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V

Terézia Mora:

Alle Tage

Bei der nächsten Sitzung war Marcel in angeschlagener Stimmung. Er hatte kleine Teller mit Cevapchichi-Kugeln, Soße und Brot vorbereitet, dazu gab es einen herben Amselfelder, Wasser und Säfte. Sein Deutsch-Leistungskurs hatte ihn bitter enttäuscht, und er hatte erkannt, dass er sich den Rest seines beruflichen Lebens mit einer Mehrheit von Schülern würde herumschlagen müssen, die kaum jemals freiwillig Texte lasen, die länger waren als eine durchschnittliche SMS. Dass Frank ihm erzählte, auf dem Gymnasium wäre es auch nicht viel besser, hatte ihn nicht wirklich trösten können. Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel an seinem Lehrerberuf.

Elke bemerkte es, und es tat ihr leid. Zugleich wunderte sie sich über die Vielfalt der Stimmungen, die jeder von ihnen mit in den Lesekreis brachte. Aber sie konnte auch feststellen, wie zuverlässig Bücher diese Stimmungen zurückdrängten. Denn kaum hatte Marcel den Tisch abgeräumt und sich dem Buch „Alle Tage“ von Terézia Mora zugewandt, hellte sich sein Gesicht auf. Er blätterte hin und her, schüttelte und nickte abwechselnd mit dem Kopf und vertiefte sich in seine schriftlichen Vorbereitungen.

Diesmal versuchten sie sich die Handlung des Buches vor der Diskussion systematischer zu erschließen. Jeder hörte dem anderen so genau zu, wie er konnte, um hier und da Ergänzungen einzubringen. So ergab sich am Ende ein relativ einvernehmlicher Abriss der Handlung.

Im Mittelpunkt des Buches „Alle Tage“ stand Abel Nema, ein junger Mann aus einem nicht näher bezeichneten Land, in dem man unschwer das alte Jugoslawien erkennen konnte. Abel Nema besaß eine ausgeprägte Sprachbegabung, die es ihm erlaubte, zehn Sprachen zu lernen, allerdings war er unfähig sich zu betrinken, zu träumen und zu schmecken. Abels Vater verschwand, als Nema noch zur Schule ging und tauchte nie wieder auf. Mit seinem Jugendfreund Ilja verband ihn eine enge, im Kern homoerotische Beziehung, die aber nicht erwidert wurde. Von Ilja zurückgestoßen, verließ Nema seine Heimatstadt und wurde zum großen Schweiger, der eine Sprache nach der anderen lernte, aber selber immer weniger sprach. Weder Liebe noch Güte, weder Gemeinheit noch Niedertracht schienen an ihm hängenzubleiben, obwohl seine bloße Erscheinung auf die Figuren seiner Umgebung wie ein Katalysator wirkte. Dieser zentrale Charakter wird ergänzt durch eine ganze Galerie schräger Gestalten, die in dem Buch nacheinander ihren Auftritt haben: Konstantin Toti, der Vielredner, Anarchia Kingania, die Frau, die mit jedem schläft und nur Abel bemuttert, die Musiker Janda, Kontra und Andre, mit denen Abel auf eine unmögliche Musiktournee geht, das garstige Zigeunerkind Danko, das seinen Wohltäter ausraubt und viele andere mehr.

Erst in der Mitte des Buches lernt Abel Mercedes kennen, mit der er eine Scheinehe eingeht und von der er sich (Achtung: Zeitebene!) gleich am Anfang des Werkes scheiden lässt, eine Frau, die Abel nur deswegen unglücklich liebt, weil sie ihn an seinen Jugendfreund Ilja erinnert. Beiläufig wird erwähnt, dass Ilja in der Ferne einen schrecklichen Tod erleidet, woraufhin Abel durchdreht und in einer Nervenheilanstalt eingeliefert wird. Dort erscheinen ihm im Zustand des Delirierens alle Gestalten seiner Kindheit und Jugend, einschließlich seines entschwundenen Vaters. Aus dem Delirium aufgewacht und aus der Klinik entlassen, wird Abel von einer Zigeunerbande überfallen, halbtot geschlagen und mit dem Kopf nach unten an einer Stange aufgehangen. Diese Misshandlungen, die er nur mit Glück überlebt, „heilen“ Abel – plötzlich hat er alle Sprachen vergessen, träumt wieder, spürt Geschmacksempfindungen und ist in der Lage, sich auf einem geistig reduzierten Niveau mit seiner Umwelt auseinander setzen zu können.

