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1. Teil
IV. Die Rettung
ОглавлениеWenn auch nicht warm, doch hell und freundlich schien die Januarsonne durch das kleine Fenster in das geräumige Gemach, das die Wohnung Mary Hywells bildete. Als es Mary zuerst betrat, hatte es nur aus den rohen Steinwänden bestanden, mit einer schmalen Leiste am Fuße der Wände, um Kissen zum Diwan darauf zu legen. Jetzt war es durch Marys und ihrer Dienerinnen Bemühungen umgewandelt in einen Raum, der dem europäischen Sinne für Annehmlichkeit und Bequemlichkeit wenigstens in etwas entsprochen haben würde. Teppiche bedeckten einen Teil des steinernen Bodens, Kissen waren hier und dort zu Sitzen aufgehäuft; ein Vorhang sonderte den Raum, der Mary als Schlaf- und Ankleidezimmer diente, von dem Gemach; ein Vorhang, der jetzt zurückgeschoben war, schützte das Fenster, das die dicke Mauer wie eine Schießscharte durchbrach und, ohne Glasscheiben, nur mit einem hölzernen Laden von innen zu verschließen war.
In einem langen glänzenden Streifen fiel das Sonnenlicht durch dieses Fenster in das Zimmer, und wenn man hinausblickte, sah man nichts als in der Ferne himmelhohe schneebedeckte Berge.
Mary Hywell saß auf einer niedrigen Erhöhung, die vor diesem Fenster angebracht und mit Teppichen belegt war. Es war eine mehr als mittelgroße, schlanke, zarte Gestalt, von den feinsten, regelmäßigsten Verhältnissen. Das bleiche Antlitz ruhte auf der zarten Hand, die sie auf das Knie gestützt hatte; in der Linken hielt, sie ein Buch, in dem sie gelesen. Gedankenvoll und traurig schien sie über ihr Schicksal zu sinnen, und das blonde Haar fiel in langen natürlichen Locken über die Hand und den Arm, der den Kopf stützte Sie war eine echt nordische Schönheit; die Farbe der Haut dem Schnee vergleichbar, das Auge so hellblau wie der nordische Himmel, das Haar seidenweich und fast von der Farbe des Flachses, den die Spinnerin an ihrem Rocken befestigt. Ungemein sanft und lieblich, trotz der Traurigkeit, war der Ausdruck ihrer Züge; die Umrisse des Gesichts, der feingeformten Nase, der schön geschnittenen Augen und des kleinen Mundes waren so zart und doch so bestimmt, als habe die Meisterhand eines Künstlers sie nur andeutend und doch mit genialer Sicherheit entworfen. So bleich war das Gesicht, so hellglänzend das Haar, so zart das feine Rot der Lippen, dass man fast hätte glauben mögen, sie sei aus einem lustigern Stoff geformt als die andern Menschenkinder. In seiner jetzigen Ruhe und Unbeweglichkeit glich der Kopf fast dem Marmorkopf einer Antike, welchem der Künstler versuchsweise einen Anhauch von Farbe verliehen.
Von jener Entstellung des Gesichts, die der Vater absichtlich hervorgerufen, war längst jede Spur verschwunden. Sie war wieder die schöne Miss Hywell, die schon in England, mehr noch in Kalkutta viele Blicke auf sich gezogen und denjenigen, dem es vergönnt gewesen, sich ihr zu nähern, durch ihre stille Anmut und den Zauber ihres echt jungfräulichen Wesens entzückt hatte. Im Kreise der Ihrigen konnte Mary Hywell auch heiter und schelmisch sein wie ein Kind, das sie ihren innersten Gedanken nach auch stets geblieben. Aber das war nun dahin. Der Ernst eines trüben Schicksals hatte die Blüte dieses Daseins plötzlich angeweht wie ein Nachtfrost im Mai, und wer konnte wissen, ob der Sommer und ob er zeitig genug kam, diese Blüte wieder aufzurichten! Und doch war das Schicksal Marys ein so gutes gewesen, als es unter den eingetretenen Verhältnissen möglich war. Kaschir-Aga hatte ihr zu Anfang wenig Aufmerksamkeit bewiesen, aber doch alle Wünsche, die der Vater ihm durch den Armenier mitteilen ließ, um die eigentümliche Lage seiner Tochter zu erleichtern, bereitwillig erfüllt. Sie konnte ihren Vater täglich sehen, sie hatte ihre Dienerinnen in der Nähe, und was ihr sehr lieb schien, Kaschir-Aga hielt sich fern von ihr, wahrscheinlich weil er ihre Krankheit fürchtete. Mary empfand, wie sie ihrem Vater zuweilen fast zitternd gestand, eine unheimliche Furcht vor dem Kurden; vielleicht sah sie, ohne sich dessen in ihrer Reinheit bewusst zu werden, Leidenschaften in dem schwarzen Auge des Häuptlings blitzen, die sie mit einer geheimen Angst erfüllten und die Gefahren einer unbestimmten Zukunft fürchten ließen.
Ihre Ahnung schien sich erfüllen zu wollen, als die abschreckende Farbe ihres Gesichts verschwand. Vergebens hatte Mr. Hywell jede List versucht, um den Kurden von Mary fern zu halten. Seine Neugierde führte ihn zu ihr, und nun kam er täglich, ja oft mehrmals des Tages, teils allein, teils mit dem Armenier. Der Instinkt der Natur lehrte ihn eine gewisse Galanterie; er wurde besorgt für Mary und ließ ihr Geschenke und ausgewählte Speisen überreichen. Aber trotzdem blieben die Gewohnheiten seines Volkes fast schreckenerregend für ein weibliches Wesen, dem sich stets nur die zarteste Schicklichkeit genaht hatte. Welche Qual musste sie empfinden, wenn der junge Kurdenhäuptling wohl eine Stunde lang in ihrem Zimmer auf einem Kissen saß und sie unbeweglich anstarrte, oder wenn er dann dem Armenier Lobpreisungen der Schönheit seiner Gefangenen sagte, die dieser vielleicht nur andeutend zu wiederholen wagte.
Seit dieser Zeit nahm ihr Gesicht den bekümmerten Ausdruck die bleiche Farbe an, die ein wirkliches Leiden verrieten. Ihr Vater erriet, was in ihr vorging, wenn sie auch nie mit ihm darüber gesprochen. Er ließ dem Kurden durch den Armenier Vorstellungen machen, ließ ihm sagen, die Sitte des Abendlandes dulde solche Freiheiten der Männer nicht, er sei selbst in seinem Vaterlande ein Mann, dem man sowie seiner Tochter Achtung erweisen müsse, er sei ein Gefangener, kein Sklave; der Kurde lachte teils, teils erzürnte er sich darüber, und Mr. Hywell musste schweigen, wollte er nicht vielleicht den Kurden noch mehr reizen und das herbeiführen, was er am meisten fürchtete, die Trennung von seiner Tochter.
Kaschir-Aga hatte ihm sagen lassen, so ein Ungläubiger, ein Giaur, müsse es für die größte Ehre halten, wenn ein Rechtgläubiger seine Blicke auf die Tochter eines Sklaven richte, und er erwarte nur die Entscheidung seines Vaters, ohne dessen Einwilligung er nach der alten patriarchalischen Sitte des Orients nichts Wichtiges zu unternehmen wagte, obwohl er bereits ein Mann von mehr als dreißig Jahren war, um Mary zu seiner Gattin zu erheben oder wenigstens in seinen Harem zu führen. Zum Unglück schien der Armenier diese Verbindung zu wünschen, vielleicht, weil er Geschenke des Kurden erwartete, vielleicht, weil man ihm dann gestattete, nach seiner Heimat zurückzukehren.
