Читать книгу Schule des Lesens - Adrian Ambrer - Страница 8

Оглавление

I

Jonathan Safran Foer:

Alles ist erleuchtet

Lothar hatte nach dem Ende seiner Ehe eine geräumige Wohnung im Kölner Westen bezogen - mit einem uneinsehbaren Balkon und hohen, langen Wänden, vor denen er endlich seine Bibliothek so einrichten konnte, wie er es sich immer gewünscht hatte. Nur noch selten dachte er an das verlassene Haus im Bergischen Land, an den großzügigen Garten, an den Kamin und den dunklen Tannenwald.

Vorbei. Ein neues Leben hatte begonnen, eine neue Umgebung, neue Menschen, neue Bücher. Zusammen mit Frank hatte er vor einigen Tagen einen Literaturabend mit Sigrid Löffler besucht. Frau Löffler hatte den ganzen Abend über die Bedeutung der Literaturkritik gesprochen. „Wo kommen wir hin, wenn wir Schund und Qualität nicht mehr unterscheiden können? Wir kommen dahin, wo wir im Reich der Liebe schon längst sind: in die Zonen der Orientierungslosigkeit.“ Frau Löffler sagte es unprätentiös, wie eine weise Zauberin, wie ein Mensch, der weiß, dass am Ende aller Liebeskummer im Ozean der Literatur verschwindet.

Lothar war der Gastgeber des zweiten Lesekreis-Treffens, das eigentlich das erste war, bei dem ein Buch besprochen werden sollte, das alle gelesen hatten. Es war Sommer geworden, und inzwischen hatte sich herausgestellt, dass er nicht in die Ukraine fahren würde, was aber nichts machte, weil ihn das Buch von der ersten Seite an fasziniert hatte. Auch wenn es ihm einen Stich gab, wieder einen Roman von einem Autor zu lesen, der sein jüngerer Bruder hätte sein können, hatte er die Poesie und Sprachkraft des Buches genossen. Manche Formulierungen hatten ihm so gut gefallen, dass sie in seine „Literarische Perlensammlung“ übernahm. „Ich tue Dinge für Dich, die ich hasse. Das bedeutet es, jemanden zu lieben,“ hieß es auf S. 46, eine Definition, die Lothar ebenso an seine gescheiterte Ehe erinnerte wie eine Sentenz auf S. 74 „Sie badete in Traurigkeit, sie entwirrte die zahlreichen Stränge aus der Traurigkeit, sie kostete die zarte Nuancen der Traurigkeit aus. Sie war ein Prisma, durch das die Traurigkeit in ihr unendlich breit gefächertes Spektrum zerlegt werden konnte.“ Lothar liebte solche Sätze, sie gehörten für ihn zur Essenz eines Buches, und auch wenn er sich nicht recht traute, diesen naiven Maßstab der literarischen Wertigkeit vor aller Augen zu enthüllen, hatte er sich längst eingestanden, dass er ein Buch umso höher schätzte, je mehr Aphorismen dieser Art es in sich trug. Ein Satz hatte es ihm besonders angetan. Er lautete: „Das ist Liebe. Wenn man die Abwesenheit von jemanden bemerkt und diese Abwesenheit mehr hasst als alles andere. Sogar noch mehr, als man seine Anwesenheit liebt.“

Schon eine halbe Stunde bevor Frank, Marcel und Elke zum ersten Büchergespräch eintreffen sollten, hatte Lothar Wein, Getränke, Snacks und Gebäck in Stellung gebracht, um sich anschließend noch ein wenig auf die Couch zu setzen und seine Leseeindrücke aufzufrischen.

Es verstand sich für ihn von selbst, dass er sich auf diesen Abend gründlich vorbereitet hatte. Neben der getreulichen Fixierung zahlreicher Zitate in seinem Perlenkompendium hatte er eine ausführliche Inhaltsangabe des Buches verfasst, sich formale Besonderheiten notiert und sich am Ende gefragt, was an dem vorliegenden Buch „gut“ oder „schlecht“ sein könnte, wobei er sich auf zwei Karteikarten eine Liste von Positiva und Negativa erstellte. Dieses Verfahren hatte er schon in seiner Studentenzeit bei seinen Freundinnen immer dann angewendet, wenn er sich nicht sicher gewesen war, worin die Beziehungsreise gehen sollte. Sonderlichen Erfolg hatte er dabei aber nicht verbuchen können, denn er erinnerte sich noch gut daran, wie stark sich die Bewertungen verändert hatten, je nachdem ob seine Freundinnen abgehauen oder geblieben waren.

