Читать книгу Das Tour-Tagebuch des frommen Chaoten - Adrian Plass - Страница 10
Donnerstag, 16. September
ОглавлениеMorgen beginnt die Tournee!
Heute Abend kamen alle bei uns zum Kaffee zusammen, um letzte Absprachen zu treffen und Barry mit den anderen bekannt zu machen. Edwin, unser Gemeindeältester, war auch da, sozusagen als Abordnung meiner Unterstützergruppe in der Gemeinde.
War ein bisschen nervös, bevor unser Wohltäter eintraf, und noch nervöser, nachdem er schon eine Weile da war. Fing ernsthaft an, mich zu fragen, ob es nicht doch besser wäre, die ganze Sache mit kleinem Budget durchzuziehen. Ich glaube, die Tatsache, dass er das Ganze finanziert, ist ihm ein bisschen zu Kopf gestiegen. Am Anfang des Abends ging eine Menge Zeit damit drauf, dass Ingstone uns Vorträge darüber hielt, wie wir leben, denken und fühlen sollten, natürlich untermauert von einer Vielzahl von Versen aus einem verwirrenden Arsenal biblischer Bücher.
Angels starrte ihn an, als käme er vom Mars. Edwin machte ein leicht verwundertes Gesicht. Anne kniff die Lippen zusammen und atmete durch die Nase. Leonard bekam solche Kulleraugen, dass er tatsächlich einem Marsianer zum Verwechseln ähnlich sah. Gerald sagte lange Zeit überhaupt nichts. Eigentlich machte er kaum den Mund auf, bis Ingstone, der vielleicht merkte, dass er das ganze Gespräch allein bestritt, in seinem bibelkundlichen Vortrag lange genug innehielt, um Gerald zu fragen, wie denn die Dinge in seiner Gemeinde stünden.
Spürte, wie sich mein Nacken spannte, als Gerald anfing, in jenem bierernsten Tonfall zu sprechen, der, wie Anne und ich nur zu gut wissen, meistens bedeutet, dass er vorhat, absoluten Blödsinn zu reden.
»Tja, nun, Barry, in unserer Gemeinde liegt einer der großen Parks von London«, sagte er, »sodass wir eine Menge mit Leuten zu tun haben, die – nun ja, Sie wissen schon.«
»Mit Leuten, die … ?«
Gerald blies die Backen auf, hielt sich eine Hand zu einer Schale geformt einige Zentimeter vors Gesicht und ballte dann die andere zur Faust, streckte den Arm aus, so weit es ging, um ihn dann wieder zurückzuziehen.
»Verstehen Sie …«
Barry machte Augen, so groß wie Tortenplatten.
»Oh – Sie meinen Leute, die …«
»Genau.«
»Ach, solche Leute meinen Sie.«
»Ja, so ist es – Leute, die im Leben keine wirkliche Erfüllung finden ohne regelmäßige Gelegenheiten, wahllos zu einem Blasinstrument zu greifen.«
»Ohne …«
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist, Barry, aber Untersuchungen zeigen, dass mindestens jeder fünfundzwanzigste Mann und ein unbekannter Prozentsatz der Frauen ein irgendwie geartetes Blasinstrument besitzt. Man stelle sich das vor. Die meisten verstecken es natürlich irgendwo. So sehr haben sich die Zeiten noch nicht geändert. Es gibt immer noch eine Menge Intoleranz. Manchmal sind ganze Familien außer sich vor Staunen, wenn sie entdecken, dass der Vater, Bruder, Sohn oder Großvater, den sie doch so gut zu kennen glaubten, seit Jahren ein Waldhorn, ein Flügelhorn oder vielleicht sogar eine Tuba in seinem Schrank versteckt hält.«
»Ein Flügelhorn …«
»Und die Grünanlage in der Nähe unserer Gemeinde ist der Ort, den solche Leute aufsuchen, um andere zu finden, die dieselben – nun, dieselben Bedürfnisse und Probleme haben.«
»Tatsächlich?!«
»Oh ja. Wenn man an einem späten Sommerabend nach Einbruch der Dunkelheit dort entlanggeht, hört man es allenthalben im Unterholz und in den Büschen rascheln. Man erhascht Blicke auf undeutliche Gestalten, die von Schatten zu Schatten huschen, jeder ein irgendwie geartetes Blasinstrument in der Hand, in der Hoffnung, jemanden mit ähnlichen Neigungen zu finden, der zu einem flüchtigen Duett in einer dunklen Ecke bereit ist, ohne groß auf die Pauke zu hauen – was ja auch mit Blasinstrumenten nicht geht, nicht wahr? Das funktioniert so: Sagen wir, ein Mann mit einem Tenorfagott trifft hinter einem Baum einen anderen mit einer Tuba. Man flüstert sich nur ein paar Worte zur Begrüßung zu und einigt sich auf eine Tonart, und ehe man sich versieht, haben sie den Radetzky-Marsch angestimmt. Ein paar Minuten später ist alles vorbei. Beide huschen im Schutz der Dunkelheit davon und werden sich vermutlich nie wiedersehen. Denn leider, Barry, ist es nur die kurzfristige Harmonie, auf die sie aus sind, nicht irgendein längerfristiges musikalisches Engagement. Wenn man um Mitternacht dort entlanggeht, hört man in manchen Nächten von überall her kurze musikalische Ausbrüche. Ist es nicht ein Segen, Barry, dass wir wissen, wie wir als Christen solchen Menschen begegnen müssen?«
Barry schien von Geralds todernster Miene völlig hypnotisiert zu sein.
