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1. Teil
I. Sinope

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Hoch ging die See. Von Nordost her sausend, schien der Sturm das kleine Küstenboot zerdrücken zu wollen, das sich ihm, in seinen Planken stöhnend, entgegenstemmte und lavierend weiter und weiter in die dunkelgrünen, von weißem Schaum überspritzten Wellen eindrang. Wie knarrten die schwanken Masten, wie flatterten und klapperten die Taue! Wie hohl und dumpf seufzte der Wind in dem nassen Segeltuche, dem er dienstbar werden musste durch die Geschicklichkeit des türkischen Steuermanns, der ernst und schweigend am Ruder saß! Tief auf die rechte Seite geneigt, oft mit dem Segel die Spitzen der Wellen streifend, dann sich wieder hebend, arbeitete das Boot sich durch die schaumüberzogene. rastlos rauschende Flutenwelt. Grau und schwer lag der Himmel über dem Getose der Wogen, kalter Regen sprühte nieder, Nebel verdeckte die Fernsicht.

»Sehr schönes Wetter! Echtes Wetter, Sir!« sagte ein Mann mit einem roten, breiten Gesicht, gelblichweißem Backenbart und im englischen Matrosenanzuge zu einem jungen Manne, mit dem er auf einem Brett vor der Tür der niedrigen Kajüte saß.

»Ja, Johnny, schönes Wetter!« antwortete der junge Mann in englischer Sprache, und sein gedankenvolles Gesicht zeigte, dass er kaum wusste, was der andere gesprochen. Dann aber richtete er sich ein wenig auf, blickte um sich und rief einen Bootsmann, der auf das Segel achtete, auf Türkisch an:

»Wir müssen doch bald dort sein? Lugt Ihr auch tüchtig aus? Könnt Ihr das Ufer erkennen?«

»Noch eine halbe Stunde, wenn’s gut geht, Herr!« antwortete der Türke. »Es ist schlechtes Wetter!«

Der junge Mann hüllte sich fester in die dichte Decke von dunklem Wollenstoff, die ihn vor dem Regen und vor der Kälte schützte – denn es war der letzte Novembertag – ließ seinen Blick über das schäumende Meer gleiten und versank wieder in sein unruhiges Nachdenken. Er sah bleich aus, und die dunkle Decke, die er bis hoch, hinaufgezogen, sowie die fesartige Kopfbedeckung, die jedoch dunkelbraun, nicht rot war, hoben diese Blässe noch mehr hervor. Dass er kein Engländer sei, ließ sich auf den ersten Blick erkennen, obwohl er mit dem Matrosen Englisch gesprochen. Die Blässe seines Gesichts war keine nordische; sie war angehaucht von einem leichten gelblichen Schimmer, den nur der Süden kennt. Auch zeigten die Brauen, das lange, vom Regen feuchte Haar und der Schnurrbart, der sich lang, schmal und glänzend bis zur Wange hinaufzog, das reine und tiefe Schwarz des Orients. Dieses Schwarz dämpfte auch den gelblichen Anhauch des Gesichts und ließ es fast mädchenhaft zart erscheinen, ja, unter diesen dunklen Brauen leuchteten selbst die Augen, obschon vom reinsten Braun, in einem hellern Glanze. Orientalisch war auch die schmale Stirn mit den scharf abfallenden Schläfen, die gebogene, schmale Nase; der feingeschnittene Mund; aber es ließ sich doch nicht leicht erkennen, welchem Volke des Orients der junge, vielleicht fünfundzwanzigjährige Mann angehörte. Der· Schnitt des Gesichts, die etwas längliche Form der klaren Augen, der Bau des Kopfes trugen den edelsten Charakter. Man hätte einen vornehmen Perser oder einen Circassier in ihm vermuten können.

Auch der Ausdruck seiner Züge zeigte nicht das Lässige, Phlegmatische, was den eigentlichen Türken verrät; er war lebhafter, intelligenter, wechselvoller. Ein Türke würde die Ungeduld, die Erwartung und die Sehnsucht, auch wenn er sie gefühlt, unter der Maske der Gleichgültigkeit verborgen haben; die Züge des jungen Mannes aber spiegelten deutlich wieder, was in ihm vorging. Eine verzehrende Unruhe schien ihn zu quälen; man sah es deutlich, dass er sich Gewalt antat, um ruhig zu bleiben, dass nur die Notwendigkeit ihn auf seinem Platze festhielt. Und in der Tat hätte jede vorschnelle und unüberlegte Bewegung dem kleinen Boote Gefahr bringen können, das mutig gegen den scharfen Nordostwind des Schwarzen Meeres kämpfte.

Wie vollkommen ruhig, ein Bild der glücklichsten Zufriedenheit, saß dagegen Johnny neben ihm! Wie heiter blickte das Auge des wohl fünfzigjährigen Matrosen in das weiße Schaumgetümmel! Wie angenagelt saß er da mit seiner vierschrötigen Gestalt, die breiten Hände auf die noch breitern Knie gestützt: das leibhaftige Bild, einer echten, lustigen englischen Teerjacke! Fast war es, als ob sein Gewicht allein das Boot auf die Seite neige, und als ob er es wisse und sein Möglichstes tue, es niederzuhalten. Die hellen blauen Augen leuchteten von Zufriedenheit und Wohlbehagen.

Ein Sturmvogel flog mit schrillem Schrei dicht über das Boot hin.

»Aha, auch da, alter Freunds«, sagte Johnny mit der Zunge schnalzend. »’s ist doch gerade wie im Kanal, Mr. George! Da sind wohl auch Möwen?«

Und als er dabei den jungen Mann anblickte, schien ihm die Blässe desselben aufzufallen. Er suchte ruhig und ohne sich umzuwenden hinter sich mit der Hand und zog eine große, mit Stroh umflochtene Flasche hervor.

»Hier Mr. George!« sagte er. »Einen tüchtigen Schluck! Sie sehen blass aus! Scharfer Wind!«

»Es ist nicht Wind und Wetter, Johnny«, antwortete der junge Mann, und man hörte jetzt an seinem Akzent, dass er kein gebotener Engländer sei, obgleich er das Englische vollkommen fließend sprach, »es ist die Unruhe, die Ungeduld! Ich danke, Johnny.«

Er lehnte die Flasche mit einer leichten Bewegung ab. Johnny hielt sie ihm noch eine Sekunde lang hin, als erwarte er, der junge Mann werde sich eines Bessern besinnen. Dann nahm er selbst resolut einen tüchtigen Zug und sagte fest und bestimmt:

»Halt Leib und Seele zusammen!«

»Ob sie da sein mögen, ob sie angekommen sind, Johnny?« sagte George leise und unsicher.