Der gedämpfte Schall von Tritten auf dem Teppich ließ Mary aufblicken. Ihr Vater stand vor ihr, beugte sich zu ihr nieder und küsste ihre Stirn. Mary schlang die Arme um seinen Hals und drückte seinen Kopf zärtlich, innig und mit einem leichten Zittern an sich. Mehr als Worte verriet diese stumme Zärtlichkeit das Leid ihres Herzens. Er setzte sich in ihrer Nähe auf den Diwan und blickte sie lange an. Mary hatte die Hände auf ihrem Schoße gefaltet.
»Die Sonne scheint freundlich«, sagte er dann. »Fast ist es, als wolle es Frühling werden. Nur auf den Bergen glänzt noch der Schnee. Ich wollte, ich könnte Dich hinausführen, Mary – Du bist so blass geworden!«
»Ja, Vater, aber dann weit fort – weit!« antwortete die Tochter. »Der Kummer, in dieses düstere Haus zurückzukehren, würde größer sein als die Freude, es zu verlassen!«
Wieder trat eine Pause ein. Mr. Hywell fuhr sich mit der Hand durch sein ergrauendes, aber noch volles Haar. Auch sein frisches Antlitz war bleicher geworden, sein helles, klares Auge trüber, und der sonst so energische Ausdruck seiner Züge hatte jener Mattigkeit weichen müssen, die eine lange Untätigkeit, ein düsteres Schicksal, gegen das man nicht ankämpfen kann, auch den kräftigsten Zügen verleiht.
»Und dass ich an allem schuld bin – mein Eigensinn!« rief er dann, und seine Stimme klang zitternd und stöhnend.
Das hatte er in der letzten Zeit fast täglich gesagt. Gerade unter diesem Gedanken schien der sonst so starke Mann am meisten zu leiden.
»Lieber Vater, gegen die Schlechtigkeit und Rohheit der Menschen schützt keine Vorsicht!« sagte Mary sanft und tröstend. »Ich hoffe noch immer, einer wird kommen, George oder Wiedenburg!«
»Ja, hoffe nur!« rief Mr. Hywell fast bitter. »Ich hoffe nichts mehr. Aber ich bin entschlossen zu allem. Lieber die Flucht wagen – es ist ja doch eine Möglichkeit auf Erfolg – als das Entsetzliche dulden!«
Mary richtete bei seinen Worten mit unbestimmter Angst den Blick auf ihn. –
»Ist etwas Neues geschehen, Vater?« fragte sie kaum hörbar.
»Ja – und endlich muss ich es sagen!« rief Mr. Hywell und presste die Hand vor die Augen, als wolle er die Scham und Entrüstung verbergen, die ihn ergriffen. »Dieser Wilde verlangt Dich zu seiner Gattin. Er hat die Einwilligung seines Vaters erhalten; heute hat mir der Armenier die Vorschläge mitgeteilt. Ehrenvoll nennt sie der Schurke! Nun, er mag Recht haben, auf seine Weise; wir sind ja unter Räubern und Mördern, die sich für die ersten und edelsten Geschöpfe der Welt halten. Ich soll bleiben können oder auch meine Freiheit erhalten, wie ich will. Die Diener können gehen, die Dienerinnen bleiben; Du wirst sein Weib – das ist sein Entschluss! Von meiner Einwilligung ist keine Rede; ich muss natürlich tun, wie der hohe Herr befiehlt. O Mary, ich bin schwach geworden über all diesem Kummer und Herzeleid, ich könnte weinen wie ein Kind und dann auch wieder rasen, ja toben wie ein Tier. Dich in meine Arme nehmen und mich mit der Faust durchschlagen durch dieses Gesindel, bis ein Schuss mich niederstreckt. O Mary, verwünscht sei die Stunde, wo meine Zärtlichkeit für Dich mir den Gedanken eingab, dass Du mich begleiten solltest!«
Es war, als ob seine Stimme breche. Nachdem er sich einen Augenblick aufgerafft, gleichsam als wolle er sich einem unsichtbaren Feinde entgegenwerfen, brach er zusammen. Den Kopf tief niedergebeugt, ihn vergrabend in beide Hände, saß er da. Mary hatte sich erhoben und war zu ihm getreten.
Eine tiefe Blässe überzog ihr Antlitz.
»Ich erwartete – ich wusste es längst, Vater!« sagte sie. »Es bleibt uns keine Wahl, wir müssen fliehen – sterben. Es ist mir oft, nein, immer durch den Sinn gegangen, aber ich kann mich dazu nicht entschließen, ich kann nicht die Gattin eines Mannes werden, der mir schon bei seinem Nahen ein Entsetzen einflößt, das ich nicht zu schildern vermag, dessen Blick mein Blut erstarren macht. Ich würde sterben, wenn seine Hand die meine berührte. Ich kann es nicht, Vater; selbst der Gedanke, dass er Dir die Freiheit gewähren würde, gibt mir keinen Trost. So lass uns das Äußerste wagen; dann sterbe ich wenigstens unentehrt!«
»An mich denke nicht, Kind! Ich würde Deine Schande nicht überleben!« rief der Vater, sich etwas gesammelter erhebend. »Ja, es bleibt uns keine Wahl! Du musst Dich rüsten mit dem Mut der Verzweiflung, der jeder Gefahr trotzt, der den Tod nicht für das Schlimmste achtet. Ich will alles überlegen – reiflich – ruhig– jetzt kann ich es nicht! Ich werde um einige Tage Aufschub bitten; inzwischen fliehen wir. O welch Verhängnis! Und weshalb straft mich Gott so sehr! Weshalb verblendete er mich durch diesen unseligen Eigensinn!«
»O Vater, ich bitte Dich, zürne nicht! Ich kann Dich nicht klagen hören«, bat Mary. »Sieh, ich bin so ruhig und entschlossen. Es ist mir leichter ums Herz, da ich nun weiß, dass wir dem Ende entgegengehen. Aber horch! Hörst Du nichts? Was ist das für ein Lärm?«
Der Vater sprang auf. Glaubte er, dass die Hilfe nun kommen müsse, da sein Elend so groß sei? Ein Strahl freudigen Erschreckens flog über seine Züge. Er lauschte. Man hörte den verworrenen Ruf vieler Stimmen.
Mr. Hywell sprang zum Fenster hinauf, und sich weit vorbeugend, versuchte er trotz der Breite der Mauer die Ursache des Lärms zu erfahren. Man konnte vom Fenster aus einen Teil des Dorfes übersehen. Die Stimmen kamen näher. Aber man rief in kurdischer Sprache; Mary und ihr Vater verstanden nichts.
»Halt – da, jetzt sehe ich!« rief Mr. Hywell plötzlich. »Ein Menschenschwarm kommt den Hügel herauf – in ihrer Mitte drei Reiter – o Mary, es ist nichts für uns – es sind Kurden – oder Türken!«
»Ich bitte Dich, Vater, sieh hinaus!« rief Mary. »Mir pocht das Herz so stark – es müssen Freunde sein!«
»Ach« Mary, ich glaube nicht. Es sind Türken, drei Reiter – der mittlere scheint der Herr zu sein, prächtig gekleidet, mit Turban und Waffen im Gürtel. Sein Gesicht ist weißer als das der Begleiter, die seine Diener zu sein scheinen. Er zieht ein Papier hervor und zeigt es der Menge, die ihn umgibt und begleitet. Es eilt jemand auf ihn zu – es ist der Armenier. Der Reiter grüßt ihn lässig. Jetzt reiten sie den Berg hinauf, diesem Hause zu – mein Gott! – irre ich mich? Jetzt blickt er gerade hierher, als ob er wisse, dass jemand hier nach ihm ausschaue – Mary, es ist Wiedenburg!«
»Gott sei gedankt!« rief das zitternde Mädchen, und in die Knie sinkend, hob sie die Hände wie betend, empor. »Ich wusste es! Er konnte uns nicht verlassen!«
»Er ist es, er ist es!« jubelte der Vater. »Immer zeigt er das Papier – die Kurden umgeben ihn neugierig, einige voll Scheu, andere mehr drohend. Was bringt er, was will er? Ich sehe niemand außer ihm und seinen beiden Dienern. Wäre er tollkühn genug zu hoffen, dass ein Blatt Papier uns retten könne, jetzt, da die Leidenschaft dieses Menschen, des Häuptlings, entflammt ist?«
»O Vater, lass – es ist ein Freund – ein treuer Freund mehr!« rief Mary. »Lass uns hoffen! Er bringt vielleicht einen Befehl des Sultans, uns freizugeben.«
»Er blickt starr hierher – er erkennt mich!« rief Mr. Hywell. »Er grüßt mich! Willkommen, Wiedenburg!« rief er laut hinaus. »Da – jetzt sind sie verschwunden, ich sehe nichts mehr!«
Er fuhr mit der Hand über die geblendeten Augen und stieg von der Erhöhung nieder, zitternd, glühend vor Aufregung.
