch, die Berichte meiner Mutter hinterließen offensichtlich tiefere Spuren, als ich am Anfang wahrhaben wollte.

– Und was macht der Topjunge beruflich?, fragte ich eines Abends.

Mama war überrascht. Sie schaute mich kurz an und lächelte:

– Er arbeitet in einem Verlag, an einer Lektoratsstelle. In der Erwachsenenbildung ist er ebenfalls tätig. Und nebenamtlich trainiert er die Handball-Junioren in Nejdek.

– Was? Sportlich ist der tolle Typ auch?

– Sehr! Er war seinerzeit in der Mannschaft von Aussig an der Elbe, Nordtschechien-Meister. Und ich denke, die Trainerarbeit macht ihm Spaß.

– Verheiratet? Kinder?

– Das nicht. Aber eine Freundin.

– Kennst du sie?

– Nur vom Hörensagen; ich glaube, sie studiert noch.

Nach der Weihnachtseinladung – ein Besuch, der inzwischen zur Tradition geworden war – brachte Mama aus Vojtyn eine wichtige Neuigkeit mit: Pavel sei seit einigen Wochen wieder Solist, teilte Milena meiner Mutter mit; er habe sich von Andulka, seiner Freundin, getrennt. Für sie, Milena, sei das eine große Überraschung, denn sie habe den Eindruck gehabt, bei den beiden laufe alles gut. Tja, so leicht könne man sich täuschen!

Hoppla, eine tolle Nachricht, nicht uninteressant!

Ich bat meine Mama, von unserer Weihnachtsfeier ein paar Fotos nach Vojtyn zu mailen. Und sie solle bitte achtgeben, dass ich auf den Aufnahmen nicht unvorteilhaft aussehe.

Mutter schmunzelte: – Gut, Laura, das mache ich. Vorher zeige ich dir lieber die Fotos.

Das tat sie dann auch. Ich war mit keinem Bild besonders zufrieden, leider; wir mussten vor dem langsam altersschwachen Weihnachtsbaum ein Fotoshooting organisieren. Ich zog mich dezent-feierlich an, wir prosteten uns lächelnd zu, und der Vater knipste wie ein bestellter Profi.

Die Regie – wo, wie und vor allem was im Hintergrund stehen sollte – übernahm natürlich die Mutter.

Hat es genützt? Oder war es doch bloß ein Zufall? Ich hielt beides für möglich.

Er würde gerne am übernächsten Wochenende kurz vorbeikommen, schrieb er. Natürlich nur, wenn ich wolle und gerade Zeit habe. Er sei nämlich in unserer Gegend, seine Junioren hätten ein Freundschaftsspiel in Kossau, gar nicht weit von Hoff.

Die Mutter flötete am Telefon: – Eine tolle Idee, Pavel, das passt uns ganz gut … ich freue mich!

Ja, ich freute mich auch, gebe ich jetzt zu. Es war ein kurzer Besuch, aber eine schöne Begegnung.

Pavel brachte eine große Schachtel mit Quarkbuchteln, die seine Mutter für uns gebacken hatte, und dazu eine Flasche mit böhmischem Kräuterlikör; nein, Blumen waren nicht dabei. Mama bedankte sich überschwänglich und überschüttete ihn mit vielen Fragen. Er nutzte allerdings diese ideale Möglichkeit nicht aus, um viel über sich selbst zu erzählen, oder um sich in eine Trump-Heldenpose zu werfen. Nein, er tat es nicht, er ging also, ein wenig böse ausgedrückt, der Mama nicht auf den Leim.

Ganz im Gegenteil! Er zeigte Interesse an ihrem Schicksal, fragte viel, und ich war überrascht, was alles er bereits wusste. Seine Mutter hatte ihm offensichtlich schon manches über unsere Familie erzählt.