»Wer, Mr. George?« fragte Johnny, der aufmerksam eine heranrauschende Welle beobachtete.

»Nun, Mr. Hywell und Miss Mary«, antwortete George.

Die Antwort Johnnys wurde auf eine Minute unterbrochen; er rieb sich Schaum und Wasser aus dem Gesicht, denn die Welle war über das Boot fortgerollt und hätte die beiden fast fortgespült.

»Ganz gut gemacht!« brummte Johnny mit einem Blick auf den türkischen Steuermann, der durch eine geschickte Bewegung den Stoß der Welle gebrochen.

»Verstehen’s besser, als ich dachte! Mr. Hywell, meinen Sie, und Miss Mary? Gewiss sind die angekommen. Was soll denen passieren?«

»Johnny, ich bin in Todesangst!« sagte der junge Mann mit einem tiefen Atemzuge. »Es hat sich alles seit der Abreise so verändert. Persien hat Truppen aufgeboten, um den Russen zu helfen; die Kurden haben sich bewaffnet – es ist räuberisches Gesindel – man kann nicht wissen, was geschehen ist! Bis vor kurzem dachte ich noch wie Du: was könnte Miss Ma – Mr. Hywell widerfahren? Aber seit einigen Wochen ist mir bange geworden! Die unglückliche Idee, auf dem Landwege von Ostindien zurückzukehren!«

»Hat nichts zu sagen, junger Herr! Mr. Hywell kommt überall durch!« sagte Johnny gleichmütig.

»Hier in Sinope – so heißt ja wohl das Ding – sollten wir Nachricht erhalten?«

»Oder Mr. Hywell und Miss Mary selbst finden«, antwortete George. »Ach, wie langweilig ist diese Fahrt, wie albern dieser Nordost! Und wenn man wenigstens um sich sehen könnte!«

Die Worte, welche sich die drei türkischen Bootsleute mit lauter Stimme zuriefen, ließen das Gespräch Georges und Johnnys stocken. Das Boot schien in Gefahr gewesen zu sein. George verstand genug Türkisch, um zu hören, dass sie sich gegenseitig Vorwürfe machten; jetzt aber schien die Gefahr vorüber. Es handelte sich darum, die Spitze der Halbinsel zu umkreisen, auf deren schmaler, mit dem Festlande zusammenhängender Seite, nach Süden zu gewandt, die Stadt Sinope liegt. Schon legte sich der Wind voller in die Segel, denn das Boot wandte sich mehr südlich. Da aber der Nebel noch immer schwer auf dem Wasser ruhte, so mochten es die türkischen Schiffer für geraten halten, nicht die ganze Kraft des Windes zu benutzen. Vorsichtig fuhren sie durch die hier hochbrandende See.

Ein eigentümlicher Ton, den die Türken ausstießen, und die Richtung ihrer Blicke, die sich nach derselben Seite wandten, machten George und Johnny aufmerksam. Im Osten zog ein riesiger Schatten vorüber.

»Was ist das?« fragte George den Türken.

»Ein großes Fahrzeug, Herr, ein Kriegsschiff.«

»Das sehe ich. Aber von welcher Nation? Eure Schiffe liegen ja auf der Reede von Sinope.«

Die Türken blickten sich unter einander an. Der Bootsmann gurgelte einige Worte hervor, und die Stellung der Segel wurde verändert. Das Boot nahm langsam eine östliche Richtung. Johnny lugte nach allen Seiten, rief dann den Türken am Steuer mit einem lauten Ahoi! an und deutete auf einen zweiten, riesigen Schatten, der ebenfalls im Osten vorüberzog.

»Sagen Sie den Levantinern, dass das ein Russe war, Mr. George!« wandte er sich zu dem jungen Manne. »Ein russischer Dreidecker –kenn’ die Bauart!«

Der junge Mann, der noch bleicher geworden, meldete es den Türken.

»Wissen’s schon, Herr!« lautete die Antwort »Und was nun, Herr? Die Giaurs greifen unsere Schiffe auf der Reede an oder spionieren wenigstens herum. Sollen wir hindurch, Herr?«

»Hindurch, ja«, rief George energisch. »Ich muss hinein nach Sinope!«

Wieder gurgelten sich die Türken unverständliche Worte zu.

»Müssen warten, bis das Fahrwasser rein ist«, wandte sich dann der Steuermann zu George. »Dies ist eine kleine Barke, der Wind weht scharf, der Nebel ist stark. Allah ist groß, aber man muss ihn nicht versuchen!«

George wollte ungeduldig antworten, als ein dumpfes, volles Dröhnen durch Nebel und Sturm herüberdrang. Johnny hob aufmerksam den Kopf; George hielt sich nur mit Mühe auf seinem Platz, die Gesichter der Türken waren sehr ernst geworden.

»Damn!« sagte Johnny. »Das war eine volle Lage – war nicht fern – kam von Südwest, gegen den Wind! Brummen gut – ist groß Kaliber!«

Der junge Mann hatte die Zähne zusammengepresst und schien eine Minute lang die Beute der qualvollsten Aufregung zu sein. Dann, sich mit Gewalt überwindend, sagte er:

»Und wie nun, Johnny, wenn die Russen die türkische Flotte angreifen, die auf der Reede von Sinope liegt – wenn sie die Stadt bombardieren – was dann?«

»Ei – mitten hindurch!« sagte Johnny lustig. »So eine Schwalbe fliegt den Geiern mitten durch die Flügel, wenn sie miteinander kämpfen. Nur mutig, Sir!«

»Und wenn Mr. Hywell und Miss Mary –«

Er vollendete den Satz nicht. Johnny hob den Kopf und zog die Brauen hoch.

»Mr. Hywell – damn! Das ist wahr! Aber dem schadet’s nicht! Der Master kommt überall durch!«

Der Seufzer des jungen Mannes klang wie ein Stöhnen.

»Ich fürchte mich nicht, Johnny«, sagte er. »Aber wenn man mich gefangen nimmt –·Du weißt oder weißt nicht, dass ich aus Russland geflohen –«

Johnny riss die Augen noch weiter auf.