»Was sagtest Du?« rief er. »Einen Befehl des Sultans, uns freizugeben? O hoffe das nicht! Der Sultan hat keine Macht über diese Wilden. Er kommt, um uns zu helfen, aber allein? Mit tausend Reitern sollte er kommen, diesen Kaschir-Aga und seine Räuber aufs Haupt zu schlagen! Was vermag er jetzt auszurichten? Kaschir-Aga gibt Dich nicht frei – jetzt nicht! Nun, ich muss hinaus, Kind – ich muss wissen, was es ist. Bleibe Du hier – ängstige Dich nicht. Vielleicht bringt er uns wenigstens frohe Botschaft – vielleicht will er uns nur nahe sein. Er ist ein braves Herz – hat uns nicht vergessen. Auch Gott vergisst uns nicht!«
Er beugte sich zu ihr nieder, schloss sie schnell, heiß, leidenschaftlich in seine Arme. Dann eilte er hinaus.
Mary, noch kniend, schloss die Hände zusammen. Ihr Kopf senkte sich auf die schweratmende Brust. Sie betete.
Als Mr. Hywell atemlos auf dem freien Platze vor dem Hause des Häuptlings anlangte, sah er eine Szene voller Unruhe und Bewegung vor sich. Hunderte von Kurden umdrängten Wiedenburg und seinen Begleiter, und soeben durchschritt Kaschir-Aga, von einigen ältern und angesehenern Kurden begleitet, die wogende Menge. Das Gesicht des jungen Häuptlings war ernst und finster, ja sogar, wie es schien, bleicher als gewöhnlich.
Wiedenburg hielt sein Pferd an, sobald er Kaschir-Aga bemerkte. Die hohe Gestalt des jungen Deutschen bot in der reichen türkischen Kleidung einen stattlichen, imponierenden Anblick. Den Bart trug er ganz voll, in türkischer Weise; nur die weißere Hautfarbe und der regelmäßigere germanische Schnitt des Gesichts verkündeten, dass er kein Türke sei. Er grüßte Mr. Hywell, der sich bemühte, die Menge zu durchbrechen, mit einem freundlichen und achtungsvollen Neigen des Kopfes und wandte sich dann stolz zu Kaschir-Aga, demselben den Ferman hinreichend.
Der junge Kurdenhäuptling empfing denselben mit einer deutlich erkennbaren Mischung von Verdruss und Ehrerbietung. Er neigte sich, küsste das große Siegel der Papierrolle, nachdem er es flüchtig gemustert, und las dann den Inhalt. Mr. Hywell war dicht zu dem Armenier getreten, der sich bemühte, ebenfalls den Ferman zu lesen. Kaschir-Agas Miene wurde noch finsterer; der Inhalt des Schriftstücks schien ihm nicht zu behagen.
Dann aber wandte er sich zu dem Armenier und sagte diesem einige Worte. Der Armenier übersetzte sie dem Deutschen.
»Kaschir-Aga«, so lautete die Antwort des Kurdenhäuptlings, »Kaschir-Aga, der Sohn Tamir-Agas, des Häuptlings der freien Kurden vom Stamme der Hakkari, achtet den Ferman des Padischah von Stambul nicht als einen Befehl, sondern als den Wunsch eines mächtigen Freundes und heißt den Fremden in seinem Hause willkommen. Er wird den Rat seines Vaters und der Ältesten seines Stammes einholen, um zu erfahren, ob ein Fremdling, der vor kurzem noch sein Gefangener war, Anspruch hat auf das Recht der heiligen Gastfreundschaft. Bis dahin wird der Fremde im Hause der Häuptlinge wohnen, und was er wünscht, wird zu seiner Verfügung stehen!«
»Der Padischah in Stambul ist Dein Herr und nicht Dein Freund!« rief Wiedenburg stolz und zuversichtlich. »Er hat Dir zu gebieten, und ich komme als sein Bote. Die Scharen, die er bei Bajazid versammelt hat, sind mächtig genug, um die Männer dieser Berge für immer in Fesseln zu schlagen, und der Pascha von Wan hat Befehl, darüber zu wachen, dass die Gebote des Padischah ausgeführt werden. Aber ich hoffe, dass wir uns einigen werden in Frieden und Freundschaft.«
Als der Armenier dem Kurdenhäuptling diese kühnen Worte verdolmetschte, erhob sich ein dumpfes Murren unter der Kurdenschar. Kaschir-Agas Stirn zog sich drohend zusammen, aber er winkte mit der Hand Ruhe.
»Kaschir-Aga wird den Rat seines Vaters und, der Ältesten einholen!« ließ er durch den Armenier antworten, nichts weiter.
Dann schien er einigen Kurden Befehle zu geben, neigte sich nach orientalischer Sitte höflich gegen Wiedenburg und kehrte in das Haus zurück, mit finsterer Miene, die Augen fast geschlossen, wie jemand, der eine heftige innere Bewegung unterdrückt und auf Rache sinnt.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig förmlich tue«, wandte sich dann Wiedenburg zu Mr. Hywell, der ihm die Hand reichte. »Ich komme in der Tat als Gesandter des Sultans und muss dieser Menschen wegen eine andere Miene annehmen, als ich möchte. Aber ich komme Ihretwegen, wie Sie wohl vermuten, und ich denke, wir sprechen uns heute noch. Bringen Sie Ihrer Tochter meine herzlichsten Grüße!«
»Sie kommen als ein Retter in der Not!« antwortete der Engländer, sich zurückziehend. »Aber seien Sie vorsichtig; die Gefahr ist größer, als Sie glauben!«
Die Kurden, mit denen Kaschir-Aga zuletzt gesprochen, näherten sich dem jungen Deutschen und boten ihm ihre Dienste an. Begleitet von der staunenden und unruhig bewegten Menge, ritt Wiedenburg bis an das niedrige Tor des steinernen Gebäudes, ließ sich dort aus dem Sattel heben, sprach mit seinen türkischen Dienern, von denen der eine etwas Englisch zu verstehen schien, und trat dann in das Innere des Hauses. Man führte ihn sogleich nach denjenigen Räumen, die zur Aufnahme von Gästen bestimmt waren. Einer besondern Vorbereitung bedurfte es nicht. Auch diese Räume enthielten nichts als einige Kissen zum Sitzen und einige der notwendigsten Geräte. Der Deutsche ließ sich von seinen Dienern sein Gepäck bringen und untersuchte namentlich das Schloss eines kleinen und schweren Koffers sehr genau. Dasselbe schien fest genug gearbeitet, um der Neugierde und wohl auch der Gewalt zu widerstehen. Dann nahm er die einfachen Gerichte in Empfang, die man ihm brachte, rauchte die dargebotene Pfeife und streckte sich auf die Kissen des Diwans. Zuweilen überflog ein Lächeln sein Gesicht, vielleicht, weil er an die eigentümliche Rolle dachte, die er hier spielen musste. Dann aber wurde seine Miene wieder sehr ernst, denn unmöglich konnte er sich die Schwierigkeiten und selbst Gefahren verbergen, denen er entgegenging. In dieser Stimmung empfing er den Armenier, der halb demütig, halb vertraulich sich nahte, um dem Fremden zu melden, dass Kaschir-Aga ihn besuchen würde.
