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IV
Thomas Stangl:
Der einzige Ort
Als sich der Lesekreis das nächste Mal traf, war Lothar gerade erst einige Tage vorher geschieden worden. Er hatte seine Frau nach fünfzehn Monaten zum ersten Mal wieder getroffen. Stumm hatten sie neben ihren Anwälten gestanden, nach einer Viertelstunde Verhandlung war alles vorbei gewesen. Nach der Scheidung hatten sie sich zum Abschied noch nicht einmal die Hand gegeben, sondern waren, jeder in eine andere Richtung, einfach davongegangen.
Dieses Ereignis hatte Lothar nachhaltig erschüttert. Einige Nächte schlief er schlecht, und nur mit Mühe konnte er sich auf den Lesekreis vorbereiten. Ein Buch über zwei Wüstenreisende stand an, eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Was sollte er damit in seiner Seelenverfassung anfangen? Oder war das Buch genau das richtige für ihn? Immerhin lenkte es seine Aufmerksamkeit auf etwas ganze anderes als „Liebe und Finsternis“, auch wenn die Geschichte ein finsteres Ende nahm. Trotzdem fühlte sich Lothar schlecht, als sich der Lesekreis bei ihm versammelte.
Im Mittelpunkt des Abends stand das Buch des Österreichers Thomas Stangl „Der einzige Ort“, ein Erstlingswerk, in dem ein junger Autor nach zehnjähriger Beschäftigung in allen erreichbaren Bibliotheken ein Buch über eine Weltgegend geschrieben hatte, in der er selbst noch niemals gewesen war. Hauptpersonen der Handlung waren der Engländer Gordon A. Laing und der Franzose René Caillié, die sich ab 1825 von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten aus der geheimnisvollen Stadt Timbuktu näherten. Gordon Laing begann seine Expedition als englischer Major im libyschen Tripolis, während der französische Schuster und Abenteurer René Caillié als Mohammedaner getarnt vom Senegal aus alleine seinen Weg nach Timbuktu suchte. Nach unsäglichen Mühen erreichten beide kurz nacheinander die Stadt, fanden aber nur Enttäuschung und schließlich den Tod.
Marcel begann die Aussprache schon während des Essens und bezeichnete Stangls „Der einzige Ort“ ohne große Umschweife als einen „Achttausender“, bei dem es keine Schande sei, zu scheitern.
„Achttausender“ ist gut, rief Elke. „Ich habe mich schon oft gefragt, warum vernünftige Menschen ohne Not Achttausender besteigen. So ist es mir auch mit diesem Buch gegangen.“
Lothar fand die Achttausender-Metapher nicht schlecht, gestand aber, dass er im Basislager hängen geblieben war. Er äußerte seine Anerkennung über das literarische Format des Buches, war aber zugleich ärgerlich über die prätentiösen Klammern mit langen Sondertexten, die das ganze Buch durchzogen und wunderte sich über die nahezu vollkommene Auslassung von Absätzen. „Hier hat sich ein Autor an einen Schreibtisch gesetzt und in einem los geschrieben, ehe ihm nach fast vierhundert eng beschriebenen Seiten der Griffel aus der Hand gefallen ist.“
„Was er aber geschrieben hat, ist fantastisch“, sagte Marcel. „Das wird ja wohl niemand abstreiten.“
„Fantastisch oder nicht – ich weiß gar nicht, wie wir uns einem solchen Buch überhaupt annähern sollen“, merkte Frank an. „Wir besitzen für den systematischen Einstieg in eine Buchbesprechung überhaupt keine Methode, das ist mir schon bei den letzten Sitzungen aufgefallen. Mal bemühen wir uns gemeinsam um eine Zusammenfassung, ein andermal beginnt einer mit einer Bemerkung zu einem Detail, mit einem Lob oder einem Gesamtverriss, dann antworten wir, was uns gerade einfällt, und so geht das weiter. Das ist unbefriedigend.“
„Ich würde das eher ein lebendiges Gespräch nennen“, widersprach Marcel. „Auf der anderen Seite frage ich mich, was die Alternative wäre.“
„Ich hätte einen Vorschlag“, antwortete Frank. „Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir bei unseren Interpretationsversuchen mit dem Titel anfangen? Den Titel als Schlüssel für das Verständnis eines Buches – das kann doch nicht ganz falsch sein.“
„Der Titel `Ulysses´ als Einstieg in den `Ulysses´? Klingt ein wenig dürftig, “ meinte Lothar.
„Finde ich nicht. Der Titel sagt sogar eine ganze Mange über das Konstruktionsprinzip des `Ulysses´ aus“, widersprach Frank.