»Damn, Sir! Das wusste ich nicht. Hatte wohl was gehört, dass Mr. Hywell Sie irgendwoher mitgebracht, wusste aber nicht, dass Sie ein Russe seien, hielt Sie für einen Levantiner!«

»Nein, Johnny, ich bin keins von beidem«, antwortete George. »Ich bin ein Kind der Berge im Osten dieses Meeres; wir könnten sie vielleicht sehen, wenn der Himmel sich klärte. Mein Vaterland ist das, Johnny! Ach, ich kann Dir nicht mehr sagen. Nur nicht sterben, nicht jetzt, und nicht gefangen werden! So nahe dem Vaterland, so nahe der Freiheit!«

»Damn, Sir! In Alt-England waren Sie doch frei genug!«

»Ja, Johnny, aber Alt-England ist nicht mein Vaterland!« rief George mit zuckenden Lippen, und seine Augen leuchteten auf in Qual und Begeisterung. »Ich bin bereit zu sterben, ja, aber auf dem Boden meiner Väter, mit dem Schwerte in der Hand!«

»Hm, Sir, so sind Sie auf einer Expedition?« fragte Johnny schlau.

»Still, Johnny! Ich glaubte, Du wüsstest es!« sagte George. »Da – höre!«

Dasselbe Dröhnen drang herüber, diesmal lauter; nicht lange, und ein drittes Dröhnen folgte, und nun rollte der Donner ununterbrochen fort, wie aus tausend Feuerschlünden. Die Türken hatten die Segel eingezogen und lauschten beklommen. Johnny nickte zufrieden mit dem Kopfe.

»Gute Breitseiten!« sagte er vor sich hin. »Wünschte, unsere Dreidecker, die da faul im Bosporus liegen, möchten endlich auch einmal die Mäuler auftun! Schaut!«

Ein Segel hob sich über die Wellen empor, ein Boot flog ganz in der Nähe vorbei. Die Türken riefen es an; Antwort erschallte herüber. George, dessen Gesicht bleich geworden wie der Tod, fragte, ob man etwas verstanden und erfahren. Die Türken antworteten, dass eine große russische Flotte die türkische Flottenabteilung auf der Reede von Sinope angegriffen, und gurgelten ein Allah! über das andere, fluchend und betend.

Inzwischen lichtete sich der Nebel ein wenig.

Vielleicht zerriss ihn der Donner der Kanonen, der grausenerregend herüberdröhnte. Die Küste wurde sichtbar.

»Können wir nicht hier landen?« rief George. »Ich will hinein nach Sinope. Oder setzt mich und meinen Begleiter allein ans Land und kreuzt, bis Ihr eine Gelegenheit findet, irgendwo anzulegen. O Johnny«, fuhr er auf Englisch fort, »wenn die Russen die Stadt besetzten, was würde dann aus Master Hywell und seiner Tochter!«

»Nun, Goddam«, rief Johnny verwundert, »was können die Russen unserm Master anhaben? Wofür ist der Konsul in der Stadt? Oder ist keiner da?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte George. »Ich soll Erkundigung bei einem deutschen Herrn einziehen. Aber was nutzt ein Konsul gegen Kanonenkugeln?«

Johnny machte ein Gesicht, als ob man noch gar nicht wissen könne, wie weit sich in dieser Hinsicht die Macht Englands erstreckte, und der Steuermann antwortete jetzt dem jungen Manne, dass gar keine andere Möglichkeit sei, als im großen Bogen die beiden Flotten zu umkreisen und den Versuch zu machen, südwestlich von Sinope, an einer Stelle, die ihnen bekannt war, zu landen. George nahm das Anerbieten an und das Boot flog in südlicher Richtung davon, gejagt von dem günstigsten Winde.

Inzwischen dröhnte ununterbrochener Geschützdonner. Plötzlich zerriss ein Krachen, stärker als alles vorhergegangene, die Luft. Die Türken fuhren zusammen und beteten. Johnny deutete ernst nach oben.

Er wollte ausdrücken, es sei ein Schiff in die Luft gegangen. Und bald darauf fielen in der Tat hier und dort einige Fetzen Holz und Segeltuch neben dem Boot ins Meer. George stand auf und blickte nach Westen.

Das hohe Ufer versperrte die Aussicht; auch war die Luft noch immer trübe. Aber es zeigte sich deutlich eine Wolke in einiger Entfernung, deren Farbe von derjenigen des Nebels und der Wolken verschieden war – der Pulverdampf über der Kampfstätte. Sie sahen auch die beiden Schiffe, deren Umrisse sie vorher bemerkt und die mit dem herrlichsten Winde zum blutigen Handwerk in die Bucht von Sinope hineinsegelten.

Pfeilschnell schoss das Boot vorwärts. Bald lag die Bai auf ihrer Nordseite – noch heller wurde die Luft – sie sahen eine Reihe von Schiffen, über ihnen eine schnell vom Winde zerrissene, aber sich stets erneuernde Dampfwolke.

»Wie viel Schiffe haben die Türken auf der Reede, Sir?« fragte Johnny.

George antwortete, dass die Flottille, wie er in Konstantinopel gehört, aus zehn Kriegsschiffen zweiten, dritten und vierten Ranges bestanden, die Truppen und Munition für die Armee in Kleinasien und die kaukasischen Bergvölker an Bord gehabt, dass er aber nicht wisse, ob diese ganze Flottille im Hafen von Sinope vor Anker gegangen sei.

»Nun, wenn es auch die ganze ist«, sagte Johnny, »so wird sie doch nichts gegen die Russen ausrichten können. Ich zähle acht bis neun große russische Schiffe, darunter fünf oder sechs ersten Ranges. Die Russen sind den Türken fast ums Doppelte überlegen. Ja, wenn es Engländer und keine Türken wären!«

Es war jetzt mehr als eine halbe Stunde seit dem Beginn des Kampfes vergangen, der noch immer mit derselben Heftigkeit fortwährte. Der nördliche Wind trug das Krachen der Geschütze so deutlich herüber, dass die Luft erzitterte.

Das Boot näherte sich der Küste. Johnny lugte aus. Die Brandung musste jeden Landungsversuch an den steilen Ufern verhindern. Die Türken schienen jedoch ihrer Sache gewiss zu sein; sie mussten das Ufer kennen. Und in der Tat erreichten sie nach einer viertelstündigen, zuletzt wieder sehr vorsichtigen Fahrt den Eingang einer kleinen Bucht. Johnny nickte beistimmend, als der türkische Steuermann das kleine Fahrzeug glücklich durch die Brandung in die kleine Bucht lenkte, die durch einen hohen Felsengrat, der sich wie eine Mauer in das Meer hineinzog, gegen den Nordwind geschützt war. Am Ufer der Bucht erhoben sich ärmliche Fischerhütten; einige Boote ankerten in dem ruhigen Wasser.

Die Bewohner der Hütten standen auf dem Felsen und schauten erstarrt vor Schrecken nach Sinope hinüber.