Mama nahm den Faden bald auf und sprach von Masaryk, Beneš, von den Nachkriegsjahren und von ihren Eltern. Pavel hörte aufmerksam zu, stellte weitere Fragen, und Mama kam immer mehr in Schwung; es gab Momente, wo ich mir sagen musste, tja, so habe ich sie selten erlebt.

Die einzige Irritation war – nein, vielleicht nur eine Überraschung –, als Pavel ein kleines Heft aus der Jackentasche holte und nach einer höflichen Frage, ob er sich diese interessanten Erinnerungen notieren dürfe, tatsächlich mit dem Aufschreiben begann.

Diesmal hörte ich zum ersten Mal, dass er Geschichte studiert hatte, mit dem aktuellen Schwerpunkt die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und zwar in dem geografischen Raum der ehemaligen österreichischen k.u.k.-Monarchie. Er erwähnte Masaryk, Kramář und Beneš, und ich befürchtete, dass auch die Mutter mit dem Notizenkritzeln beginnen würde. So weit kam es aber nicht.

Wir tranken Punsch mit dem Kräuterschnaps aus Böhmen, und Mama bekam vor Freude und Aufregung rote Flecken auf den Wangen und am Hals.

Pavel musste nach etwa drei Stunden leider aufbrechen. Wenn es nach Mutter gegangen wäre, hätte er bis zum nächsten Morgen bei uns bleiben können. Ja, sie war von ihm ziemlich begeistert.

Als wir wieder alleine in unserem Wohnzimmer saßen, schwärmte sie weiter. Ich fürchtete allmählich, in dieser Dichte und Eindeutigkeit könnten ihre Worte nur kontraproduktiv wirken.

– Und jetzt stopp, Mama, sagte ich. Für heute reicht’s!

Ich zog mich bald in unsere kleine Wohnung im ersten Stock zurück.

Zu dem Handballmatch ging ich nicht, ich hatte also keine Ahnung, ob es wirklich stattgefunden hatte. In den Zeitungen sah ich weder vorher noch nachher eine Notiz von einem Gastspiel. Pavel fragte ich natürlich nicht. Wozu auch!

Nach Vojtyn fuhren wir erst im Frühling, Mitte Mai muss es gewesen sein, es blühte alles und die Welt war farbig wie seit dem Frühherbst nicht mehr.

Milena empfing uns diesmal besonders feierlich. Wir tranken mährischen Wein, lachten viel, die Stimmung war von Anfang an heiter. Die Mütter debattierten auf dem Sofa, später brachte Milena eine Flasche Becherovka auf den Tisch. Ich ging bald ins Dorf und wollte nach meinen alten Kameraden aus der Kindheit fragen.

Und Pavel?

Er machte sich inzwischen in der Küche nützlich, das fand ich gut. Am Mittagstisch stellte ich allerdings fest, dass Mama bezüglich meiner Scheidung schon alles ausgeplaudert hatte. Ich wunderte mich, ein bisschen verärgert war ich auch, biss mir aber bei unserer Heimreise auf die Zunge.

– Und? Gefällt er dir?, fragte mich Mama im Auto.

– Na ja, das beschäftigt mich gerade.

Meine Mutter ging wahrscheinlich davon aus, dass unsere Marcelka bald einen neuen Vater bekommen sollte, damit nicht alles auf meinen – genauer gesagt: vor allem auf ihren – Schultern lastete. Bei mir spielten noch andere Überlegungen eine wesentliche Rolle; auf Details will ich in diesem Bericht lieber nicht eingehen, Herr Durbach, ich bitte um Verständnis.

Im Prinzip … ja, ich konnte es mir mit der Zeit gut vorstellen: Pavel, mein neuer Lebenspartner.

Nicht alles lag, zugegeben, auf der idealen Linie, ich war aber auch keine Frau, die nur Handküsschen entgegennimmt und selbst einen halben Meter über dem Boden schwebt. Mir wurde bewusst, dass die Chancen einer Lehrerin über vierzig mit einem Kind im Schlepptau anders sind als bei einer dreißigjährigen kinderlosen Schönheit.