»Der junge Anführer der Kurden wird mir willkommen sein«, antwortete Wiedenburg, den Armenier sehr ernst und fast drohend anblickend. »Ich hoffe, Ihr habt alles getan, um die Lage meines Freundes und seiner Tochter zu erleichtern; wenn nicht, so dürfte die Stunde der Vergeltung gekommen sein!«
Der Armenier schwur hoch und teuer, dass ihm das Geschick des Franken und seiner Tochter am Herzen liege wie sein eigenes, und wagte dann die Frage, wie der Fremde so schnell die Gunst des Padischah von Stambul erlangt.
»Nun« was denkt Ihr, was wir sind?« antwortete ihm Wiedenburg stolz und verächtlich. »Wir· sind die Botschafter eines Padischah, der tausendmal mächtiger ist als der Padischah von Stambul, und Kaschir-Aga mag sich vor jeder Übereilung hüten, jetzt, da der Padischah von Stambul weiß, dass die Gesandten seines mächtigen Freundes von diesem Volke überfallen und beraubt worden sind. Mehr Bewaffnete, als Ihr Haare in Eurem Barte zählt, sind bereit, die Schmach zu rächen, die uns angetan worden und der wir uns fügen mussten, weil wir zu schwach zum Widerstand waren. Treibt nicht etwa falsches Spiel, Mann, sondern helft aufrichtig unsere Sache fördern; es möchte Euch sonst übel ergehen! Zeigt Ihr Euch aber als ein redlicher Freund, so werden Euch Belohnungen von allen Seiten zuteilwerden.«
Der Armenier schien bestürzt und gelobte nochmals, alles zu tun, was in seinen Kräften stehe. Gleich darauf trat Kaschir-Aga ein, begleitet von zwei Ältesten der Kurden. Er war jetzt ruhig, stolz und zuversichtlich. Wiedenburg ging ihm einige Schritte entgegen, verneigte sich und deutete auf die Kissen, auf denen der Aga sich niederlassen möge.
»Sagt dem Sohne Tamir-Agas«, wandte er sich dann zu dem Armenier, »dass er mir verzeihen möge, wenn ich auch hier allen Gebräuchen meines Landes folge. Wir gestatten dies jedem Fremden, der uns in unserm Lande besucht. Und gebt dem Aga genau wieder, was ich Euch sagen werde! Er darf keinen Zweifel darüber hegen, dass ich nicht als ein Bittender und Hilfsbedürftiger zu ihm komme, sondern als der Sohn eines mächtigen Volkes und als der Gesandte des Padischah.«
Der Armenier, dem die ernste und feste Sprache Wiedenburgs Gehorsam und zugleich Vertrauen in die Macht desselben einzuflößen schien, wiederholte diesmal genau den Sinn der Worte. Wiedenburg, der in den letzten Wochen eifrig bemüht gewesen war, die türkische Sprache kennenzulernen, vermochte jetzt selbst den Worten des Armeniers zu folgen und die Art und Weise der Verdolmetschung im Allgemeinen zu prüfen. Kaschir-Aga blieb auch jetzt ganz ruhig; Wiedenburg glaubte zu bemerken, dass in dieser Ruhe etwas liege, was auf einen schon gefassten Entschluss deute, von dem der Kurdenhäuptling sich durch kein Hindernis ablenken lassen wolle.
»Sage dem Fremden, er möge sprechen!« lautete die Antwort. »Ich werde hören.«
Wiedenburg setzte darauf auseinander, welche Stellung er und Mr. Hywell in ihrem Vaterlande einnähmen, schilderte den letztern als einen Abgesandten seines mächtigen Herrschers und hob die Schnelligkeit hervor, mit welcher man ihm selbst den Ferman von Stambul gesandt habe, als er nach seiner Flucht das Vorgefallene dorthin berichtet. Er versicherte mit großer Bestimmtheit, dass der Sultan sich dieser Sache sehr eifrig annehmen und selbst mit Gewalt dem Gesandten des ihm befreundeten Herrschers zu Hilfe kommen werde, hoffe aber, dass Kaschir-Aga sich mit einem Lösegeschenk begnügen und die fränkischen Gefangenen sofort freigeben werde. Auf die Frage des Kurden nannte er eine nicht unbedeutende Summe, die dem Häuptling oder dessen Bevollmächtigten ausgezahlt werden sollte, sobald die Franken in Sicherheit seien, also in Bajazid oder Erzerum. Kaschir-Aga ließ durch den Armenier antworten, dass er die Eigenschaft seines jetzigen Gastfreundes als Gesandten des Padischah von Stambul nicht eher anerkennen dürfe, als bis sein Vater und die Ältesten den Ferman geprüft. Bis dahin könne er den Fremden nur als einen einfachen Reisenden betrachten, dem er Schutz und Obdach gewähre. Doch könne er ihm auch schon jetzt so viel sagen, dass er selbst nichts gegen die Abreise sämtlicher Männer einzuwenden habe, vorausgesetzt, wie er vorsichtig hinzufügte, dass die genannte Summe gezahlt werde, dass er dagegen die Tochter des alten Franken nur in dem Falle ziehen lassen werde, wenn sein Vater ihm nicht die Einwilligung gebe, sie zu heiraten. Und es lag etwas in seiner Miene, was andeutete, dass er selbst in einem solchen Falle entschlossen sei zu trotzen.
Für Wiedenburg war diese Mitteilung eine neue und überraschende. Doch verbarg er die bösen Befürchtungen, welche diese Erklärung in ihm erweckte. So viel hatte ihn sein Aufenthalt im Orient bereits gelehrt, dass nur unerschütterliche Ruhe imstande sei, diesen Männern Achtung einzuflößen.
»So scheint Kaschir-Aga zu glauben, dass diese Angelegenheit allein von ihm und seinem Vater abhänge?« ließ er antworten. »Dann irrt er. Ich kenne das Herz der Tochter meines Freundes nicht und weiß nicht, ob es die Empfindungen Kaschir-Agas teilt. Sollte das aber nicht der Fall sein, so wird keine Macht die junge Frankin bewegen, das Weib des jungen Aga zu werden. In unserm Vaterlande haben die Frauen vollkommene Freiheit, eine Bewerbung anzunehmen oder nicht. Selbst wenn unser Padischah um die Hand der jungen Frankin anhielte, würde es ihr freistehen, sein Anerbieten zurückzuweisen; kein Zwang darf darin geübt werden. Und wollte selbst die Frankin einwilligen, so würde ihr Vater das Recht haben, sie an einer solchen Verbindung zu hindern. Kaschir-Aga vergisst, dass wir keine Kurden sind, dass wir nicht in diesem Lande geboren, dass wir uns hier nicht mit unserm freien Willen befinden und also in keiner Weise genötigt sind, den Gebräuchen dieses Landes zu folgen. Wenn die junge Frankin die Gattin Kaschir-Agas werden will und ihr Vater einwilligt, so mag diese Verbindung vollzogen werden; ich bin bei dieser Angelegenheit nicht beteiligt. Erhält er aber eine zurückweisende Antwort, so muss sich Kaschir-Aga damit begnügen und die Seele der jungen Frankin nicht länger beängstigen. Um den Willen Kaschir-Agas und seines Vaters wird sich weder die Frankin noch ihr Vater kümmern.«
»So meinst Du, es sei nicht eine große Ehre für ein fremdes Weib, wenn der einstige Häuptling der freien Kurden sie zu seiner Gattin begehrt?« ließ Kaschir-Aga fragen, und seine Miene verriet Zorn und Ungewissheit.
»Kaschir-Aga vergisst immer, wer wir sind«, antwortete Wiedenburg. »Die junge Frankin ist in ihrem Vaterlande so reich, mächtig und angesehen, wie es nur eine Tochter des Padischah von Stambul sein kann, und mehr noch. Die Frauen nehmen in unsern Ländern eine andere Stellung ein als hier, wo der Wille des Mannes und des Vaters in jeder Hinsicht über sie gebietet. Die junge Frankin wird nicht danach fragen, ob man ihr eine Ehre antun will, sondern ob sie dem Häuptling der Kurden geneigt ist, und danach wird sie handeln.«
»Und warum sollte sie mir nicht ebenso geneigt sein wie jedem andern Mann?« ließ der Aga fragen.