»Gott sei Dank!« rief George aufatmend, als er an das Ufer sprang. »Nun, Leute«, wandte er sich an die Türken, »ist das Boot hier sicher und kann es hier liegen bleiben, bis ich Euch Nachricht sende? Ich werde Eurer noch bedürfen, auch habt Ihr Euch mir auf eine Woche verdungen. Ich glaube nicht, dass die Russen Sinope besehen werden, und ich denke, das Boot wird hier sicher sein; die Russen werden diese Bucht nicht entdecken.«

Die Türken wollten sich gegen alle Wechselfälle sichern; sie verlangten eine Entschädigung für den Fall, dass ihr Boot von den Russen genommen würde George versprach alles. Dagegen gelobten die Türken, sich noch sechs Tage zu seiner Verfügung zu halten und über das Gepäck des jungen Mannes, das sich in der Kajüte befand, zu wachen. Es wurde ausgemacht. dass die Türken das Boot nach dem Hafen von Sinope führen sollten, sobald sich mit Sicherheit herausgestellt, dass die Russen die Reede verlassen. Dann eilte George, von Johnny gefolgt, die Berge hinauf.

Er hatte die schützende Decke im Boot zurückgelassen, und seine schlanke, hohe und regelmäßige Gestalt zeigte sich jetzt unverhüllt. Trotz der Eile offenbarten seine Bewegungen natürlichen Anstand und Anmut. Er trug europäische Tracht, jene dem türkischen Fes ähnliche dunkle Mütze ausgenommen. Es wurde Johnny nicht leicht, dem beweglichen jungen Manne die Berge hinauf zu folgen; seine starke, untersetzte Gestalt war für das Klettern nicht eben geeignet. Aber unermüdlich und ausdauernd überwand er die Schwierigkeiten, des Schweißes nicht achtend, der ihm auf das gerötete Gesicht trat. Auf der Höhe angelangt, orientierten sie sich über den Weg und eilten dann auf dem Kamm der Felsen weiter.

Das grässlich schöne Schauspiel der Seeschlacht lag jetzt fast zu ihren Füßen. Nicht nur der Donner der Kanonen umdröhnte sie majestätisch, sie hörten auch zu weilen das Sausen der Kugeln; sie sahen deutlich die russischen Schiffe in Kampfordnung aufgestellt und auch die türkischen Fahrzeuge, deren Zahl bereits zusammengeschmolzen war. Die Strandbatterien von Sinope schienen untätig zu sein; sie hätten nicht feuern können, ohne die türkischen Schiffe zu treffen, denen es bei dem unerwarteten Angriff unmöglich gewesen, ihre Stellung zu ändern. Johnny hätte gern mit Muße den Kampf beobachtet, aber die Ungeduld Georges trieb auch ihn weiter. Ein furchtbares Krachen hielt sie beide auf, atemlos standen sie still. Eine ungeheure Lohe erhob sich im Hafen von Sinope, eine riesige Dampfwolke wirbelte langsam empor, bis sie vom Winde ergriffen und zerstreut wurde. Es zeigte sich, dass wieder eine neue Lücke in den türkischen Schiffen entstanden. Andere Schiffe brannten; eins versank, wenige Minuten, nachdem jenes Schiff in die Luft geflogen. Es war ein Anblick voll Grauen, nur gemildert durch die weite Entfernung, die den beiden Männern die Einzelnheiten entzog, von denen ein solcher Kampf begleitet sein musste. Selbst Johnnys Gesicht wurde finster und er sagte mürrisch:

»Das ist ja eine Heidenwirtschaft! Da sind wir gerade gut zurechtgekommen! Damn! Warum schickten wir nicht fünf von den Dreideckern, die jetzt im Bosporus von ihrem Nichtstun ausruhen, in den Hafen? Da wären die Russen wohl hübsch draußen geblieben! Na, Sir, es kommt noch! Ich denke, nun wird’s losgehen!«

Der Kampf währte ununterbrochen mit derselben Wut fort, während die beiden, so schnell es der unebene Boden erlaubte, über die Höhen eilten. Ein türkisches Schiff sank nach dem andern. Auch in der Stadt wirbelten schon Rauchsäulen auf. Die Strandbatterien von Sinope ließen ihre Kanonen spielen, denn die Schiffe, die sie gehindert, lagen entweder auf dem Meeresgrunde, oder waren in Millionen Trümmern zum Himmel emporgeflogen oder man hatte sie auf den Strand treiben lassen. Die Russen überschütteten die Batterien mit Bomben.

George und Johnny waren jetzt der Stadt so nahe, dass sie deutlich die Barken bemerken konnten, auf welchen die türkische Besatzung sich von den Schiffen zu retten suchte. Auch einen kleinen Dampfer bemerkten sie, der durch die russische Flotte hindurchfuhr kund glücklich die hohe See erreichte. Es war, wie sie später erfuhren, der türkische Dampfer Taïf, der einzige, der die Kunde von dem Unglück bei Sinope nach Konstantinopel brachte.

Die Wanderung bis zu den Vorstädten hatte ungefähr eine Stunde gedauert; wenig mehr als zwei Stunden waren seit dem Beginn des Kampfes verstrichen. Jetzt wurde das Feuer plötzlich schwächer und schwieg – dann fast ganz. George und Johnny waren eine Zeitlang in einer Ebene weitergeeilt, von der sie den Hafen nicht sehen konnten. Als sie bei den ersten Häusern der Vorstadt anlangten und auf das Meer blickten, sahen sie nur noch zwei kleine türkische Kriegsschiffe, die entmastet am Strande lagen, und ein anderes am Schlepptau eines russischen Schiffes. Die Flotte war vernichtet.

Die schnelle Wanderung hatte die Wangen des jungen Mannes gerötet; jetzt wurden sie wieder blasser.

Seine Miene zeigte eine tiefe, fast verzweiflungsvolle Trauer.

»O Johnny«, seufzte er, »ein harter Schlag auch für meine Hoffnungen! Wenn das so fortgeht, wenn; viele solche Unglücksfälle folgen, dann ist es geschehen um die Türken und die Verbündeten!«

»Ei, lassen Sie nur die Teerjacken kommen. Sir!« sagte Johnny zuversichtlich. »Die und die französischen Rothosen, die werden’s schon machen, keine Sorge, drum!«

Die Stadt brannte und bot ein Bild voll Schrecken.

George und Johnny schritten langsam vorwärts, denn die Straßen waren angefüllt mit fliehenden türkischen Soldaten und Einwohnern, die in den Bergen Schutz vor der erwarteten Landung russischer Truppen suchten.