Worum ging es in Safran Foers Roman „Alles ist erleuchtet“? Vordergründig ging es um die Reise eines jungen Amerikaners mit dem bezeichnenden Namen Safran Foer durch die Ukraine mit dem Ziel, eine gewisse „Augustine“ zu finden, die Safran Foers Großvater im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis gerettet hatte. Geführt wurde diese Reisegesellschaft durch den jungen Ukrainer Alex Perchov, der nicht nur mit seiner Ortskenntnis sondern auch durch seine Sprachmächtigkeit verblüffte. Ein melancholischer Großvater und der anhängliche Hund Sammy Davis jr., der immer furzen musste, komplettierten die ungleiche Truppe

Die Reise und die Suche dieser Gruppe aber bildeten nur den literarischen Rahmen, der zwei weitere Geschichten umgab. Die erste Geschichte führte tief in die Vergangenheit zurück zum jüdischen Schtetls Trachimbrod, einem Mikrokosmos des osteuropäischen Judentums mit all dem Abgedrehten, Pittoresken und Liebenswerten, das im Zweiten Weltkrieg für immer untergegangen war. Da gab es die „Entschiedenen“ und die „Wankler“, die sich als innerjüdische Sekten bekämpfen, die Hintertreppenphilosophen entwarfen fantastische Systeme, Wucherer und Gelehrte, Viehhändler und Marktfrauen erhielten ihren Auftritt auf der kunterbunten Bühne eines vormodernen Europas. Im Mittelpunkt der zweiten Geschichte stand der Großvater des Autors, der dieser Welt des Schtetls entstammte. Er hatte in den letzten Jahren vor der Vernichtung des osteuropäischen Judentums durch die Nationalsozialisten eine turbulente Jugend durchlebt, in der er mit nicht weniger als mit 120 Frauen geschlafen hatte, mit alten und jungen, schönen und hässlichen, mit guten und bösen, ehe er sich in die einzigartige Zoscha verliebte. Soweit die idyllische Seite des Buches. Doch es besaß auch einen bedrohlichen Grundakkord, der sich immer bemerkbarer machte, je weiter die Handlung voranschritt. Ein schreckliches Finale wartete am Ende der Lektüre auf den Leser, und all die liebenswerten Episoden aus dem Schtetl und die tölpelhaften Suchaktionen der Gegenwart hatten nur den Zweck, als Spannungsverzögerung für den furchtbaren Höhepunkt des Buches zu wirken: der Vernichtung Trachimbrods durch die Kriegsmaschinerie der Nationalsozialisten im Jahre 1942. Diese Beschreibung dieses Massakers, im Buch überfallartig eingefügt, wirkte auf Lothar wie ein nasser Lappen mitten ins Gesicht.

Lothar hatte seine Notizen, die er sich bei der Lektüre angefertigt hatte, noch gar nicht ganz zu Ende gelesen, als schon die anderen erschienen, zuerst Frank, dann Marcel und Elke. Die Stimmung war erwartungsvoll, weil es für die Aussprachen noch kein Muster gab. Jeder hatte sein Buch dabei, bei Frank quollen Spickzettel aus dem Umschlag, Marcel hatte einige Seiten mit Notizen vor sich ausgebreitet, während Lothar den Rotwein einschenkte.

Elke begann mit einem Vorschlag zum Verfahren. „Sollen wir das Buch nicht erst einmal von einem Teilnehmer des Lesekreises kurz zusammenfassen lassen, damit wir eine gemeinsame Grundlage haben?“ fragte sie.

Lothar vermerkte, diese Übung, die man von den gängigen Literatursendungen her kenne, sei doch nur für ein Publikum gedacht, dem Thema und Handlung des Buches unbekannt seien. Davon brauche man aber in ihrem Kreis nicht auszugehen, weswegen er seinerseits vorschlage, dass jeder zu Beginn formuliere, was ihn an dem Buch in besonderer Weise fasziniert, abgestoßen oder ergriffen habe.

Elke machte aus der Zurückweisung ihres Vorschlages kein Aufheben, sondern begann sofort ein Motiv zu thematisieren, dass an den unterschiedlichsten Stellen des Werkes aufscheine und dessen Bedeutung ihr nicht klar sei. Denn sowohl bei der Gründung von Trachimbrod wie auch in den Schtetl-Episoden bis hin zum fürchterlichen Ende des Dorfes sei immer wieder von „Nabelschnüren“ die Rede. Das habe sie als Mutter interessiert, und das müsse doch etwas bedeuten. Eifriges Blättern setzte nun ein, mehrere passende Stellen wurden gefunden, und es stellte sich schnell heraus, dass die Nabelschnüre durchweg als Fesseln, als Handicap, ja als Todesbringerinnen auftraten, was nach Lothars Meinung nicht weiter verwunderlich sei, da es sich bei der Nabelschnur um ein genealogisches Motiv handele, das man ebenso wenig abschütteln könne wie die Juden in aller Welt ihre geschichtliche und ethnische Besonderheit. Er würde sogar so weit gehen, in dem Symbol der Nabelschnur einen Fluch zu erkennen, einen Fluch, der seinen Ursprung in nichts anderem besäße als im Anderssein, ein Fluch, der vom ersten Tag an, vom Unfall im Fluss Brod bis zum Massaker, als Nabelschnur-Symbol immer wiederkehre.