„Aber nur wenn man den geistesgeschichtlichen Hintergrund kennt. Der Ansatz beim Titel eines Buches als Schlüssel für ein Werk wäre also ein Schlüssel, der selbst wieder eines Schlüssels bedarf.“ Lothar war nicht überzeugt.
Marcel hob die Hand. „Können wir uns vielleicht wieder dem heutigen Buch zuwenden?“ bat er. „Ob der Titel immer den Zugang zu einem Buch ermöglicht, weiß ich auch nicht, wir können es aber mal versuchen. Bei dem vorliegenden Buch erscheint mir das sogar möglich. `Der einzige Ort´ drückt nämlich recht genau aus, worum es in dem Buch geht: um einen Mythos. Und schon sind wir mitten in der Sache.“
„Und was wollen wir unter Mythos verstehen?“ fragte Elke.
„Die repräsentative Gründungsgeschichte einer Kultur, die ganz am Anfang steht und alles, was nachher folgt, beeinflusst“, meinte Lothar wie aus der Pistole geschossen.
„- und die meistens auch noch mit einem Ort verbunden ist“, präzisierte Marcel.
„Donnerwetter, hier hat man sich aber gut vorbereitet“, spottete Frank. „Die Definition finde ich aber trotzdem gut. Das passt auf Timbuktu. Es geht in dem Buch von Thomas Stangl also um einen westafrikanischen Mythos. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was die Reise der beiden Entdecker mit diesem Mythos zu tun hat.“
„Das kann ich erklären“, behauptete Marcel. „Wir befinden uns in den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Ränder Afrikas sind seit langem bekannt, sein Inneres aber nicht, vor allem nicht das große Sandmeer, die Sahara und die berühmte Stadt Timbuktu, von der sich die Europäer seit alters her Wunderdinge erzählen.“ Marcel machte eine Pause und blickte sich um. „Es geht also um einen Blick von außen“, ergänzte er. „Wir lernen diesen Mythos aus der Sicht der Europäer kennen.“
„Wie passt das zur Erzählhaltung?“ fragte Frank.
„Es passt, denn es wird vorwiegend aus der Innenperspektive der beiden Entdecker berichtet“, antwortete Marcel. „Wir haben zwei personale Erzähler, die dem Leser wechselnde Ausschnitte des Geschehens präsentieren.“
„Aber nicht nur“, warf Lothar ein. „Es gibt in dem Buch auch jede Menge neutraler Erzählpassagen, in denen aus dem off erzählt wird, etwa wenn die Schönheiten und Schecken der Wüste zur Sprache kommen.“
Marcel stimmte zu: „So sehe ich das auch. Der Roman besitzt also zwei Erzählperspektiven, eine personale und eine abgehobene Außenperspektive. So etwas geht meistens schief, aber hier funktioniert es. Der Roman funktioniert als ein mehrstimmig erzähltes Buch.“
Elke hatte aufmerksam zugehört, ohne den Interpretationsschwung der anderen zu unterbrechen. Nun wurde es ihr aber zu abstrakt. „Denkt ihr bitte auch einmal daran, dass sich nicht nur Germanisten am Tisch befinden? Personales und neutrales Erzählen, gut und schön – das will ich mir gerne merken. Aber könnt ihr das auch an einem Beispiel aus dem Buch festmachen?“
Marcel schlug das Buch auf. „Kein Problem. Was das neutrale Erzählen betrifft, brauchen wir nur auf die erste Seite zu blicken. Der Roman beginnt mit der grandiosen Beschreibung einer Wüstenstadt: `Zunächst ist da das Bild einer Stadt ohne Menschen, niemand stellt sich den Blicken entgegen, da sind nur Häuser aus Lehm und Straßen, durch die sich der Sand schiebt in Schichten von unterschiedlicher Dichte und Festigkeit, flüchtige, weiche Muster, Schleifen und Spiralen formen sich, Riffe und Wellenkämme steigen für einen Augenblick aus der Tiefe auf, um dann zu brechen oder wieder zu versinken, die Grenze zwischen Boden und Luft verschwindet, in gelben Wolken trieben Sandkörner endlose Insektenschwärme durch die Gassen, Dünen schieben sich an die Mauern und Tore heran, klettern sie hoch.´ Das ist weder die Innenperspektive von Laing oder Gordon, sondern hier wird von Seiten des Autors neutral erzählt.“
Elke machte ein wenig überzeugtes Gesicht, schwieg aber.