Je mehr die beiden sich demjenigen Teile der Stadt näherten, der am meisten von den Kanonenkugeln gelitten, desto grässlicher wurde der Anblick. Tote und Verwundete lagen auf der Straße. Niemand kümmerte sich in dem allgemeinen Schrecken um sie. Aus zerstörten Häusern brachen die Flammen hervor; über einem großen Teile der Stadt schwebte eine einzige Glut- und Rauchmasse. Das Wimmern der Verwundeten, das Geschrei der Weiber und Kinder zerriss das Herz. Johnnys Gesicht war sehr finster geworden; George, an den Anblick des Todes nicht gewöhnt, musste oft entsetzt den Blick abwenden und stillstehen, um sich sammeln und dann rascher weiter eilen zu können.

Endlich gelangten sie in einen Teil der Stadt, der wegen seiner höhern Lage weniger gelitten zu haben schien. Aber auch hier sahen sie Trümmer und grässlich verstümmelte Leichen von den in die Luft gesprengten Schiffen. Ermüdet sank George auf eine steinerne Bank vor einem anscheinend verlassenen Hause.

»Es würde vergebens sein, jetzt zu fragen«, sagte er. »Niemand kann uns in dieser Verwirrung Auskunft geben. Ich hoffe zu Gott, Johnny, dass Mr. und Miss Hywell noch nicht angekommen oder dass sie der Gefahr entgangen sein mögen!«

»Ich hoffe mit Ihnen, Sir«, sagte Johnny ernst. »Wie heißt der Herr, bei dem Sie sich erkundigen sollen?«

»Mr. Wiedenburg«, antwortete George. »Er ist früher mit Mr. Hywell in England bekannt geworden und wohnt seit einiger Zeit in Konstantinopel und Sinope, um Handelsverbindungen anzuknüpfen. Bei ihm sollte ich Nachrichten über Mr. Hywell erhalten.«

»Wir wollen gehen, wir werden ihn schon finden«, sagte Johnny. »Ich möchte selbst gern wissen, ob er –«

Er beendete den Satz nicht. Die beiden saßen noch eine Zeitlang schweigend und erhoben sich dann. Sie versuchten, mehrere Türken, die an ihnen vorübereilten, anzureden, aber man gab ihnen keine Antwort. Endlich gelangten sie auf einen Platz, wo sie eine Menge Volk trafen, das in großer und wilder Aufregung zu sein schien. Hier fragte George einen Mann in europäischer Tracht nach der Wohnung irgendeines Konsuls. Der Mann war ein Italiener, verstand aber ein wenig Französisch und antwortete, dass er nur die Wohnung des österreichischen Konsuls Herrn Pirjantz kenne, die er den beiden bezeichnete. Er fügte hinzu, sie möchten eilen, wenn sie ihn sprechen wollten. Denn wie immer wende sich jetzt die Wut des türkischen Pöbels, da sie keinen andern Gegenstand finde, gegen die Fremden und namentlich gegen die Deutschen, die man als geheime Verbündete Russlands betrachte, während man auf die Engländer und Franzosen einige Rücksicht nähme, weil sie wenigstens den Willen zu haben schienen, den Türken zu helfen.

George und Johnny suchten die ihnen bezeichnete Wohnung auf, die sie schon von fern an der österreichischen Flagge erkannten. In der Tat zeigten sich in der Nähe derselben drohende und heftig redende Pöbelgruppen. George ging hinein in das Haus; man sagte ihm jedoch, dass der Konsul wegen augenblicklicher und dringender Geschäfte nicht zu sprechen sei. George fragte den Diener, ob er die Wohnung eines Herrn Wiedenburg kenne. Der Diener bejahte und antwortete, die Wohnung dieses Herrn befinde sich im, westlichen Teil der Stadt, in der Nähe der Vorstädte, und bezeichnete sie genauer. George fragte, ob er zufällig davon gehört, dass Fremde, Engländer, bei Herrn Wiedenburg angekommen seien. Der Diener verneinte.

»Ich war erst gestern bei dem Herrn im Auftrage des Herrn Konsuls«, fügte er hinzu, »ich habe aber keinen Fremden dort bemerkt. Wenn Sie Herrn Wiedenburg sehen, so sagen Sie ihm nur, er möge entweder in seiner Wohnung bleiben oder außerhalb der Stadt einen sichern Ort aufsuchen. Die Türken sind nicht gut auf uns zu sprechen – ich meine den Pöbel, der jetzt die wehrlosen Fremden zerreißen möchte, nachdem er keinen Mut gehabt, sich gegen die Russen zu verteidigen. Herr Wiedenburg möchte sich nicht auf der Straße zeigen!«

Die Wanderung musste von neuem begonnen werden. George fühlte sich von der Aufregung und von den Gräueln, die er gesehen, so matt, dass er sich auf Johnnys Arm stützte. Auch hatte er die Nacht schlaflos in dem kleinen Boote zugebracht, das am Morgen des vergangenen Tages Konstantinopel verlassen. Er fühlte sich fast krank. Johnny bedauerte, seine Rumflasche im Boot zurückgelassen zu haben, wo die faulen Türken sie wahrscheinlich leichter machen würden.

Nach langer Wanderung, nach vielem, meist vergeblichem Hin- und Herfragen erreichten sie das Haus, in welchem Wiedenburg wohnte. Aber was leicht zu erwarten gewesen, traf ein. Der Deutsche hatte sich nach der Stadt begeben, um sich bei den Konsuln zu erkundigen, welches Schicksal der Stadt bevorstehe. Auf die Frage nach Mr. Hywell antworteten die Diener, dass allerdings schon seit Wochen einige Zimmer für die Ankunft von Fremden bereitgehalten würden, dass diese Fremden aber noch nicht angekommen seien. George wollte sich entfernen, aber die Diener baten ihn und Johnny, zu bleiben. Sie mochten glauben, dass die Anwesenheit eines jungen Mannes mit orientalischem Gesicht und eines Mannes im englischen Matrosenanzuge zu ihrer Sicherheit dienen könne, und sprachen mit Besorgnis von einer bevorstehenden Plünderung. George nahm das Anerbieten gern an.