Soweit der Abriss der Geschichte, die Marcel. Frank und Lothar zusammentrugen, während Elke kopfschüttelnd schwieg. Am Ende blickte sie sich mit großen Augen um und fragte: „Soll das eine Romanhandlung sein?“

„Die Handlung ist doch völlig unwichtig“, gab Frank schroff zurück. „Das Buch lebt nur von der Sprache.“

Marcel stimmte zu, lobte die Sprachkraft der Autorin, ihren abgehackten Erzählrhythmus und ihre Stummelsätze, die dazu führten, dass man die Sätze ungewollt im Kopf vollende, womit man zum Mitautor werde.

„Ja, ja“, rief Frank. „Das erinnert mich an Ulysses, wie überhaupt der in Dublin herumlaufende Bloom viel mit Abel Nema gemein hat. Auch Nema läuft durch die Straßen einer nicht näher gekennzeichneten Stadt, vergisst, wo er wohnt, kommt dauernd zu spät und landet verlässlich nur im Puff, der hier im Buch `Klappstühle´ genannt wird.“

Es folgte ein kurzes Schweigen. Marcel und Frank waren von dem Buch begeistert. Elke konnte mit dem, was die beiden gerade gesagt hatten, überhaupt nichts anfangen.

Lothar räusperte sich. „Komisch“, begann er, „mich interessiert das alles überhaupt nicht. Das Buch sagt mir überhaupt nichts. Zugegeben, die Sprache ist mitunter beachtlich, aber das Buch als Ganzes erzeugt in mir kein Echo.“ Mit einer hilflosen Geste hob Lothar die Hand. „Es fällt mir schwer, mich zu diesem Buch überhaupt in eine Beziehung zu setzen.“

Frank missfiel diese „Echo-Theorie“, ohne dass er zunächst begründen konnte, wieso. „Wenn du mit Echo ein diffuses Gefühl meinst, dann ist mir das zu wenig, wenn du aber mit Echo eine bestimmte prägnante und benennbare Empfindung ansprichst, verstehe ich dich schon eher.“

„Die einzige Empfindung, die dieses Buch bei mir hervorruft, ist der einer literarischen Magenverstimmung“, antwortete Lothar.

„Eigenartiger Vergleich“, sinnierte Marcel. „Können denn nicht Bücher, die uns aufs Krankenlager werfen, auch eine gesunde Immunreaktion hervorrufen?“

„Mag sein“, gab Lothar zu. „Im literarisch-künstlerischen Bereich ziehen wir uns tatsächlich jeden Mist rein, weil wir meinen, unser moralisches Immunsystem komme damit schon zurecht. Bei der Kontrolle des Minderwertigen, das wir gelegentlich essen, sind wir viel klarer, direkter und ehrlicher – was nichts taugt für den Körper, gehört in den Mülleimer.“

„Du willst damit doch wohl nicht sagen, dass dieses Buch in den Mülleimer gehört“, fragte Frank. „So schlecht ist es nun wirklich nicht.“

„Nein, sooo schlecht finde ich es nicht, aber warum es sooo gut sein soll, weiß ich auch nicht.“

„Mir sagt das Buch auch nichts“, schaltete sich Elke ein. „Die Handlung finde ich an den Haaren herbeigezogen, die Vor- und Rückblenden erschweren das Verständnis unnötig, ohne dass sich aus ihnen irgendetwas Wichtiges ergeben würde.“

Marcel trug ein unzufriedenes Gesicht zur Schau, er war offenbar mit diesem sehr weit gehenden Negativurteil nicht einverstanden, wusste aber nicht, wie er Lothar und Elke den besonderen Rang des Werkes vor Augen führen sollte.

„Nun mal im Ernst“, setzte Lothar nach. „Kann man dieses Buch wirklich guten Gewissens einem anderen Leser empfehlen, ohne ihn zugleich zu einem literaturwissenschaftlichen Zusatzstudium zu verdonnern?“

Diese Fragestellung kam Frank verkürzt vor. „Es kann doch durchaus sein, dass man einem Menschen ein Buch empfiehlt und dass dieses Buch auch zu ihm passt, dass er aber objektiv nicht in der Stimmung ist, einen Zugang zum Werk zu finden.“

„Wie bitte?“ Lothar blickte Frank an, als zweifle er an seinem Verstand, was diesem die Zornesröte ins Gesicht trieb.