Marcel stimmte dieser Deutung zu, zog es aber vor, über den formalen Aufbau des Buches zu sprechen. Für ihn hatte sich der junge Autor als ambitionierter und mit allen Wassern gewaschener Romancier erwiesen, der das ganze Repertoire wechselnder Zeit- und Erzählperspektiven in sein Werk eingebaut habe. Geradezu eine literarische Innovation sei in der doppelten sprachlichen Gebrochenheit zu erkennen, mit der Foer den jungen Alex zwischen Englisch und Ukrainisch radebrechen lasse. Alex „schluckt ein Brötchen“, wenn er etwas zugeben muss, er ist „fleischlich“, wenn er an Frauen denkt, „schamvoll,“ wenn er einen Fehler begangen hat, und er verkündet stolz, dass die 69er Stellung diesen Namen trage, weil sie im Jahre 1969 von einem Ukrainer erfunden wurde. Ganz nebenbei bemerkt, so Marcel weiter, sei es eine reife Leistung des Übersetzers, dass dieser englisch-ukrainische Wortwitz bei der Übertragung ins Deutsche nicht verloren gegangen sei.

Das sei alles richtig und witzig und für einen so jungen Autor geradezu erstaunlich, ergänzte Frank. Richtig sei aber auch, dass die Verschachtelung der Zeitebenen recht weit getrieben würde, um nicht zu sagen: mitunter so weit, dass darunter die Verständlichkeit leide. Viele Komparsen aus Trachimbrod sprängen doch wie Puppen aus der Zauberkiste mitten in die Handlung hinein, verhedderten sich in der Erzählung, ehe sie folgenlos wieder daraus verschwinden würden.

„Aber so ist das Leben doch auch“, widersprach Lothar. „Manche Menschen springen wirklich wie aus der Zauberkiste in dein Leben ohne Sinn und Grund, verwirren es, um dann plötzlich und unvorhergesehen wieder zu verschwinden.“

„Mag sein“, gab Frank zu, aber dann wäre ja die Literatur nur ein Abbild der Wirklichkeit, eine Verdoppelung der Realität. Aber komme den „Dichten“ nicht gerade daher, dass der Dichter die tausend Strebungen und Zauberkisten zu einer Tendenz „verdichte“?

Das mit dem „Dichten“ und „Verdichten“ fand Marcel wiederum sehr gut, vor allem deswegen, weil heute so viele literarische „Verdünner“ am Werk seien, und gemessen an diesen Verdünnern könne Safran Foers Roman nur als Meisterwerk gelten. Denn einmal abgesehen von der raffinierten formalen Komposition enthalte das Buch eine Verdichtung von seltener Prägnanz. Die „Verdichtung“, um die es ihm, Marcel, gehe, bestehe gerade in dem harschen Kontrast zwischen dem idyllischen Trachimbrod und seiner übergangslosen Vernichtung am Ende des Buches. Dieses grauenhafte Finale des Buches habe auf ihn wie ein Nackenschlag gewirkt, und er gestehe, dass er noch kein Buch gelesen habe, in dem die schreckliche Brutalität des deutschen Völkermordes ihm so anschaulich vor Augen geführt worden sei.

Lothar äußerte den Wunsch, die schockierenden Ereignisse, die am Ende des Buches geschildert werden, etwas eingehender zu untersuchen. Ihm komme es so vor, als sei die Szene, in der alle Menschen des Dorfes auf dem Hauptplatz zusammen getrieben werden, die Schlüsselszene schlechthin. Die Panzer waren angekommen, und der kommandierende deutsche Offizier befragte die Leute, wo die Juden seien, damit er sie aussondern und in der Synagoge verbrennen könne. Als niemand antwortete, trat er einfach an einen Dorfbewohner heran und sagte: „Du wirst mir einen Juden zeigen oder du wirst wie ein Jude behandelt werden.“