Die Diener brachten Tee und Wein, und der ermattete junge Mann setzte sich nieder, um feinen Gedanken nachzuhängen. War doch wenigstens eine Last von ihm genommen! Mr. Hywell und seine Tochter hatten sich nicht in Sinope befunden! Und doch hätte er andererseits gewünscht, sie zu sehen. Er konnte und wollte Sinope nicht verlassen, um einen Plan auszuführen, der über seine Zukunft, vielleicht sein ganzes Leben entscheiden musste, ohne Mr. Hywell noch einmal wiedergesehen zu haben. Je länger dieser fernblieb, desto länger musste der Aufenthalt Georges in Sinope währen – ein untätiger Aufenthalt. Und nichts erschien dem jungen Manne, dessen Seele sich in glühender Ungeduld verzehrte, qualvoller als die Untätigkeit.

Johnny spazierte indessen auf dem platten Dache auf und ab und beobachtete die Bewegungen der russischen Schiffe, die vor Anker gingen und die erhaltenen, nicht bedeutenden Beschädigungen ausbesserten. Er sah, wie eine Menge Ertrunkener aus dem Hafen aufgefischt wurden und ein russisches Parlamentärboot nach der Stadt ruderte, aus welcher immer noch Hunderte nach den westlichen Bergen flohen. Gewiss machte sich Johnny seine Gedanken über das, was er gesehen: Eine stattliche Flottille und Tausende von Menschenleben in dem kurzen Zeitraume zweier Stunden vernichtet! Einige Mastspitzen, die aus den leichtbewegten Wellen des Hafens hervorragten, die einzigen zerbrechlichen Denkmäler dieser grauenvollen Zerstörung! Aber sein rotes Gesicht blieb ruhig, selbst wenn er zuweilen ein Goddam! murmelte, und er rauchte gleichmütig seine kurze Pfeife, die er glücklicherweise nicht in dem Boot vergessen wie die Rumflasche.

Es dämmerte bereits, als Johnny hinabging. Er fand George auf seinem Stuhle schlummernd. Mit einer gewissen Teilnahme betrachtete der robuste Engländer das feine, blasse Gesicht des jungen Mannes, das selbst im Schlafe noch die Spuren innerer Unruhe trug. Er schüttelte den Kopf.

»Der muss etwas vorhaben!« brummte er vor sich hin. »Miss Mary ist’s nicht allein, die in ihm spukt. Nun, werden’s bald erfahren. Möchte wissen, was er eigentlich ist. Hielt ihn immer für einen Russen. Was liegt denn eigentlich da drüben für ein Land, im Osten des Wassers?«

Und er grübelte vor sich hin.

Das Eintreten eines Dieners weckte George; der Diener meldete, dass Herr Wiedenburg in der Nähe mit einigen Türken sprechend gesehen worden sei, dass er also wohl bald kommen werde. George erhob sich und schritt durch das Zimmer.

»Das war ein böser Tag, Johnny!« sagte er.

»Der erste Kampf, den ich in der Nähe gesehen habe, zeigte mir eine Niederlage der Türken. Der Tod ist grässlicher, als ich glaubte!«

»Nun, Sir«, meinte Johnny, »das ist er, aber doch nicht so schlimm, wie man glaubt. Ich kann zwar nicht viel mitreden von Schlachten, hab’ nur einmal drüben in China auf einem Kauffahrer ein hitziges Gefecht mit Piraten bestanden; doch wenn man mitten drunter ist, so merkt man’s weniger. Aber das Morden und die Toten zu sehen, ohne selbst teilzunehmen, ohne dass einem das Blut in den Adern kocht, ja, das ist hässlich. Der Anblick heut in der Stadt hat mir nicht gefallen!«

»Ich fürchte, das ist ein böses Vorzeichen, Johnny!« sagte George und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Für wen, Sir?«

»Nun, für den Kampf überhaupt und für mich!« antwortete George.

»Wollen Sie denn in den Kampf, Sir?« fragte Johnny. Und als der junge Mann nicht sogleich antwortete, fuhr er fort: »Oder meinen Sie die Engländer und Franzosen? Sie glauben doch nicht, dass die sich von den Russen so zurichten lassen würden wie die Türken? Die werden’s den Russen schon eintränken, warten Sie nur! So ungeschickt wird sich eine englische Flotte nicht aufstellen. Die Batterien konnten ja nicht feuern! Und die Tapfersten scheinen mir diese Herren Türken heute auch nicht gewesen zu sein. Etwas saurer hätten sie’s den Russen schon machen können, trotz der Überrumpelung! Scheinen sich sehr sicher hier gefühlt zu haben, die Herren Rotkappen, sonst hätten sie sich nicht so faul vor die Stadt gelegt und vergessen, Wache zu halten.«

Ein Herr trat ein, und Johnny unterbrach seine strategischen Betrachtungen. Es war ein bereits bejahrter Mann, der sich sogleich an George mit der Frage in englischer Sprache wandte, ob er es gewesen, der ihn zu sprechen gewünscht.

»Mein Name ist George, ich bin der Pflegesohn von Mr. Hywell«, antwortete der junge Mann.

»Willkommen dann!« antwortete Wiedenburg, ihm die Hand reichend. »Sie wollen Nachrichten über Mr. Hywell hören. Er ist noch nicht angekommen, auch vermute ich, dass er vielleicht nicht seinen Weg über Sinope nimmt. Aber ich will Ihnen die Briefe Mr. Hywells, zeigen. Kommen Sie mit mir!«

George folgte dem Deutschen nach dessen Wohnzimmer und fragte im Gehen nach dem Schicksal, das der Stadt bevorstehe.

»Nun, das Schlimmste scheint vorüber«, antwortete Wiedenburg. »Freilich, viel schlimmer für die Türken konnte es nicht werden! Indessen wäre eine Plünderung der Stadt doch immer ein trauriges Nachspiel zu diesem grässlichen Ereignis gewesen. Die Flotte ist vernichtet, vier- bis fünftausend Türken sind getötet, einige hundert gefangen. Über das Schicksal der beiden Admirale, Hussein- und Osman-Paschas, wissen wir noch nichts Genaues. Admiral Nachimow hat dem österreichischen Konsul angezeigt, dass er das Privateigentum respektieren wolle und dass die Feuersbrunst in der Stadt nicht von ihm beabsichtigt worden sei. Umso mehr haben wir eine Plünderung von Seiten der Türken zu fürchten; der Pöbel benutzt ja gern derartige Gelegenheiten, um sich für die überstandene Angst durch Gräueltaten an Unschuldigen zu entschädigen. Schon bedroht man Mr. Pirjantz, und beschuldigt ihn des Einverständnisses mit den Russen, weil Nachimow den Parlamentär an ihn geschickt. Zu wem soll er denn senden, wenn die andern Konsuln nicht zu finden sind? Nun, ich hoffe, die Gefahr wird vorübergehen. Im Notfall müssen wir die Russen um Schutz ersuchen. Nehmen Sie Platz, Sir! Hier sind die Briefe.«

Ein Diener brachte Licht, und George durchflog die Briefschaften, die Wiedenburg ihm reichte.