Und die Unterschiede in der Bildung? Pavel, ein Akademiker, Dr. phil., und ich eine Fachkraft mit Lehrerpatent von einer pädagogischen Hochschule?

Nein, dieses Faktum bereitete mir keine großen Sorgen. Gisela, eine alte Freundin von mir, behauptete sogar, dass heutzutage ein Doktortitel bei einer Frau die gleiche Minderung der Heiratschancen bedeute wie fünfundzwanzig Kilo Übergewicht netto. Gut, vielleicht ein bisschen übertrieben formuliert, aber etwas war sicher dran.

Schon am zweiten Tag unseres Besuchs tauchte die Frage auf, wo er stehe und wie er unsere Beziehung sähe. Bin ich für ihn nicht nur eine mögliche Gespielin, eine mögliche erotische Zugabe sozusagen, sondern auch eine potenzielle Lebenspartnerin? Nicht der Bildungsgrad, eher die Altersfrage und Sorge traten plötzlich in den Vordergrund. Ich bin fast so alt wie er, wurde mir wieder bewusst, bloß ein halbes Jahr jünger, nicht gerade viel. Spielt das für ihn eine wichtige Rolle? Schon jetzt ? Oder erst in fünfzehn oder zwanzig Jahren?

Für die nächsten Wochen nach unserer Begegnung entschied ich: keine Hektik, keinen Stress und vor allem keinen Aktionismus!

Zuerst mal abwarten und keine unnötigen Fragen stellen. Nur «Klid’ánko», wie die Tschechen zu sagen pflegen.

Abwarten, ja, das hatte ich vor. Wie lange aber? Wochen? Monate? Ein gutes Jährchen? Eines stand für mich fest: Du bist nicht die Erste, die schreibt.

Er meldete sich. Nach etwa zwei Wochen. Telefonisch. Wie es mir gehe, wollte er wissen, und ob daheim alle gesund seien … erst zuhause sei ihm bewusst geworden, wie er die ganze Zeit geplappert habe.

– Geplappert? Gar nicht, sagte ich. – Du hast nur auf Mamas Fragen geantwortet. Absolut korrekt.

– Gut. Aber du warst ziemlich schweigsam.

– Du übertreibst, Pavel! Möglicherweise ein wenig schweigsamer als sonst, gar nicht ungern. In der Schule spreche ich genug … dort erwartet man es von mir.

– Was unterrichtest du eigentlich?

Ich war froh, dass Mama nicht alles ausgeplaudert hatte. Ich berichtete, eher kurz; Pavel stellte noch weitere Fragen, und auch hier waren meine Antworten nicht besonders ausführlich. Ich versuchte eher, ihm den Ball zurückzuspielen – beim etwa dritten Versuch erfolgreich.

Ja, er unterrichte ebenfalls, sagte er, etwa dreißig Prozent Arbeitsverpflichtung, Erwachsenenbildung. Sonst arbeite er in einem Verlag und an einem Forschungsprojekt sei er ebenfalls beteiligt, das mache ihm zur Zeit am meisten Spaß.

– Geschichte?

– Ja, Geschichte. Vor allem die Zeitabschnitte nach der vorletzten Jahrhundertwende, die Jahre also, über die deine Mutter erstaunlich viel weiß.

Nach einer knappen Viertelstunde waren wir wieder bei Masaryk angelangt, was mir recht war. Hauptsache, es hatte nichts mit meiner Schule zu tun.

– Na ja, sagte ich: – Mama ist ein großer Fan von ihm, das hast du selbst bemerkt.

– Wie die meisten Tschechen. Deshalb auch meine Sorge, Laura. Das alte Masaryk-Bild wird man wahrscheinlich nicht korrigieren wollen.

– Korrigieren … glaubst du, dass es gelingen wird?

– Eben! Da bin ich mir nicht so sicher.

Masaryk

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