„Du fragst, warum das Buch gut sein soll“, warf Marcel ein. „Kannst du denn sagen, warum es schlecht sein soll?“

„Schlecht ist vielleicht der falsche Ausdruck“, erwiderte Lothar. „Ich erkenne durchaus, dass das Buch ambitioniert ist und vermute, dass hinter seiner verschachtelten Konstruktion ein Konzept steht, auch wenn ich es sich mir nicht erschließt. Ich meine aber, dass formale Raffinessen wie Zeitsprünge, eine zerhackte Erzählhaltung, eine asynchrone Handlungsführung oder was der Autor auch immer an literarischen Grausamkeiten in seinen Text einführen mag, nicht für sich alleine schon super sind, sondern nur dann, wenn sie auch einen literarischen Ertrag erbringen. Den sehe ich hier einfach nicht. Wenn ich es zugespitzt ausdrücken wollte, bin ich der Autorin ein wenig gram, weil sie mich mit ihrem formalen Apparat plagt, ohne dass ich wirklich einsehe, warum das nötig ist.“

„Gegen dieses Argument, wenn ich es einmal so nennen möchte, ist natürlich jede Literaturkritik machtlos“, gab Marcel zu. „Aber als Argument, wenn ich diesen Begriff nochmal verwende, hat es ungefähr die gleiche Überzeugungskraft wie die Geringschätzung der Malerei durch einen Farbenblinden.“

„Wenn du mich als Blinden bezeichnest, dann habe ich das Gefühl, dass du mitunter ganz schön halluzinierst“, gab Lothar zurück.

„Na, na, nun mal halblang,“ beschwichtigte Frank. „Auch wenn du, Lothar, an dem Buch nichts Großartiges finden kannst, wirst du Marcel und mir ja wohl gestatten, seine Stärken zur Sprache zu bringen, oder?“

„Selbstverständlich. Ich würde es nur gerne verstehen.“

Ohne auf das zuletzt Gesagte einzugehen, schaltete sich Marcel wieder ein. „Ich habe mich gefragt, wer in dem Buch der Erzähler ist.“

„Es gibt in diesem Buch keinen Erzähler“, behauptete Frank. „Die Sprache selbst, die in die Menschen hineinschlüpft, ist der Erzähler, auch wenn sich das jetzt vielleicht ein wenig merkwürdig anhört. Wir haben hier ein Buch mit einer allumfassenden Perspektive vor uns, ein Werk, das den Leser mitten hineinzieht in ein Geschehen, bei dem sich der Leser erst einmal klarmachen muss, in welcher Zeit und aus welcher personalen Perspektive jetzt gerade erzählt würde.“

„Wie passt denn das zum personalen und neutralen Erzähler unserer letzten Sitzung?“ wollte Elke wissen.

„Gar nicht“, antwortete Lothar. „Wir lesen ein Buch ohne wirkliche Erzählperspektive, was eine echte literarische Novität ist – wie etwa ein Auto ohne Lenkrad.“

„Die Erzählhaltung ist das eine“, fuhr Frank fort, ohne auf Lothars ironische Bemerkung einzugehen. „Das andere ist die Stimmung des Buches, eine Stimmung zwischen Apokalypse und Resignation, wie ich sie in dieser Kräftigkeit selten erlebt habe. Da fällt mir sogar eine Stelle ein, die dazu ganz gut passt.“ Frank griff zum Buch, suchte die Stelle und las: “Manchmal verdichten sich, wie Eiter, die Dinge. Die immer etwas merkwürdigen, sogenannten alltäglichen und scheinbar langsamen Prozesse (…) werden plötzlich beschleunigt und kommen außer Takt. Das kann man nicht erklären, sagte eine langjährige Geliebte zu ihrem Schornsteinfeger. (…) Kurz darauf heiratete sie einen, den sie erst wenige Wochen kannte, und der Schornsteinfeger zündete vier Dachstühle und einen Kiosk an.“ Frank klappte das Buch zu und blickte in der Runde umher. „Ist das nicht großartig?“ fragte er. „Wie oft habe ich schon so was erlebt. Alles ist in Butter, und plötzlich steht die Welt auf dem Kopf!“ Frank dachte plötzlich Gisela, seine Frau, mit der er in Scheidung lebte. Wie überraschend mochte für sie seine Liebe zu Karin gekommen sein? Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er morgens die eheliche Wohnung verlassen hatte, als sei alles in Ordnung und an dem er ihr abends gesagt hatte, dass er sie verlassen würde.