„Schrecklich“, meinte Elke. „Aber warum soll das eine Schlüsselszene sein?“

„Mir ist bei dieser Szene die sokratische Ethik eingefallen, nach der es besser ist, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun“, erwiderte Lothar. „Wie wäre es gewesen, wenn nun alle Menschen auf dem Dorfplatz, egal ob sie Juden waren oder nicht, auf sich selbst gezeigt und damit eine Solidarität und Humanität bewiesen hätten, die die Bestialität der Szene bloßgelegt hätte?“

„Dann wäre der Roman aber sofort zu einem Gedankenroman geworden, das heißt zu einer Erzählung, die erkennbar nur dem Kopf des Autors und nicht dem Leben entsprungen ist“, widersprach Frank sofort. „Da finde ich die Lösung des Buches viel besser. Denn von allen Menschen auf dem Dorfplatz zeigt nur ein einziger nicht auf einen anderen sondern auf sich, aber nicht, weil er einen anderen Juden retten will, sondern weil er selbst Jude ist und ehrlich sein will. Das ist der Augenblick, wo die Wahrhaftigkeit die Grenze zur Unsinnigkeit streift.“

„Eine interessante Szene“, gab Marcel zu. „Trotzdem frage ich mich, ob das wirklich die zentrale Stelle des Buches ist. Frank hat Recht, wenn er meint, dass es sich um keinen Gedankenroman handelt, dessen Thesen an bestimmten Handlungssträngen einfach nur entfaltet werden sollen. Mir kam es stattdessen so vor, als handele es sich bei der vorliegenden Geschichte eher um eine Wurzelsuche, wie bei einem Baum, dessen äußere Erscheinung vollkommen verschwunden ist. Denn es gibt ja kaum noch Juden in der Ukraine.“

„Es ist vor allem eine unsagbar traurige Geschichte“, unterbrach ihn Elke. „Ich frage mich, ob nicht die Traurigkeit überhaupt im Mittelpunkt des Buches steht. Denkt nur an die schöne Brod, die von der Liebe und der Traurigkeit verhext ist. `Brod entdeckte 613 Traurigkeiten´“ las Elke vor. „Jede davon war absolut einzigartig, ein eigenständiges Gefühl, das mit irgendeiner anderen Traurigkeit ebenso wenig Ähnlichkeit hatte wie Wut, Verzückung, Schuld oder Enttäuschung. Die Traurigkeit des Spiegels. Die Traurigkeit zahmer Vögel. Die Traurigkeit vor dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter traurig zu sein. Die Traurigkeit des Humors. Die Traurigkeit der unerfüllten Liebe.“

„Ja, das ganze Buch ist voller Anmerkungen zur Traurigkeit“, stimmte Frank zu. „Aber kaum etwas ist schwieriger literarisch darzustellen als Traurigkeit, ohne larmoyant oder kitschig zu werden. Ich denke, wir sind uns darüber einig, dass Foer bei der Darstellung der Traurigkeit weder larmoyant noch kitschig ist. Aber wie schafft er das?“ Frank hielt das an einer bestimmten Stelle geöffnete Buch hoch. „Er enthüllt seine Methode auf Seite 81, wo Alex in seiner verqueren Sprache scheinbar beiläufig behauptet, `dass humorvoll die einzige wahrheitliche Art ist, eine traurige Geschichte zu erzählen.´ Genau das ist es“, rief Frank und hielt den Zeigefinger auf die Textstelle. „Das Besondere an dem Buch ist, dass es ein trauriges Buch ist, das über weite Strecken heiter erzählt wird. Das hat mich an dem Buch am meisten beeindruckt.“

Marcel schüttelte den Kopf und hob die Hände. „Das mag ja alles sein, und ich kann euren Anmerkungen zur Ethik, zur Traurigkeit oder zu der humorvollen Art, diese Traurigkeit zu beschreiben, auch gut nachvollziehen. Aber das sind doch nur einzelne Anmerkungen. Damit werden wir dem Buch doch als Ganzem nicht gerecht.“

„Müssen wir das denn?“ fragte Elke.

„Wenn es geht, ja“, meinte Marcel. „Wir sollten es auf jeden Fall versuchen.“

„Ein hoher Anspruch“, kommentierte Elke. „Ob wir den immer einlösen können? Ich finde es auch schon recht gelungen, wenn das Buch uns veranlasst, miteinander ins Gespräch zu kommen.“

„Klar“, erwiderte Marcel. „Aber noch besser ist, wenn wir dem Buch selbst auf die Spur kommen.“

„Wir fangen ja gerade erste an“, meinte Lothar. „Wir arbeiten daran.“

Schule des Lesens

Подняться наверх