Mr. Hywell, den er seinen Pflegevater genannt, war ein reicher englischer Kaufmann, das Haupt eines großen Handlungshauses und als ein sehr erfahrener Mann oftmals von dem Handelsministerium zu Rate gezogen und zu Missionen verwendet. Teils im Auftrage der Regierung, teils in eigenen Angelegenheiten hatte er vor mehr als zwei Jahren eine Reise nach Ostindien unternommen. Der Aufenthalt dort war durch mancherlei Umstände verlängert worden; jetzt wollte Mr. Hywell über Persien zurückkehren Er hatte den mühsamen und unbequemen Weg zu Lande gewählt, weil ihm auch eine Mission für Persien anvertraut worden. Über Sinope wollte er dann nach Konstantinopel gehen und von dort nach England zurückkehren. Von den inzwischen ausgebrochenen Feindseligkeiten zwischen Russland und der Türkei hatte er erst kurz vor seiner Abreise aus Ostindien Kunde erhalten und der Nachricht, wie so viele Politiker, kein großes Gewicht beigelegt. Wiedenburg hatte schon seit Jahren von Konstantinopel aus mit ihm in Handelsverbindungen gestanden, und auf Handelsgegenstände bezogen sich auch die meisten der Briefe, obwohl in ihnen manche andere Mitteilung mit einfloss, da die beiden Männer einander befreundet waren. Aus den Briefen sah George auch, dass ein Mr. Edmund Wiedenburg, ein junger Deutscher, der einige Jahre in Ostindien gelebt, ein entfernter Verwandter des Kaufmanns in Sinope, sich der Gesellschaft Mr. Hywells für die Rückreise angeschlossen. Mary Hywell begleitete ihren Vater, weil er es gewünscht. Es war dem schon bejahrten Manne, dem die Gattin längst gestorben und der keine Kinder außer Mary besaß, unmöglich gewesen, sich auf lange Zeit von der damals siebzehnjährigen Tochter zu trennen. Der letzte Brief war aus Teheran geschrieben und trug das Datum des Monats August.

»In diesem Briefe spricht Mr. Hywell von seiner bevorstehenden Abreise«, sagte George, die Briefe zurückgebend. »Eine Reise von Teheran bis hierher dauert doch unmöglich drei Monate und länger.«

»Mr. Hywell wird seiner Tochter wegen langsam gereist sein«, erwiderte Wiedenburg. »Auch mag sein Aufenthalt in Teheran länger gewährt haben, als er damals voraussah. Nichtsdestoweniger, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, muss ich bekennen, dass das Ausbleiben Mr. Hywells und fernerer Briefe von ihm mich unruhig macht. Die Länder, welche Ihr Pflegevater zu durchreisen hat, sind sichern Nachrichten zufolge in einem Zustande wilder Aufregung. Sie wissen, dass Persien sich mit Russland verbunden und dass die Türkei die Kurden gegen Persien aufgeboten. Diese werden aus eigene Hand operieren, das heißt plündern und rauben, wo etwas zu finden ist. In Ordnung sind sie nicht zu halten; wir hören täglich darüber die bittersten Klagen von Seiten der türkischen Befehlshaber, namentlich der Europäer, die in türkischen Diensten stehen. Ich würde mich deshalb sehr freuen, wenn ich erführe, dass Mr. Hywell den Weg durch das russische Gebiet genommen. Dort ist allerdings der Krieg zwischen Russen und Türken im vollen Gange und auch die Bergvölker mischen sich darein, aber für Reisende ist der Weg dennoch der sicherere. – Ja, ohne Sie in Besorgnis setzen zu wollen, muss ich Ihnen doch sagen, dass der Brief eines Kaufmanns aus Erzerum mir meldet, es seien ihm von einigen Kurden sehr schöne ostindische Schals zum Kaufe angeboten worden, die höchstwahrscheinlich von diesen Räubern bei einem Angriff auf eine Karawane oder einzelne Reisende gestohlen worden. Wie gesagt, es ist durchaus nicht notwendig, dass gerade Mr. Hywell dieses Unglück erlitten, aber die Möglichkeit ist vorhanden. In keinem Falle aber fürchte ich für das Leben Ihres Pflegevaters und seiner Begleiter; diese Schurken sind jetzt so klug geworden, ihre Gefangenen nicht eher zu töten, als bis sie die Gewissheit erlangt haben, dass sie kein Lösegeld zu erwarten haben. Sie werden jedenfalls erst den Versuch machen, ein solches zu erpressen.«

»Aber wenn Mr. Hywell Widerstand geleistet hätte, wenn ein Kampf entstanden wäre!« rief George mit gepresster Stimme. »Und Miss Mary –«

»Mein lieber Sir«, unterbrach ihn Wiedenburg, »wir wollen uns nicht ängstigen. Mr. Hywell ist jetzt vielleicht sicher und wohlbehalten auf dem Wege hierher. – Welches ist Ihre Absicht? Wollen Sie hier Ihren Pflegevater erwarten, oder wollen Sie ihm nach Erzerum entgegenreisen? Ich halte das Letztere für vergeblich, denn ich habe die feste Überzeugung, dass Mr. Hywell den Weg über Achalzik oder Tiflis eingeschlagen haben wird; um nicht das gefährliche Land der Kurden zu passieren. Mr. Hywell ist ein vorsichtiger Mann, der sich gewiss von den Schwierigkeiten eines Weges unterrichtet, ehe er ihn einschlägt!«

»Ich hoffte so sehr, Mr. Hywell hier zu finden!« antwortete George mit einem Seufzer. »Ich wollte ihn um die Billigung eines Plans bitten, den ich entworfen. Was soll ich nun tun? Ich ginge gern überallhin, wo ich hoffen könnte, ihn zu finden! Und wüsste ich, dass eine Gefahr ihm drohte – Doch alles Überlegen ist vergeblich! Wie steht es auf dem Kriegsschauplatze in Armenien? Sind die Türken vorgegangen?«

»Ja, aber ich glaube nicht, dass sie weit kommen werden«, antwortete der Deutsche. »Die Führer sind uneinig unter sich selbst, keiner will dem andern gehorchen. Und da die Russen für den Augenblick die Bergvölker nicht zu fürchten haben, so werden sie die Gelegenheit benutzen, einen empfindlichen Streich gegen die Türken zu führen.«

»Was halten Sie von dem Beistande, den Schamyl den Türken leisten kann?« fragte George.

