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Amos Oz:
Eine Geschichte
von Liebe und Finsternis
Kunst und Liebe gleichen sich darin, dass ein jeder sich in ihnen zu erkennen wünscht, mehr noch: sich auf das Vorteilhafteste in ihnen spiegeln möchte. Das ist aber der große Fehler, sagt Adorno. Ein Kunstwerk, das mir nur meine eigene Subjektivität widerspiegelt, sagt mir nichts über mich. Eine Liebesbeziehung, in der ich mich im anderen gleichsam nur verdoppelt sehe, ist der pure Narzissmus. Erst wenn sich das Kunstwerk mir entzieht, kann ich etwas über mich selbst lernen. Erst wenn ich den anderen in seiner Differenz zu mir wahrnehme und anerkenne, kann der Prozess beginnen, der von der Verliebtheit zur Liebe führt. Für das wirkliche Kunstverständnis oder die Liebe sind aber nur wenige geschaffen – die meisten erkennen in den Schwierigkeiten, mit denen dieser Prozess beginnt, schon das Scheitern des ganzen Projektes und werfen die Flinte ins Korn.
Frank hatte sich von seiner Frau Gisela getrennt und sich auf Gedeih und Verderb mit der schönen Karin verbunden. Er liebte Karin, und sie liebte ihn, aber ein jeder liebte den anderen auf eine besondere Art, die der Geliebte nicht verstand. Sie erkannten einander, sie rieben sich aneinander, sie ärgerten sich übereinander und waren doch entschlossen, einander lieben zu lernen. So empfing Frank den Lesekreis zum ersten und letzten Mal in seiner Junggesellenwohnung an der Subbelrather Straße in Köln-Ehrenfeld. Bald würden er mit Karin in das Japanische Viertel von Düsseldorf-Oberkassel umziehen, in der sie die nächsten Schritte ihres weiteren Lebens erproben wollten. Frank hatte passend zum heutigen Buch israelische und orientalische Speisen aufgetischt. Es wurde munter gefuttert, während Frank jüdische Musik auflegte.
Doch so gut es auch schmeckte, das heutige Buch – Amos Oz´ „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ - war harte Kost. Lothar begann die Aussprache mit der Bemerkung, wie gut es sei, dass man die ausgewählten Bücher vorher nicht kenne, weil man sie sonst nicht wählen würde. Nicht, weil sie schlecht, sondern weil sie so schwierig zu lesen seien. Er selbst habe die 670 Seiten des Buches mit einer Mischung aus Leidensbereitschaft und Sturheit gelesen und sei erst kurz vor dem Lesekreistreffen fertig geworden.
Elke nickt, sagte aber nichts, denn sie hatte das Buch schon wieder nicht ganz gelesen, hoffte aber, durch die gemeinsame Zusammenfassung des Inhalts zu den anderen aufschließen zu können. Frank schwieg und schenkte den Wein ein.
Die folgende halbe Stunde verging damit, den Inhalt des Buches herauszuarbeiten. Marcel gab die Richtung vor, indem er vorschlug, die „Erzählpakete“ des Buches in vier Geschichten zu gliedern, wobei zu beachten sei, dass diese Geschichten parallel erzählt würden.
Zuerst enthielt das vorliegende Buch eine Geschichte des modernen Judentums, beginnend in den zionistischen Salons von Odessa, Wilna und Rowno, fortgesetzt über die Flucht aus Russland und den Holocaust bis hin zur Gründung des Staates Israel. Antisemitische Osteuropäer, Nazis, Bolschewiken und arabische Extremisten verfolgten die Juden auf diesem Weg, mordeten und peinigten sie, so gut sie es vermochten, so dass es am Ende fast einem Wunder glich, dass ein eigener Staat der Juden überhaupt entstehen konnte. Vor diesem historischen Hintergrund wurde zweitens die Familiengeschichte der Klausners und der Mussmanns über drei Generationen hinweg entfaltet, ehe sich Ariel Jehuda Klausner und Fanny Mussman, die Eltern des Autors, fanden und heirateten und der Roman schließlich - drittens - in die Biografie des kleinen Amos mündete. Der kleine Amos verlebte seine Kindheit im britischen Mandatsgebiet Palästina und wurde Zeuge der Teilung des Landes, der Entstehung des Staates Israel und des ersten Nahostkrieges. Doch Amos wurde nicht nur zum Bürger eines neuen Staates sondern auch zum Novizen in noch einer viel größeren Welt: dem Reich der Literatur. Wie aus dem sensiblen Einzelkind ein Schriftsteller wurde, das erschien als vierte und intimste Geschichte - und zugleich als die einzig mögliche Therapie, aus "Liebe und Finsternis" wieder herauszufinden.