„Auf der anderen Seite ist das Buch durchsetzt mit personal erzählten Passagen.“ Marcel blätterte weiter, fand eine Stelle und las: „Durch Laub über ihn dringt für eine Sekunde ein Lichtschwall, die Sonne bricht sein kleines Schattenreich auf, er hört auf zu schreiben, er hebt den Kopf, ordnet die Sonne ins Bild ein, er sieht mit zusammengekniffenen Augen den rötlichen Feuerball über dem Fluss stehen, dann langsam, dem Lauf des Flusses entlang, nach Westen ziehen, zu dem Meer hin, von dem er vor einer unendlich langen Zeit unter einem andern Namen und als eine andere Person gekommen ist.“ Marcel blickte auf. „Hier beobachtet Rene Caillié den Sonnenaufgang über dem Niger, das ist die Innensicht des Reisenden. Und zwischen diesen beiden Erzählperspektiven, der neutralen und der personalen geht es hin und her. “
Elke nickte, obwohl sie sich ärgerte, vor allen anderen belehrt zu werden. Und wer wusste schon, ob das auch stimmte? Manchmal hatte sie das Gefühl, das die anderen ihre Theorien einfach nur aus dem Hut zauberten. Trotzdem versuchte sie, das Gespräch ins Inhaltliche zu ziehen. „Habe ich das übrigens richtig verstanden? Waren Laing und Caillié gleichzeitig unterwegs und wussten nichts voneinander?“ fragte sie.
„Sie waren nicht wirklich gleichzeitig unterwegs“, antwortete Lothar. „Gordon Laing reiste 1826, René Caillié zwei Jahre später nach Timbuktu. Sie wussten allerdings nichts voneinander. Auch ihre Routen waren ganz unterschiedlich. Laing kam vom Nordosten, Caillié vom Südwesten nach Timbuktu.“
Marcel nickte und ergänzte: „Die Ankunft in Timbuktu wird am Ende des Buches, am Ende beider Reisen, als Höhepunkt und Enttäuschung zugleich beschrieben.“ Marcel blätterte wieder im Buch, fand eine Stelle und las: „Auf den ersten Blick, schreibt er, ist nichts zu sehen als eine Anhäufung von schlecht konstruierten Lehmbauten. In alle Richtungen breiten sich endlose Ebenen von Treibsand aus, von einem Weiß, das ins Gelb hineinspielt und von größter Kargheit. Der Himmel zeigt am Horizont ein blässliches Rot, die ganze Natur ist traurig, es herrscht tiefste Stille, nicht ein einziger Vogel lässt seinen Gesang hören. Nicht einmal eine Stadtmauer ist zu sehen, nur Schutthaufen da und dort am Rande des bewohnten Gebiets und ein Gürtel von kleinen, runden Hütten wie Iglus, in denen Sklaven wohnen.“ Marcel schlägt das Buch zu. „Die Reise ist zu Ende, die Welt ist entzaubert.“
„Ein wenig wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis“, überlegte Frank. „Wenn man sieht, wovon man bisher nur gehört hat, ist es immer eine Enttäuschung.“
„Auf der anderen Seite frage ich mich, warum der Autor am Ende des Buches Laing und Caillié quasi parallel durch Timbuktu laufen lässt, obwohl die beiden doch im Abstand von zwei Jahren in Timbuktu waren“, überlegte Lothar.
„Daran erkennt man, dass das Buch nicht nur eine chronologisch verfahrene, lineare Erzählung, sondern auch ein systematisches Werk ist. Das Datum spielt keine Rolle. Entscheidend ist der Ort und die mit ihm verbundene Enttäuschung“, erklärte Marcel.
Elke beugte sich vor. „Ich muss euch jetzt mal etwas Peinliches mitteilen“, begann sie. „Ich habe das Buch nicht ganz zu Ende gelesen, möchte aber nun doch wissen, wie das Buch ausgeht.“
„Ein tristes Ende“, kommentierte Marcel. „Laing und Caillié durchstreifen wie betäubt Timbuktu, den `einzigen Ort´, der sich als eine unbedeutende Lehmstadt erweist. Da sie sich auf Schritt und Tritt bedroht fühlen, reisen sie so schnell wie möglich wieder ab und versuchen, mit einer Karawane nach Marokko zu gelangen. Laing wird auf diesem Weg von fanatischen Moslems ermordet. Rene Caillié dagegen erreicht nach unsäglichen Strapazen Marokko, dann Frankreich, wo er ein sehr erfolgreiches Buch über seine Afrikareise veröffentlicht. Er starb allerdings schon bald an den gesundheitlichen Folgen seiner Reise.“ Marcel nahm einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. „So endet das Buch, das dem Leser, das will ich gerne zugeben, einiges abverlangt.“
„Und das auch seine Längen hat“, warf Lothar ein.