„Nun bleib aber wenigstens im Kontext“, mahnte Lothar. „In dem Buch geht es immerhin um ein Land im Bürgerkrieg. Obwohl ich nicht finde, dass der Leser über diesen Bürgerkrieg sonderlich viel erfährt.“

Marcel wiegte den Kopf hin und her, als sei er sich über diese Frage noch nicht im Klaren. „Gut, dass wir auf den Jugoslawienkrieg zu sprechen kommen, der tatsächlich scheinbar keine große Rolle spielt“, begann er. „Aber ist das wirklich so?“ fragte er und kramte einen Gedichtband von Ingeborg Bachmann hervor. Sein Titel war „Die gestundete Zeit“, und in ihm befand sich ein Gedicht mit dem Titel „Alle Tage“.

Marcel hob kurz das Buch in die Höhe, schaute sich um und las das Gedicht vor:

„Der Krieg wird nicht mehr erklärt,

sondern fortgesetzt, das Unerhörte

ist alltäglich geworden. Der Held

bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache

ist in die Feuerzonen gerückt,

die Uniform des Tages ist die Geduld,

die Auszeichnung der armselige Stern

der Hoffnung über dem Herzen.“

Marcel klappte den Gedichtband zu. „Wenn ich eben `scheinbar´ sagte, dann meinte ich das auch so“, kommentierte er das Gedicht. „In Wahrheit ist der Krieg als Hintergrundgeschehen allgegenwärtig, im Gedicht ebenso wie in dem Buch.“

Lothar, Frank und Elke schwiegen. Marcels Ausweitung des Interpretationsrahmens machte Eindruck.

„Und im Mittelpunkt des Geschehens stehen nicht mehr die Helden, sondern die Schwachen, deren Rüstung die Geduld ist“, fügte er hinzu. „DAS ist die Stimmung des Buches, und mir kommt es so vor, als sei Moras Werk die epische Veranschaulichung dieses Gedichtes.“

Elke war beeindruckt. Vieleicht war das Buch doch nicht so schlecht, und man sollte sich wenigstens versuchsweise beteiligen. „Aber ist denn Abel Nema ein Schwacher?“ fragte sie zögerlich. „Er gibt doch unablässig alles, was er hat, an andere Personen, er spricht zehn Sprachen und wird durchaus geliebt. Aber mit Ausnahme von Omar, Mercedes Sohn, liebt er nicht zurück. Er ist verstört, autistisch, selbstlos. Seitdem ihn Ilja zurückgestoßen hat, wandert er durch die Räume und Zeiten und scheint an nichts wirklich Anteil zu nehmen.“

„Er ist nicht schwach sondern autistisch, und Autismus in einer Welt voller Zumutungen kann fast als eine Stärke gelten“, warf Frank. „Das war jetzt etwas ins Unreine gedacht.“

„Wir denken heute die ganze Zeit ins Unreine“, merkte Lothar an. „Aber wenn wir uns schon auf die Figur Abel Nemas einlassen, können wir vielleicht versuchen, sie im Abgleich mit anderen literarischen Gestalten zu verstehen. Frank hat eben Bloom aus `Ulysses´ ins Spiel gebracht. Für mich ähnelt Abel Nema eher Ulrich aus dem `Mann ohne Eigenschaften´, aber er ist ein `Mann ohne Eigenschaften´ mit einem gesteigerten Maß an Autismus in einer von Gewalt und Verderben überschwemmten Zeit.“

„Jetzt willst du eine Figur enträtseln, indem du auf andere literarische Gestalten zurückgreifst, die uns auch noch ein Rätsel sind. Was soll das bringen?“ wunderte sich Marcel. Meinst du das überhaupt ernst?“