Als wäre all das nicht schon anspruchsvoll genug, springt der Autor nicht nur zwischen diesen vier Ebenen hin und her, sondern auch noch zwischen den Zeiten vor und zurück. Gerade befindet man sich noch am Ende des ersten Nahostkrieges, dann geht es zurück in die Salons von Odessa. Auf der einen Seite wird der polnische Antisemitismus der Dreißiger Jahre beschrieben, auf der nächsten folgen Reflektionen über die beste Methode, Stoff für Kurzgeschichten zu erhalten. Die Erzählhaltung folgt keiner anderen Regel als der der frei assoziierenden Erinnerung, und wie diese geht sie vor und zurück, wechselt die Kategorien und die Protagonisten, bis sich schließlich, nach etwa der Hälfte des Buches, beim Leser das Gefühl einstellt, man sei der Zeuge eines ganzen Lebens geworden. Das hatte Lothar in ganz besonderer Weise beeindruckt. „Ich habe bei der Lektüre tatsächlich einen Anhauch des Entsetzens gespürt, das sich in den jüdischen Siedlungen ausbreitete, als sich arabischen Armeen anschickten, den jungen Staat zu vernichten. Und der Schmerz des kleinen Amos beim Freitod seiner Mutter hat mich so intensiv ergriffen, wie sich es sonst selten bei Büchern erlebe.“
Am Ende der Zusammenfassung waren sich alle einig, dass der Autor eine Menge zu bieten hatte, dass er aber auch den Leser bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit forderte. Wenn Eco das Kunstwerk mit einer "trägen Maschine" verglich, die der Mitarbeit des Rezipienten bedurfte, um in Schwung zu kommen, so drohte diese „Maschine“, das war Lothars Meinung, vor allem auf den ersten zweihundertfünfzig Seiten des Romans, immer wieder stecken zu bleiben, weil die epische Spannung, die der Autor mühelos entfaltete, sich durch seine asynchrone Erzähltechnik immer wieder verflüchtigte.
Frank erschien es fast so, als wolle der Autor durch die ambitionierte Form, die er seinem Roman gegeben hatte, alle Gelegenheitsschmökerer verscheuchen und nur die wirklichen Leser bei der Stange halten, um sie mit seiner Weisheit und seinem Humor zu belohnen.
„Aber es ist eine Weisheit und ein Humor, der die arabische Seite ausschließt“, bemerkte Marcel. „Außer in zwei Passagen bleibt die palästinensische Perspektive gänzlich ausgespart.“
„Aber wie hätte der Autor das auch leisten können?“ fragte Frank. „Er ist Israeli und schreibt von den Ursprüngen und dem Selbstbehauptungskampf seines Volkes.“
„Aber gerade die Hoffnung, endlich einmal ein Buch zu lesen, das beide Seiten literarisch angemessen zu Wort kommen lässt, war der Grund gewesen, dieses Buch auszuwählen“, insistierte Marcel, der ganz offensichtlich mit dem vorliegenden Buch nicht zufrieden war, was Lothar wunderte, denn er hätte gedacht, dass gerade der verschachtelte Aufbau des Werkes Marcel begeistern würde.
„Stimmt“, meinte Frank. „Der Araber als Antagonist kommt in dem Buch nicht wirklich vor, aber ist das nicht auch schon bemerkenswert? Selbst für einen so bedeutenden Autor wie Oz ist das palästinensische Gegenüber eine Leerstelle.“
„Aber gehen wir jetzt nicht ein wenig zu sehr von unserer Erwartung aus?“ fragte Elke. „Wer sagt denn, dass das Buch das israelisch-palästinensische Verhältnis überhaupt zum Thema machen wollte? Wir haben doch schon gesagt, es handelt sich auch um eine Familiengeschichte, und als Familiengeschichte finde ich das Buch durchaus gelungen. Das Buch enthält so viele Beobachtungen aus dem Reich der Familie, die man nur mit Gewinn lesen kann. Ich habe mich zum Beispiel noch vor kurzem über eine Cousine maßlos geärgert, die ihre Umwelt durch ihren Trübsinn und ihre Nörgelei nervt. Sie besitzt nette Kinder, einen liebevollen Mann, aber sie ist durch und durch unzufrieden. Und da lese ich folgende Stelle auf Seite 246, wo der kleine Oz über seine Mutter schreibt: `Vielleicht kann man Mama nicht wirklich zur Last legen, dass sie ihm – dem Vater – das Leben so vergällt hat? Sie war dort ja sehr unglücklich. Sie war überhaupt eine unglückliche Frau. Von Geburt an: unglücklich. Mit den Chandeliers und den Kristallsachen war sie auch schon ziemlich unglücklich. Aber sie war eine unglückliche Frau, von der Sorte, die auch andere unglücklich machen muss.´ Das ist es, dachte ich, als ich diese Stelle las, das ist genau meine Cousine, ich begriff plötzlich das Wesen meiner Cousine auf eine ganz andere Weise. Solche Stellen gibt es in dem Buch in Hülle und Fülle, und da sucht ihr nach irgendwelchen historischen oder politischen Passagen.“ Elke klappte das Buch zu und blickte sich um.