»Mein lieber Sir«, antwortete Wiedenburg, »es ist nicht leicht, die Zukunft vorauszusagen. Aber wenn ich eine kurze Meinung äußern soll, so ist es folgende. – Die Franzosen und Engländer werden den Türken beistehen, ja, davon bin ich überzeugt. Siegen die Türken, so darf man nicht glauben lassen, sie hätten es allein mit dem mächtigen Russland aufnehmen können, und man wird eine Armee nach der Donau oder an die russische Küste senden, um den Türken den Ruhm ihres alleinigen Siegs zu schmälern; werden sie geschlagen nun, so versteht es sich von selbst, dass man ihnen zu Hilfe eilt, denn Russland soll nicht triumphieren; es soll gedemütigt werden und anerkennen, dass es nicht wohlgetan ist, gegen Frankreichs und Englands Willen zu handeln. Ein Kampf auf Leben und Tod wird es nicht werden; die Franzosen und Engländer werden, sobald Russland eine Schlappe erlitten, den Frieden vermitteln. Denn an einer wahren Kräftigung und Stärkung der Türkei liegt den Westmächten sehr wenig; sie verlören ja dann eine vortreffliche Gelegenheit, sich in die orientalischen Angelegenheiten einzumischen. Frankreich wird die Russen heimsenden, bis es vielleicht einst mit ihnen gemeinschaftlich über die Türkei herfällt. Und die Bergvölker? Sie werden allerdings die Gelegenheit benutzen, den Russen einige Niederlagen beizubringen. Aber schließlich fürchten sie die türkische Oberherrschaft ebenso sehr wie die russische; sie werden auf eigene Hand operieren und schon deshalb wenig erreichen. Ich kann mich irren, aber ich glaube, dieser Krieg wird im Sande verlaufen. Selbst Russland ist vielleicht jetzt schon unzufrieden damit, ihn begonnen zu haben.«

»Glauben Sie nicht, dass Georgien, Mingrelien, überhaupt die kaukasischen Länder die Gelegenheit benutzen werden, um die russische Herrschaft abzuschütteln?« fragte George.

»Nein, Sir! Der Krieg wird nicht lange genug dauern, um diese gezähmten und erschlafften Völker aufzuregen und an den Gedanken der Selbstständigkeit zu gewöhnen. Russlands Macht hat dort tiefe Wurzeln geschlagen. Ja, wenn die Russen überall zurückgedrängt und genötigt würden, den Süden des Kaukasus aufzugeben, dann wäre es möglich, dass sie nie zurückkehrten. Aber dahin kommt es nicht, diesmal nicht!«

George blickte düster vor sich nieder. Wiedenburg bot ihm ein Zimmer für die Nacht und überhaupt für so lange an, als George ihm seinen Besuch schenken wolle.

»Ich werde nur bis morgen früh bleiben«, antwortete George. »Da ich Mr. Hywell nicht angetroffen, so will ich hinüber nach Tschefketil und von dort aus den Versuch machen, etwas über Mr. Hywell zu erfahren.«

»Werden Sie als Neutraler reisen?« fragte Wiedenburg. »Besitzen Sie die nötigen Papiere?«

George zögerte mit der Antwort.

»Ich werde mich wahrscheinlich den Türken anschließen«, antwortete er dann. »Zwar kenne ich die Ansicht meines Pflegevaters nicht genau und weiß nicht, ob er meinen Plan billigt; aber er hat früher stets so viel Sympathie für meine Pläne gezeigt –«

Er brach ab. Wiedenburg fragte nicht weiter. Er sagte nur nach einer Pause:

»Sie sind orientalischer Abstammung?«

»Ja«, antwortete George. »Deshalb bleibt mir in diesem Kampfe keine Wahl.«

Das Gespräch ging auf die Ereignisse des Tages über und George verließ dann seinen gastlichen Wirt, um Johnny mitzuteilen, was er über Mr. Hywell erfahren.

»Wir fahren morgen nach Tschefketil!« fügte er hinzu. »Das ist ein kleines Fort an der russisch-türkischen Grenze, das die Türken den Russen abgenommen. Dort, will ich Erkundigungen über mancherlei Dinge einziehen. Johnny, bist Du entschlossen, für alle Fälle bei mir zu bleiben?«

»Damn, Sir, gewiss!« antwortete Johnny. »Mr. Hywell hat mir gesagt, ich sollte über Sie wachen wie über meinen Augapfel, und ehe er mir nichts anderes befiehlt, tue ich meine Schuldigkeit!«

»So brechen wir morgen auf!« sagte George, ihm erregt die Hand drückend. »Komme, was kommen mag, ich kann nicht anders! Mr. Wiedenburg wird mir Nachricht senden, falls Mr. Hywell hier ankommt. Der Boden brennt mir unter den Füßen. Ich kann nicht länger müßig sein!«

Und nach einer Pause fügte er hinzu:

»Was meinst Du, Johnny, Miss Mary muss jetzt eine stattliche Dame sein? Mr. Hywell wird daran denken, sie zu verheiraten. Sollte sie vielleicht in Ostindien einen Nabob gefunden haben?«

Er versuchte dabei zu lächeln. Johnny schüttelte leicht den Kopf.

»Miss Mary lässt sich nicht so ohne weiteres verheiraten«, sagte er. »Die hat ihren Willen für sich. Und Mr. Hywell ist ja selbst ein kleiner Nabob. Nach Geld braucht Miss Mary nicht zu heiraten.«

Am folgenden Morgen verließen George und Johnny Sinope. Mr. Wiedenburg, der vielleicht die Pläne Georges erriet, hatte vergebens versucht, den jungen Mann zurückzuhalten und ihm dann, als George unerschütterlich auf seinem Vorsatz beharrte, nicht nur versprochen ihm, sobald er etwas über Mr. Hywell erfahren, Nachricht nach Tschefketil nachzusenden, sondern auch für alle Fälle, wie er sagte, die Namen einiger Deutschen und Engländer in Tiflis und in Eriwan genannt, an welche sich George wenden sollte, wenn er Beistand bedürfe.

Ungefähr vierundzwanzig Stunden, nachdem es in die kleine schützende Bai eingelaufen, verließ das türkische Boot den sichern Zufluchtsort. Als es, mit dem nördlichen Winde kämpfend, die Höhe des Meeres zu erreichen suchte, sank George auf die Knie und flüsterte in stiller Erregung ein Gebet.

Auf der Reede von Sinope lagen noch die russischen Kriegsschiffe und ließen ihre Banner lustig und triumphierend herüberwehen.

Der Held von Garika

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