»Darauf kann ich nicht antworten«, erwiderte Wiedenburg; »ich bestreite auch nicht die Möglichkeit. Ich kann nicht in das Herz der jungen Frankin blicken, das ich nicht kenne. Aber Kaschir-Aga sollte wissen, dass die Herzen der Frauen unergründlich sind und dass sie ihre Neigung oft demjenigen zuwenden, der uns unwürdig erscheint, der aber ihnen am besten gefällt. Die Welt ist groß. Kaschir-Aga kann nicht verlangen, dass alles nach seinem Kopfe gehe.«
Das sonnen- und luftgebräunte Gesicht des jungen Aga war bleich geworden, während der Armenier ihm diese Worte übersetzte. Seine schwarzen Augen glühten drohend und unheimlich zu Wiedenburg hinüber.
»Sage dem Fremden, er solle sich hüten, den Schutz dieses Hauses zu verletzen!« rief er.
»Ich sage nur, was ich sagen kann, da ich nicht der Sklave und nicht der Diener Kaschir-Agas bin«, antwortete Wiedenburg. »Übrigens will ich den Häuptling nicht mit Reden aufhalten. Er mag mir eine bestimmte Erklärung geben, ob er die Bedingungen, die ich gestellt, annehmen will, und er mag dabei bedenken, dass in dem Augenblick, in welchem wir sprechen, Tamir-Aga sich in der Gewalt der Truppen des Padischah befindet.«
Als der Sohn Tamir-Agas diese Worte aus dem Munde des Armeniers vernahm, sprang er mit einem Ausruf des Zorns und der Wut auf; seine Hand fuhr nach dem Dolch im Gürtel und er schien bereit, sich auf den Deutschen zu stürzen. Auch die beiden Kurden, die bis jetzt unbeweglich in einiger Entfernung gestanden, griffen nach ihren Waffen. Wiedenburg erhob sich aber mit Ruhe. Er wusste, dass der Kurde sich selbst vom Jähzorn nicht hinreißen lassen würde, einen Gastfreund zu verletzen.
»Weshalb braust Kaschir-Aga auf?« fuhr er fort. »Was ich sage, ist Wahrheit. Meint der junge Häuptling der Kurden, dass wir schwach und feig wie Weiber seien, um alles ruhig hinzunehmen, was man uns antut? Wir sind gefangen worden, als wir durch dieses Land reisten, weil wir darauf vertrauten, dass man friedlichen Reisenden keinen Schaden zufügen würde. Trotzdem hat man uns nicht nur beraubt, sondern uns auch gezwungen, hierher zu wandern. Kaschir-Aga wird begreifen, dass ein Mann sich nicht geduldig in eine solches Lage fügt. Ich bin geflohen und habe dem Padischah gemeldet, was geschehen. Der erste Befehl, den er gab, war derjenige, Tamir-Aga so lange gefangen zu halten, bis die Franken in Freiheit gesetzt seien. Auf eine Entschädigung für die Sachen, die man uns geraubt, machen wir selbst keinen Anspruch; wir wissen, dass dies vergebliche Mühe sein würde. Aber wir wollen frei sein, frei in unser Vaterland zurückkehren; danach werden wir streben mit allen Mitteln. Hat man Gewalt gegen uns gebraucht, weshalb sollen wir nicht wieder Gewalt anwenden? Hat man uns gefangen, weshalb sollen wir uns nicht der Person Tamir-Agas versichern, der mit seinem Kopfe dafür bürgen muss, dass die Befehle des Padischah erfüllt werden? Es wäre töricht von einem Manne, sich über etwas zu erzürnen, das er ganz vernünftig finden muss, wenn es ihm auch nicht lieb ist. Glaubt Kaschir-Aga, wir seien Feiglinge und Dummköpfe, um mit uns schalten und walten zu lassen, wie es andern gefällt? Wir dulden, solange wir müssen, und handeln, wenn wir können. Und Kaschir-Aga mag nicht vergessen, dass die Scharen des Padischah in Bewegung und in der Nähe sind! Es kostet den Sultan nur einen Wink, und Tausende von Streitern wenden sich gegen diese Berge!«
Kaschir-Aga, der mit finsterem Grollen der schnellen Verdolmetschung des Armeniers gelauscht, stieß einen verächtlichen Ruf aus.
»Hat der junge Aga schon vergessen, wie Beder-Khan, der Häuptling der Bhudan-Kurden, von Omer-Pascha gezüchtigt wurde, und wie selbst die Häuptlinge der Hakkari-Kurden den großen Feldherrn des Padischah um Gnade anflehten?« rief Wiedenburg stolz. »Kaschir-Aga mag mächtig sein in seinem Lande, aber es gibt Mächtigere, als er ist, und er wird nicht so töricht sein, um einiger Fremdlinge willen die Freiheit seines Landes zu verscherzen. Denn wenn Omer-Pascha zum zweiten Male in diese Berge dringt, so wird er sie nicht verlassen, ohne die Herrschaft des Padischah von Stambul für immer befestigt zu haben.«
Es lag trotz der aufreizenden Drohung doch so viel Wahrheit in den Worten Wiedenburgs, dass der junge Kurde sichtlich davon betroffen wurde. Er wandte sich zum Gehen.
»Wird Kaschir-Aga mir gestatten, meinen Freund, den Heckhim der Franken, zu sehen?« fragte Wiedenburg. »Ich habe ihm Nachrichten zu bringen und will mit ihm über die Summe sprechen, die er willens ist, Euch für dasjenige zu bieten, was er als ein Recht in Anspruch nehmen könnte, seine Freilassung. Denn seine Zeit ist kostbar wie die meinige. Wir können nicht länger hierbleiben.«
Kaschir-Aga rief dem Armenier hastig einige Worte zu, die dieser dem Deutschen dahin verdolmetschte, dass der Aga nichts dagegen habe, wenn der Fremde mit den frankischen Männern spreche, dass er ihm aber eine Unterredung mit der jungen Frankin nicht gestatte.
Wieder zeigte sich deutlich jener Ausdruck auf seinem Gesichte, den Wiedenburg schon vorher bemerkt hatte, der Ausdruck eines entschlossenen Trotzes, der Ausdruck der stummen Worte: Tut was Ihr wollt – ich weiß, was ich zu tun habe, und ich werde es tun.