„Etwas privatistisch, oder?“ fragte Marcel mit unentschlossener Miene.
„Ich habe auch eine Stelle, die mich angesprochen hat“, ergänzte Frank „Ganz am Ende des Buches, in dem Oz über die Bücher spricht, die ihn beeinflusst haben, beschreibt er eine Stelle aus `Arc de Triomphe´ von Remarque, in der von einer Frau erzählt wird, die sich liebeskrank an ein Brückengeländer lehnt und an Selbstmord denkt. `Aber im allerletzten Moment kommt ein wildfremder Mann vorbei, bleibt stehen, spricht sie an, packt sie entschlossen am Arm und rettet ihr so das Leben und wird auch noch mit einer heißen Liebesnacht belohnt´“ las Frank und blickte auf. „Ist es nicht großartig, wie hier die entscheidenden Voraussetzungen und Anbahnungsetappen der Liebe beschrieben werden? `Und genau so würde ich auch der Liebe begegnen´, heißt es weiter im Buch. `Sie würde allein in einer Sturmnacht am Geländer der Brücke stehen, und ich würde im letzten Moment auftauchen, um sie vor sich selbst zu retten.´“ Frank klappte das Buch zu und überlegte einen Moment. „Natürlich steht hinter der verzweifelten Unbekannte, die Oz so beeindruckt, eine Erinnerung an die traurige Mutter, die der Erzähler zu retten wünscht“, fügte er hinzu. „Zugleich aber zeigt die Stelle für mich auch, wie stark das, was wir Liebe nennen, nicht in erster Linie das Thema der Literatur ist, sondern dass die Literatur und die in ihr geweckten Bilder unsere Erwartungen von der Liebe prägen.“
Marcel schüttelte den Kopf und blickte auf sein Exemplar, als hätte es ihn enttäuscht. „Dass das Buch zur Identifikation einlädt, habe ich auch bemerkt“, gab er zurück. „Doch ich schätze solche Einladungen nur in Maßen. Sie laden allzu leicht dazu ein, wild zu assoziieren und alles Mögliche mit diesen Passagen in Verbindung zu bringen. Solche Stellen sind wie Badewannen, die den Leser dazu verleiten, sich in sie hineinzulegen und einfach nur wohlzufühlen. Manchmal sind sie wie Erschleichungen, wenn sonst kein anderer Sinn in dem Buch zu finden ist.“
„Das willst du doch nicht im Ernst für dieses Buch behaupten“, widersprach Lothar. „Ich verstehe schon, was du meinst, aber ich finde, dass deine Kritik dieses Buch nicht trifft. Mit Ausnahme der arabischen Problematik ist das Buch unglaublich wirklichkeitsgesättigt, vor allem im Hinblick auf die Beschreibung der osteuropäischen Ursprünge des Staates Israels, die absolut anschaulich werden. Mir fällt dazu eine Empfindung ein, die mich im letzten Sommer während meiner Osteuropareise geradezu überwältigt hatte: die Größe, die Weite, um nicht zu sagen: die Leere mancher osteuropäischer Städte siebzig Jahre nach dem Holocaust. Vor allem in Wilna hatte ich auf den großen Plätzen die Empfindung, dass die hunderttausend Juden, die die Nationalsozialisten allein in Wilna ermordet haben, physisch fehlten.“
Lothar machte eine Pause und sah sich um. „Es hat mich bewegt, mit diesem Buch ein Werk in der Hand zu halten, das die Stimmung dieser untergegangen Welt literarisch bewahrt. Anders kann ich es nicht sagen.“
Frank stimmte Lothar zu und bezeichnete Marcels methodisches Diktum gegen die Passagen, die zu persönlicher Identifikation einladen, als kurios. „Was hätte denn Lesen für einen anderen Sinn, als zur Identifikation einzuladen?“ fragte er.