„Ich würde das nicht Längen nennen“, widersprach Marcel. „Du hast ganz einfach ein ambitioniertes Werk gelesen, ein Buch, das sich mit seinen komplexen Textreliefs gegen jedes Überfliegen wehrt. Es zwingt dem Leser seinen eigenen Rhythmus auf. Möglich, dass man das als `Länge´ empfinden kann. “
Frank hatte einige Male in dem Buch geblättert, als suche er eine Stelle, es dann aber geschlossen. „Ich stimme Marcel zu“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, ein ganz erstaunliches Buch gelesen zu haben, wobei ich auf Anhieb gar nicht sagen kann, worin die Größe dieses Buches in erster Linie besteht - abgesehen natürlich von der enormen epische Suggestion, die von dem Buch ausgeht. Vor allem in den Passagen, in denen der Leser Afrika mit Rene Cailliés Augen sieht, kam es mir so vor, als sehe ich den Niger, die Wüste oder die Karawanen leibhaftig vor mir.“
„Wenn da nicht diese eigentümlichen Klammereinschübe wären, die mitunter eine halbe Seite einnehmen und deren Funktion mir schleierhaft ist“, warf Lothar ein.
„Damit bin ich auch nicht klargekommen“, gab Marcel zu. „Vielleicht haben wir hier eine zweite neutrale Erzählperspektive vor uns“, überlegte er. „Mir ist außerdem aufgefallen, dass das Werk praktisch ohne Gefühle auskommt, und ich vermute, dass die Klammertechnik damit zusammenhängt. Ich weiß aber noch nicht, wie.“
„Wollen wir das wirklich wissen?“ fragte Elke. „Ich meine, treibt ihr die Spekulation nicht jetzt doch ein wenig zu weit?“
Auf diese Bemerkung ging zunächst niemand ein. Marcel hatte das Buch zugeschlagen und auf den Tisch gelegt. „Vielleicht sind das wirklich nur Nebensächlichkeiten, die mit dem Anliegen des Autors nichts zu tun haben“, vermutete er.
„Und das führt mich zu der Frage, was denn genau das Anliegen des Autors ist“, fuhr er fort. „Meiner Meinung nach sieht er es so, dass er Laing als Caillié Werkzeuge eines Verhängnisses sind, ohne dass er ihnen persönlich etwas vorwerfen kann. Das Geschehen, in das sie verwickelt sind, ist verhängnisvoll. Der Entdeckung des `einzigen Ortes´ folgt die Umwandlung des Mythos in einen heruntergekommenen kolonialen Besitzstand. Denn bald nach den Entdeckern kamen die Soldaten und übernahmen die Herrschaft in Westafrika. “
Frank stimmte Marcel Resümee´ zu. Ein so gehaltvolles, pralles Werk habe er lange nicht gelesen, wobei ihn aber das Gefühl beunruhige, ihm nicht ganz gerecht geworden zu sein. Er habe das Gefühl, dass das Werk noch viel mehr enthalte, als sie entdeckt hätten. Vielleicht sei es ein Buch für Wilfried, den Mehrfachleser, der bei der zweiten und dritten Lektüre noch mehr entdecken würde.
Elke hob abwehrend die Hand. „Ich habe es noch nicht einmal geschafft, dieses Buch einmal zu lesen, und der Gedanke es dreimal lesen zu müssen, jagt mir einen Schauder den Rücken herunter“, verkündete sie. „Tut mir leid, ich konnte mit diesem Buch nichts anfangen. Die ganze Thematik sprach mich nicht an, die Textmassen erschlugen mich, und ich merkte, dass die Lektüre für mich eine richtiggehende Anstrengung war. Da habe ich es einfach weggelegt.“ Sie machte eine Pause und blickte in die Runde. „Nun aber, wo ihr dieses Buch derart in den Himmel gehoben habt, bekomme ich ein schlechtes Gewissen.“
„Brauchst du aber nicht“, beschwichtigte Lothar. „Ich finde das Buch auch beeindruckend, aber so hoch wie Marcel und Frank würde ich es ebenfalls nicht hängen. Wie die Klammereinschübe zeigen, hat es etwas Gekünsteltes. Außerdem stört mich die antikoloniale Soße, die der Autor am Ende über sein Buch gießt.“
„Womit er natürlich recht hat“, warf Marcel ein.
„Womit er überhaupt nicht Recht hat“, widersprach Lothar.
„Womit er auf jeden Fall insofern recht hat, als er eine Diskussion in Gang setzt“, schloss Frank. ein. „Und das gehört doch wohl auch zu den Vorzügen guter Bücher, oder?“