Kaschir-Aga ging mit den Ältesten, der Armenier folgte, nachdem er dem Deutschen noch eine Gebärde gemacht, die wohl ausdrücken sollte, dass er alles tun werde, was der Fremde wünsche. Wiedenburg blieb erregt und gedankenvoll zurück. So war das Unheil eingetroffen, das Mr. Hywell gefürchtet! Marys Schönheit hatte den Kurden entflammt. Es handelte sich nicht mehr allein darum, die Habsucht von Räubern zu befriedigen, sondern auch der Leidenschaft ihre Beute zu entreißen. Aber gerade bei diesem Gedanken schwoll das Herz Wiedenburgs von Mut und Entschlossenheit, gerade bei diesem Gedanken fühlte er alle seine Muskeln in Tatenlust sich spannen. Er verehrte Mary, ja, im tiefsten Grunde seines Herzens liebte er sie. Er hatte diese Liebe sich selbst verbergen wollen, er hatte versucht, sie zu ersticken unter all den Vernunftgründen, die sich gegen jede Hoffnung auf Erfüllung dieses geheimsten Wunsches seiner Seele erhoben, er hatte mit männlichem Ernste seine aufkeimende Neigung davor behüten wollen, zur Leidenschaft zu werden. Wie oft hatte er sich gesagt, dass der Reichtum Mr. Hywells und seine eigene bescheidene und kaum gesicherte Stellung in der Welt eine fast unüberwindliche Schranke zwischen ihm und Miss Mary aufrichteten, dass ihre Bekanntschaft eine viel zu kurze und zufällige sei, um ihm ein Anrecht auf Freundschaft und nun gar auf Liebe zu geben, dass Marys Betragen gegen ihn, wenn auch freundlich und selbst vertraulich, ihn doch nicht berechtige, seine Hoffnungen bis zur Gegenliebe zu erheben, dass Mary wegen ihrer Schönheit, Liebenswürdigkeit und ihrer äußern Lebensstellung wohl beanspruchen könne, einen ganz andern und Bessern zu wählen als ihn; ja in der letzten Zeit hatte er sogar Blicke in das Herz Georges getan und in diesem eine stille, aber glühende und tiefe Leidenschaft für Mary entdeckt, die vielleicht von dieser erwidert wurde – genug, er hatte das Gelübde getan, das, was er empfand, in seinem tiefsten Herzen zu verschließen und durch nichts zu verraten, wie mächtig der Eindruck gewesen, den die junge Engländerin auf ihn gemacht. Aber sie blieb ihm doch immer das verehrteste und herrlichste Wesen, für das jedes Opfer ihm gering erschien. Und dieses Wesen, das für ihn mit dem süßesten und keuschesten Liebreiz der Anmut und Tugend umwebt war, der Leidenschaft eines halben Wilden ausgesetzt zu wissen, zu denken, dass eine barbarische Hand dieses Meisterwerk der Natur, dieses bevorzugte Geschöpf Gottes roh vernichten könne, das goss ein loderndes Feuer in seine Seele und waffnete ihn mit todesmutiger Entschlossenheit. Was er bis jetzt für Mr. Hywell und seine Tochter getan, hatte er getan aus wirklichem Mitgefühl; die Liebe hatte keinen Teil daran gehabt, wenigstens verbarg er das vor sich selbst und sagte sich, dass er so auch gehandelt haben würde, wenn er in Miss Hywell nur eine Freundin gesehen.
Aber jetzt galt es, dem Äußersten zu trotzen, vielleicht den Tod zu erdulden um ihretwillen, sie zu retten oder ihren Untergang nicht mehr mit lebenden Augen zu sehen, und er war entschlossen, es zu tun, immer unter dem Schein der Freundschaft ohne einen Anspruch auf andern Lohn als den der Freundschaft. Er wollte handeln, wie es ihm die Liebe gebot wenn auch keine Hoffnung auf den süßesten Gewinn das Opfer lohnte, das er zu bringen bereits sich entschlossen.
Noch beschäftigten ihn diese Gedanken auf das lebhafteste, als Mr. Hywell eintrat. Die beiden Männer begrüßten sich herzlich, innig, aber ernst. In wenige, Worten schilderte Mr. Hywell seine und seiner Tochter Lage in den letzten Monaten. Es mochte seinem väterlichen Herzen schwer werden, alles zu sagen, aber er durfte dem Manne, der um seinetwillen zurückgekehrt, nichts verbergen. Wiedenburg ersparte ihm einen Teil des Geständnisses, indem er ihm mitteilte, dass Kaschir-Aga selbst von seinen Absichten gesprochen. Mr. Hywell fügte hinzu; dass jede Stunde kostbar sei, da vielleicht die Einwilligung Tamir-Agas sehr bald eintreffen könne und dann nichts mehr die Leidenschaft des Kurden zurückhalten werde.
»Die Lage ist ernst, gefährlich, aber nicht verzweifelt, solange wir sechs mutige Männer sind und Waffen und Gold in jenem Koffer haben!« erwiderte Wiedenburg, auf den schweren, wohlverwahrten Koffer deutend. »Lassen Sie mich Ihnen nun vor allem flüchtig erzählen, wie es mir gelungen, hierher zurückzukehren! Vorher aber bringe ich Ihnen die herzlichsten Grüße von Mr. George, Ihrem Pflegesohn!«
In wenigen Worten schilderte Wiedenburg dem freudig überraschten Engländer das Zusammentreffen mit George. –
»Wir begaben uns sogleich nach Bajazid«, fuhr er dann fort, »und es gelang uns, einen polnischen Kommandeur in türkischen Diensten für unsere Sache zu gewinnen. Er gab den Befehl, Tamir-Aga, von dem man wusste, dass er an der russisch-türkischen Grenze plündernd streife, nach Bajazid zu locken und gefangen zu nehmen. Den Erfolg dieses Unternehmens konnten wir jedoch nicht mehr abwarten, da uns ein Bote benachrichtigte, dass mein Oheim aus Sinope uns entgegenkomme und uns in Kars oder Erzerum treffen wolle. In ersterer Stadt fanden wir ihn. Er hatte bereits getan, was ihm möglich war, und führte so viel von gemünztem Golde, als er hatte auftreiben können, bei sich. Mit ihm und einigen europäischen Offizieren berieten wir nun den Plan zu Ihrer Befreiung. Es wurde beschlossen, den Ferman abzuwarten, um den mein Oheim gebeten und den uns der englische und österreichische Gesandte in Konstantinopel ohne Zweifel auswirken würden. Dann sollte ich, von zwei Dienern begleitet, hierhereilen, um Sie im Voraus zu benachrichtigen, dass nichts, was zu Ihrer Befreiung dienen könne, unterlassen werde. Dieser eine Teil unserer Aufgabe ist erfüllt. Ich kleidete mich, sobald der erwünschte Ferman eingetroffen war, in die Tracht eines vornehmen Türken, um sicherer reisen zu können, und begab mich auf den Weg. George dagegen übernahm es, obgleich er vor Ungeduld brannte, Sie wiederzusehen, mit meinem Oheim in Kars zu bleiben, bis Nachrichten über die Gefangennehmung Tamir-Agas angelangt und die Truppen, die der Kommandeur zu unserer Verfügung stellte, marschfertig seien. Ich hoffe, George ist jetzt mit meinem Oheim, begleitet von ungefähr tausend türkischen Reitern, auf dem Wege hierher. Ein Offizier, der unter Omer-Pascha gegen die Kurden gekämpft und das Land kennt, wird den Zug befehligen. Ich glaube deshalb, dass wir am besten tun, uns ganz ruhig zu verhalten und Mut und Sicherheit zu zeigen. Kaschir-Aga wird bald genug erfahren, dass sein Vater gefangengenommen worden, und das wird seinen Stolz beugen. Zeigen sich dann George und mein Oheim mit den Truppen in der Nähe, so wird er begreifen, dass die Hindernisse, die seinen Gelüsten entgegenstehen, mächtiger sind, als er geahnt hat, und wird Vernunft annehmen. Tut er das nicht, nun, so entscheiden die Waffen. Das Land ist entblößt von Streitern. Jeder, der ein Pferd und eine Waffe finden konnte, schweift an der persischen oder russischen Grenze, um zu plündern. Schon hundert entschlossene Männer wären imstande, dem ganzen Stamm Kaschir-Agas die Stirn zu bieten. Quälen Sie sich deshalb nicht mit Befürchtungen und trösten Sie vor allem Miss Mary, deren Seelenzustand ein sehr düsterer sein ·muss.«
»Wie wird sie Ihnen danken!« rief Mr. Hywell. »Sie hatte bis zuletzt gehofft, dass Sie uns nicht verlassen würden, und ihre Hoffnung hat sie nicht betrogen. O Wiedenburg, wenn Sie wüssten, wie sehr ich meinen Eigensinn bereue –«
»Mein werter Sir, davon wollen wir jetzt nicht sprechen!« unterbrach ihn Wiedenburg. »Sie werden Zeit genug haben, sich Vorwürfe zu machen, wenn wir erst wieder in einem Lande sind, in welchem Recht, Gesetz und Sicherheit herrschen, und dann haben Sie nicht mehr nötig, sich mit Erinnerungen zu quälen. Fürs erste bin ich befriedigt. Ich glaube mich bei dem Monsieur Aga in Respekt gesetzt zu haben und denke, er wird jetzt nichts unternehmen, bevor er nicht reiflich die Folgen überdacht hat. Wenn es Ihnen möglich ist, so senden Sie mir doch meinen Diener und auch Ihre Leute; ich will mit ihnen verabreden, was nötigenfalls zu tun ist. Und hier haben Sie etwas, was in unserer Lage durchaus nicht überflüssig ist!«
Er griff in seinen Kaftan und überreichte Mr. Hywell ein kleines Doppelterzerol und ein Päckchen dazu gehöriger Patronen. Mr. Hywell nahm es mit einem freudigen Ruf. –
»Wenn ich denken könnte, dass Miss Mary mit einer solchen Waffe umgehen könnte; so würde ich Ihnen raten, es Miss Mary selbst zu geben; für alle Fälle«, sagte Wiedenburg mit stockender Stimme.