„So unergiebig finde ich das nicht“, verteidigte sich Lothar. „Wenn wir uns Figuren wie Abel Nema, Ulrich oder auch Oblomow anschauen, könnte es gelingen, das Besondere in Abgrenzung zu den anderen Gestalten herauszuarbeiten.“

„Ja, in einem germanistischen Oberseminar“, warf Elke ärgerlich ein. „Ihr haut hier derart auf den Putz, dass es staubt, und hinter diesem Staub kann man das Buch schon gar nicht mehr sehen.“

„Da ist was dran“, bestätigte Lothar. „Aber ein wenig auf den germanistischen Putz zu hauen, ist mitunter ganz amüsant, vor allem wenn es an Nonsens grenzt. Ich könnte sogar weitermachen und behaupten, das Buch beinhalte eine Figur ohne Identität in einer Zeit des rasenden Wandels - wozu übrigens auch die chaotische Struktur und Erzählweise des Buches passt. Die wesenlose Hauptfigur und die chaotischen Zeitumstände passen zur zerhackten Erzählhaltung. Wir konstatieren eine Einheit von Inhalt und Form. Taräää!“

„Jetzt staubt es aber nicht mehr sondern es rieselt schon ein wenig“, bemerkte Marcel.

„Aber jetzt im Ernst“, fragte Frank, an Lothar gewandt. „Findest du das Buch nun doch gut?“

„Nein, ich versuche nur aus einer leeren Zahnpastatube noch was herauszuquetschen, “ erwiderte Lothar.

Marcel platzte der Kragen. „Was ist das nur für ein Quatsch? `Auto ohne Lenkrad´ und `Zahnpastatube´“, warf Marcel ein. „Du lässt dich auf dieses Buch überhaupt nicht ein. So kommen wir nicht weiter.“

„Ich habe mich auf das Buch durchaus eingelassen“, entgegnete Lothar. „Aber ich weigere mich, ein Buch nur deswegen gut zu finden, weil es in den Feuilletons über den grünen Klee gelobt wird. Du hast doch auch das Buch von Narayan zerrissen“, fuhr Lothar an Marcel gewandt fort. „Ist mir das denn bei einem andere Buch verboten?“

Frank hob beruhigend die Hände und wiegelte ab. „Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir uns das Ende des Buches einmal ansehen“, schlug er vor. „Wie muss man Abels Ende verstehen? Abel Nema wird zum Krüppel und Debilen geschlagen, scheint aber auf diesem Niveau viel besser zurechtzukommen als vorher.“

„Beschädigung als Zeichen der Erwählung?“ schlug Marcel vor.

„Oder vielleicht ist die Autorin der Ansicht, dass es unmöglich ist, in der Welt als Genie oder als normaler Mensch zu existieren. Man muss einen Gehirndefekt besitzen oder erwerben, um von der Welt nicht verdorben zu werden“, vermutete Frank.

„Ist das jetzt Parodie oder dein Ernst?“ fragte Lothar.

„Du parodierst die ganze Zeit und lässt dich nicht auf das Buch ein. Ich weiß gar nicht was mit dir los ist“, gab Marcel gereizt zurück. „Es ist ja in Ordnung, wenn einem von uns das Buch nicht gefällt, aber dann sollte man es schon begründen können.“

„Begründet habe ich das doch eben schon“, antwortete Lothar. „Aber darüber hinaus würde ich ganz gerne zum Schluss das Buch an seinem eigenen Anspruch messen.“

„Und was ist deiner Ansicht nach der Anspruch des Buches?“ wollte Frank wissen.

Lothar griff zum Buch und schlug eine vorher gekennzeichnete Stelle auf. „An einer Stelle heißt es, ohne dass klar würde, wer es genau sagt: `Von Poesie erwarte ich, dass sie mich in meinem Menschsein erhöht.´“ Lothar blickte seine Partner an. „Und? Fühlen wir uns jetzt erhöht? Oder verwirrt?“

„Das war doch ironisch gemeint“, behauptete Frank. „Wie kannst du das nicht erkennen?“

„Außerdem ist Verwirrung in der Literatur immer eine Vorform der Erhöhung“, erwiderte Marcel.

„Dann waren wir ja heute sehr erfolgreich“, schloss Elke.

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