„Da rennt ihr bei mir offene Türen ein“, erwiderte Marcel. „Es ist aber ein Unterschied, ob sich der Bezug zwischen dem Buch und dem Leser auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Gesamtaussage ergibt oder auf der Grundlage nebensächlicher Passagen, die man sich ins Poesiealbum schreiben kann. Es war mir immer ein Gräuel, wenn sich die Leute in Büchersendungen gegenseitig immer genau die falschen Stellen aus den Büchern vorlasen, mit denen sie dann mehr über sich selbst zum Ausdruck brachten, als über das Buch. „
„Habe ich denn eben eine falsche Stelle zitiert?“ wollte Elke wissen.
„Nein, hast du eigentlich nicht, weil die Traurigkeit der Mutter ja nur eine Variante der allgemeinen Traurigkeit ist, die das ganze Buch durchzieht. Dieser zweite, entscheidende Aspekt droht aber bei der Begeisterung für solche verstreuten Stellen verloren zu gehen“, antwortete Marcel. „Es handelt sich um ein durch und durch melancholisches Buch, aber anders als bei Safran Foer wird diese Melancholie nur selten mit Humor und Distanz aufgefangen. Und im Übrigen bitte ich darum, mich nicht mit Gewalt in eine puristische Ecke zu drängen. Ich bin von dem Buch halt nur nicht so angetan wie ihr und kann mich möglicherweise deswegen an den Zitaten, die ihr herausklaubt, nicht so berauschen. Mir fehlt die Gesamtaussage.“
„Das hört sich in meinen Ohren total unliterarisch an“, widersprach Frank. „Gesamtaussage? Was soll denn das anderes sein als ein mehr oder weniger subjektiv eingefärbtes Verständnis?“
„Das wäre ja auch schon was“, gab Marcel zurück. „Aber noch nicht einmal dieses subjektiv eingefärbte Gesamtverständnis erschließt sich mir. Hat denn irgendjemand von euch ein nachvollziehbares Verständnis des Buches gewonnen, einen Interpretationsansatz, der über die einzelnen Passagen hinausgreift und eine Art Sinn ergibt? Das würde ich gerne mal hören.“
Stille. Dann Blättern im Buch. Nachdenkliche Gesichter.
„Ich habe eine Idee, die ich aber nur als Entwurf vortragen möchte“, begann Lothar. „Aber auch diese Deutung würde ich gerne an zwei Stellen festmachen. Die eine befindet sich auf Seite 404 und handelt von Büchern im Allgemeinen, die andere steht auf Seite 228 und thematisiert die Liebe im Besonderen.“ Lothar suchte die Textstellen und las: „`Es stimme zwar, dass Bücher sich im Laufe der Jahre verändern können, genauso wie Menschen sich im Laufe der Zeit veränderten, aber der Unterschied liege darin, dass manche dich schließlich fast alle im Stich ließen, sobald sie keinen Nutzen, keine Freude oder kein Interesse oder einfach keinen Gefallen mehr an dir fänden, während Bücher dich niemals im Leben im Stich ließen. Ganz still und bescheiden würden sie im Regal auf dich warten, sogar jahrzehntelang würden sie warten, ohne zu klagen. Bis du eines Nachts plötzlich eines von ihnen brauchst. Es wird nicht mit dir abrechnen, keine Ausflüchte erfinden und sich nicht fragen, ob es sich für es lohnt, ob du es verdienst sondern wird einfach sofort kommen, wenn du es bittest zu kommen.´ Die Bücher sind also treu, verlässlich und immer für uns da. Wie die Geliebte könnte man meinen, aber weit gefehlt Denn die Liebe ist ganz anders. Dazu heißt es auf Seite 228. `An allumfassende Liebe glaube ich nicht so recht. Das jeder jeden liebt, das überlassen wir vielleicht besser Jesus. Liebe ist etwas ganz anderes. Sie hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Großzügigkeit und auch nicht mit Mitgefühl. Liebe ist eine sonderbare Mischung aus zwei Gegensätzen, aus egoistischstem Egoismus und vollkommener Hingabe.´ Die Liebe wählt man also nicht, man wird von ihr angesteckt wie von einer Krankheit, und wenn sie nachlässt, springt aus ihr der Egoismus und die Selbstsucht in einer Weise hervor, die man niemals für möglich gehalten hätte.“ Natürlich dachte Lothar in diesem Augenblick an den Untergang seiner eigenen Ehe, und das Unangenehme war, dass er das Gefühl hatte, dass die anderen das wussten.
„Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ bedeute für mich also nicht eine Geschichte von Alternativen“, fuhr Lothar fort, „sondern Liebe und Finsternis bezeichnen das gleiche Phänomen, ein Geschehen, dass mit der Liebe beginnt und mit der Finsternis endet. Und diesem Verhängnis gegenüber stehen die Bücher, die immer für uns da sind und uns in ein Reich der Phantasie entführen, in dem wir ganz bei uns selbst sind.“