»O ich bleibe bei ihr, bis alles entschieden ist, ich weiche nicht von ihr!« rief Mr. Hywell entschlossen. »Seit ich Sie gesprochen, seit ich weiß, dass auch George naht, fühle ich mich wieder kräftig und voll Entschlossenheit. Jetzt will ich gehen, um Mary alles zu melden. Mein junger Freund, Sie ahnen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin!«
»Wir wollen uns gemeinsam freuen, wenn wir alle in Sicherheit sind«, sagte Wiedenburg. »Ich habe nicht mehr getan als Mr. George, der wochenlang in der Irre herumgeritten ist, um etwas über Sie zu erfahren, und bei der ersten Mitteilung, die ich ihm gab, sein Pferd in die Berge spornen wollte, um Sie zu befreien!«
»Der arme gute Bursche!« sagte Mr. Hywell herzlich, aber zugleich bedauernd. »Hat er Ihnen etwas über seine Vergangenheit und seine Hoffnungen mitgeteilt?«
»Nein, ich wollte ihn nicht fragen, da ich bemerkte, dass etwas Düsteres auf ihm laste. Doch kann ich aus einzelnen Andeutungen fast erraten, was ihn bewegt.«
»Und wie steht es mit dem Kriege?« fragte Mr. Hywell.
»Davon ein andermal!« sagte Wiedenburg. »Ich denke, wir sehen uns heute noch!«
Und er deutete nach der Tür, wo der Armenier sichtbar wurde. Mr. Hywell drückte seinem jungen Freunde die Hand und ging. Der Armenier trat näher, mit weit größerer Ehrerbietung, als er sie jemals früher dem Franken bewiesen.
»Nun, habt Ihr mit Kaschir-Aga gesprochen?« fragte ihn dieser. »Wie ist er gesinnt?«
»Ich habe ihn nicht mehr gesehen«, antwortete der Dolmetscher, »aber nach dem Ausdrucke seines Gesichtes zu schließen, als er Euch verließ, war er im Innersten erbittert und zugleich niedergeschlagen.«
»Ihr habt vorhin Eure Sache gut gemacht!« sagte Wiedenburg. »Es war notwendig, dass dieser Kurde die ganze Wahrheit höre. Da ist etwas zur Belohnung und Ermunterung für die Zukunft!«
Und er reichte ihm einige Dukaten, die der Armenier mit glänzenden Augen empfing.
»Herr«, sagte er eifrig, »seid überzeugt, dass ich bereit bin, Euch in allem zu dienen. Aber ich weiß nicht, was ich beginnen soll. Kaschir-Aga würde mir den Kopf herunterschlagen, sobald er ahnte, dass ich gegen ihn arbeite. Er liebt die junge Frankin, er liebt sie so heftig, dass er, glaube ich, sein Leben wagen würde, um sich in ihren Besitz zu setzen. Es muss irgendetwas im Werke sein. Er hat einige von den jüngern Kurden zu sich rufen lassen, Männer, die mit ihm aufgewachsen und ihm treu ergeben sind. Einen von diesen sah ich vorhin von Kaschir-Aga kommen, und er rief einem andern, der ihn erwartete, einige Worte zu, die fast klangen, als ob irgendein Plan ausgeführt werden solle. ›Nun wollen wir bald die Pferde satteln‹, rief er lustig. ›Es gilt einen Ritt nach Mittag zu, und da werde ich schon zusehen, dass ich einen kleinen Seitenritt mache zur Leila. Der Aga wird nichts dagegen haben; der braucht uns und lässt uns tun, was wir wollen, wenn er nur erst in Sicherheit ist!‹ Der andere Kurde lachte vergnügt dazu. Genug, Herr, ich glaube, es ist etwas im Werke, aber noch weiß ich nicht, was es ist, obgleich ich überzeugt bin, dass es bald, wahrscheinlich schon in dieser Nacht geschehen wird.«
»Nun, was könnte das sein?« fragte Wiedenburg halblaut. »Will er Miss Mary entführen?«
»Die Frankin? Fast vermute ich es!« antwortete der Armenier. »Herr, Ihr glaubt nicht, wie die blauäugige Frankin sein Herz in Fesseln geschlagen! Er ist unruhig, zerstreut und übellaunig; seine eigenen Freunde spotten und lächeln über ihn. Ich glaube, er nimmt sie zum Weibe trotz seinem Vater!«
Edmund Wiedenburg stand einige Minuten überlegend.
»Bald wird es Nacht sein«, sagte er dann. »Seid Ihr bereit, mich nicht nur zu unterstützen, sondern auch mit uns zu fliehen? Fürchtet nichts. Es naht ein Freund von mir mit einem türkischen Pascha und tausend gut bewaffneten Reitern. Wir werden sie vielleicht morgen schon antreffen, wenn wir den Weg nach Norden einschlagen!«
»Ich muss wohl mit Euch gehen«, antwortete der Armenier mit sauersüßer Miene. »Kaschir-Aga würde mir den Kopf nicht lange auf den Schultern lassen, wenn Ihr mit der schönen Frankin verschwunden wäret.«
»Nun gut, so dient mir treu und aufrichtig!« sagte Wiedenburg. »Euer Lohn wird tausendmal reichlicher sein, als er Euch von diesem Aga zuteilwerden könnte. Geht jetzt zum Aga und sagt ihm, die fränkischen Diener hätten verlangt, mir ihre Ehrerbietung zu bezeigen, und geht dann zu ihnen und sagt, sie möchten sogleich zu mir kommen. Wir wollen für alle Fälle gerüstet sein. Schlaft diese Nacht nicht, wenn es Euch möglich ist, und haltet Euch in der Nähe, denn wir werden nicht warten, um Euch zu suchen, wenn wir reisefertig sind.«
Der Armenier ging mit tiefen Verbeugungen. Eine Viertelstunde später erschienen die vier Diener, um den jungen Deutschen von ganzem Herzen willkommen zu heißen und ihm ihr Leid zu klagen. Sie waren noch viel trauriger gekleidet als damals Wiedenburg, wie George ihm begegnete. Der junge Deutsche hatte aber weder Zeit noch Lust, über ihr Aussehen zu lächeln. Er gab ihnen Pistolen, Munition und Geld und bat sie, die Waffen zu verbergen und in der Nacht nicht zu schlafen, sondern sich für alle Fälle bereit zu halten. Das Zimmer, in welchem sie wohnten, lag in der Nähe des seinen; sie gelobten ihm mit Hand und Mund, das Äußerste zu wagen, denn sie wären dieses Lebens überdrüssig bis auf den Tod.
Auch seine türkischen Diener ließ Wiedenburg rufen.
Der eine, ein starker und kluger Mann, der Englisch verstand und ein Kaufmann aus Kars war und teils aus Lust am Abenteuerlichen, teils durch die Versprechungen Wiedenburgs bewogen, ihn in der Stellung eines Dieners begleitet hatte, versprach ebenfalls aufmerksam zu sein und den Deutschen von allem Verdächtigen zu unterrichten. Dann genoss Wiedenburg von der einfachen Abendmahlzeit, welche die kurdischen Diener ihm gebracht hatten, und setzte sich bei dem Schein einer kleinen Tonlampe auf die Kissen, um zu überlegen und zu lauschen.
Es war einige Stunden später, als Mary Hywell sich auf die Bitten ihres Vaters entschloss, ihr Lager aufzusuchen und ein wenig zu schlummern. Der Vater, der noch einmal bei Wiedenburg gewesen und durch diesen von allem unterrichtet war und der sich leise und heimlich wieder in das Zimmer Marys geschlichen, hatte seiner Tochter nichts von den Gefahren gesagt, die ihr vielleicht in den nächsten Stunden bevorstanden, und ihr nur das freudige Zusammentreffen Wiedenburgs mit George und die nahende Hilfe berichtet. Aber schon seine Gegenwart hatte ihr verraten müssen, dass etwas Außergewöhnliches im Werke sei, und sie war nur schwer zu bewegen, sich angekleidet auf die Kissen und Teppiche zu legen und zu tun, als ob sie schlummere. Die beiden Dienerinnen, ängstliche, schüchterne Frauen, die jetzt infolge der langen Furcht und mancher Entbehrungen fast Schatten glichen, waren dem Beispiel ihrer Herrin gefolgt und saßen halb liegend in einem Raume, der durch einen Vorhang von dem Lager Marys getrennt war.
Mr. Hywell hatte sich neben Marys Lager auf dem Fußboden niedergesetzt, sich mit dem Arm auf die Kissen stützend, auf denen Mary ruhte. Eine Tonlampe von der einfachen Form, wie man sie im Altertum kannte und noch heute im Orient findet, erhellte den Raum, der durch einen Vorhang von dem größern Wohnraum des Zimmers geschieden war, mit ihrem flackernden, ungleichen Lichte. So saß der bejahrte Mann und lauschte den Atemzügen seiner Tochter, die ruhiger und ruhiger wurden, obwohl Mary nicht schlief, wie der Vater glaubte.
Welche Gedanken erfüllten den schwer geprüften Mann! Welcher Wechsel des Schicksals, welche seltsame, unheimliche Lage! Er, der in seinem Vaterlande in ruhigster Sicherheit hätte schlafen können, sich einwiegend mit dem Gedanken, dass sein liebliches Kind zur gleichen Zeit süß von unschuldigen Scherzen träume, er, der mit banger Sehnsucht dem Zeitraum entgegengesehen hatte, in welchem ein würdiger und verdienter Mann neben der kindlichen Liebe eine andere und noch innigere in Marys Seele erwecken werde, er saß hier mit schwerem Herzen, weit von der Heimat, mit der Waffe in der Hand, um den Schlaf der Tochter zugleich mit ihrer Unschuld vor der Leidenschaft eines Menschen zu schützen, dem Blut ein Spott und das edelste Weib nur eine verlockend geformte, aber geistlose Masse war, für einige Zeit genügend, ihm die trägen Zwischenräume zwischen seinen Raub- und Jagdzügen zu verkürzen. Alles, alles das fühlte er mit der ganzen scharfen Bitterkeit des erfahrenen Mannes, mit dem heißen Schmerz des zärtlichen Vaters. Und in seiner Brust reifte jene kalte Entschlossenheit, die bereit ist, eher das Leben des eigenen Kindes zu enden, als es untergehen zu lassen in Jammer, Verzweiflung und Schande. Hatten Hunderte und Tausende vor ihm das Liebste geopfert, was sie auf dieser Welt besaßen, um es nicht berühren zu lassen von unreiner Hand, weshalb sollte er feiger oder grausamer sein als sie alle? Und musste dem Manne, der auferzogen war in reinster Verehrung der Frauen, der zu seiner früh verlorenen Gattin aufgeblickt, wie zu einem Wesen höherer Art, der sein Kind in seinem Herzen gehegt als das Juwel seines Lebens, musste ihm diese Hand, die sich nach Mary ausstreckte, nicht als eine unreine erscheinen, wenn er bedachte, in welchen Ansichten und in welchen Formen der Gesittung dieser junge Kurde erzogen worden?
Er saß und lauschte, aber das Weben seiner Gedanken wiegte dennoch die Schärfe seines Ohres in Schlummer. Er hörte den leisen, katzenartigen Schritt nicht, der über den Teppich des Zimmers schlich, er hörte nicht, wie eine Hand vorsichtig den Vorhang auseinanderschlug. Aber Mary hatte es gehört und begann schneller zu atmen; sie ahnte die Nähe dessen, von dem ihr Gefahr drohte. Die beschleunigten Atemzüge trafen das Ohr des Vaters; unwillkürlich blickte er auf. Nur wenige Schritte von ihm, den Vorhang noch mit der einen Hand haltend, stand Kaschir-Aga.
Der junge Kurde mochte den Engländer, der tief neben dem Lager Marys saß, bis jetzt nicht gesehen haben. Jetzt, als dieser den Kopf erhob, musste er ihn erblicken, und für einen Augenblick schrak er zurück. Der bewundernde, begehrliche Ausdruck seines Blickes wich dem der Überraschung, dem des Trotzes. Noch hatte er die Waffe in der Hand Mr. Hywells nicht bemerken können. Er trat näher, fest entschlossen. Er war ungefähr in derselben Tracht, in welcher der Engländer ihn zuerst gesehen. Das deutete auf ein Vorhaben, auf eine bevorstehende Unternehmung. Der Armenier und Wiedenburg hatten sich nicht getäuscht, er kam, um Mary mit sich zu nehmen.
Mr. Hywell erhob sich. Auch er fühlte in diesem entscheidenden Augenblick die ganze Kälte der verzweifelten Entschlossenheit. Er war mit sich·einig, den Kurden zu töten, wenn dieser sich nicht entferne. Mochte dann kommen, was da wollte, der Tod war für ihn und Mary nicht das Schlimmste! Es war ein unheimlicher Anblick, wie die beiden Männer sich gegenüberstanden, während Mary regungslos an ihrem Lager ruhte, nicht wagend, die Augen zu öffnen, und nur durch das Rauschen der Kleider belehrt, dass ihr Vater sich erhoben. Das Bewusstsein, dass keiner von beiden des andern Sprache verstehe, erhöhte das Unheimliche dieser Szene. Gebärden, Bewegungen, Mienenspiel mussten hier entscheiden, wo es sich um Tod und Leben handelte. Kaschir-Aga deutete mit der Hand an, Mr. Hywell möge sich entfernen; der Engländer schüttelte ruhig den Kopf. Der Kurde trat vor; Mr. Hywell trat ihm schnell und entschlossen einige Schritte entgegen, sodass er zwischen ihm und Mary stand, nur auf Armeslänge von ihm entfernt. Die Augen des Kurden funkelten, die Adern seiner Stirn schwollen an, seine Brust atmete höher, die Nasenlöcher schienen sich zu erweitern und er zischte einige Worte – wohl einen Fluch – durch die zusammengepressten Zähne. Dann griff er nach dem Gürtel, der von Dolchen und Pistolen starrte. Aber Mr. Hywell erhob drohend das Terzerol. Auch dem Kurden musste diese kalte Bewegung verständlich sein. Mr. Hywell drohte seinem Gegner mit dem Tode, wenn er noch eine Bewegung mache.
Da teilte sich der Vorhang, der hinter Kaschir-Aga zusammengefallen war, leise, geräuschlos, und es zeigte sich eine Gestalt in türkischer Tracht – Wiedenburg. Er legte den Finger auf die Lippen, zum Zeichen des Schweigens. Mehr sah Mr. Hywell für den Augenblick nicht, oder erinnerte sich wenigstens nicht, mehr gesehen zu haben. Er sah die Faust des Kurden blitzschnell nach seinem Kopfe fahren und fuhr zurück; dennoch traf ihn ein Schlag und er taumelte. Im nächsten Moment aber sich aufraffend, sah er den Kurden in den Armen Wiedenburgs, die ihn von hinten umspannt hatten.