»Wissen wir das? Ich meine – ja, ja, natürlich wissen wir das. Ich meine – wie meinen Sie das?«
»Ach, das wissen Sie doch so gut wie ich, Barry. Wir hassen die Posaune, aber wir lieben den Posaunisten, ist es nicht so?«
»Lieben den Posaunisten …«, wiederholte Ingstone benommen.
»Mir persönlich fällt das nicht leicht«, fuhr Gerald fort. »Ich habe mit einem tiefen inneren Abscheu gegen solche wahllos herummusizierenden Leute zu kämpfen. Es würde mir viel leichter fallen, wenn sie schwul wären. Finden Sie nicht auch?«
Barry war buchstäblich sprachlos. War nicht das erste Mal, dass Gerald diese Wirkung auf jemanden hatte. Er trägt derartigen höheren Blödsinn mit solch fließender Ernsthaftigkeit vor, dass ein argloser Zuhörer in eine Art Trance geraten kann und sich erst einmal in Gedanken auseinanderklamüsern muss, was er da eigentlich gerade gehört hat, bevor er das Risiko auf sich nimmt, eine Antwort zu geben. So war es auch heute Abend bei Barry. Ich glaube nicht, dass er damit auf die Dauer unterzukriegen ist, aber zumindest hat es ihm für den Rest des Abends die Sprache verschlagen.
Danach gab es noch lebhafte Diskussionen über die Tournee. Angels ist sichtlich nervös, aber auch begeistert. Leonard kann sich immer noch nicht einkriegen darüber, dass er eine ganze Woche lang mit seiner Liebsten zusammen sein kann, wo er doch damit gerechnet hatte, sie während dieser Zeit überhaupt nicht zu sehen.
Edwin sprach ein Gebet für die Tournee, aber nur ein kurzes. Ich glaube, er merkte, dass die arme Angels schon von Ingstone eine ziemliche Überdosis abbekommen hatte. Anne flüsterte mir zu, sie werde Angels irgendwann morgen mal auf die Seite nehmen und ihr erklären, dass Barry nicht gerade dem platonischen Ideal eines christlichen Mannes entspreche.
Gegen Ende des Abends sagte Edwin mit einem leisen Lächeln um die Mundwinkel: »Und, Gerald, was hast du sonst noch getrieben außer deinem unschätzbar wertvollen Dienst unter einsamen Musikern?«
»Ach, ich bin immer noch dabei, mich in die Gemeinde hineinzufinden«, sagte Gerald. »Inzwischen ist es gar nicht so übel, aber als ich ankam, musste ich mich erst mal mit dem einen oder anderen herumschlagen, der mir immerzu sagte, wie wunderbar doch mein Vorgänger gewesen sei und dass sie so jemanden sicherlich nie wieder finden würden. Freilich betonten diese Verehrer des vorigen Vikars stets, ich sei ihnen trotzdem sehr willkommen, auch wenn ich nur ein jämmerlich minderwertiger Ersatz sei. Weißt du, der Typ vor mir scheint so eine Art Kreuzung zwischen Billy Graham und Popeye gewesen zu sein – mit einem Schuss Cary Grant dabei, wenn man die älteren Damen in der Gemeinde so hört. Ich war anfangs richtig eingeschüchtert.«
»Aber jetzt kommst du gut zurecht, nicht wahr?«, fragte Anne.
»Na ja, ich habe einige Zeit im Gebet verbracht«, erwiderte Gerald, »und Gott hat mir eine Eingebung geschenkt – eine Möglichkeit, in der Gemeinde den Durchbruch zu schaffen.«
Barry nickte beifällig. Jetzt sprach Gerald seine Sprache.
»Und in welcher Form wurde die Antwort auf Ihr Gebet offenbar?«, erkundigte er sich.
»Ach«, sagte Gerald, »das war eigentlich sehr interessant. Sie kam in Form von – wie wär’s, wollen Sie nicht mal raten? Kommen Sie – raten Sie mal!«
»Ich stelle mir vor«, versuchte es Barry, »dass der Herr Ihr Augenmerk auf ein inspiriertes Wort der Schrift lenkte, mit dem Sie die Herzen und Gedanken der Anwesenden erreichen und sie davon überzeugen konnten, dass ein neuer Morgen am Horizont ihrer geistlichen Wahrnehmung im Anbruch war.«
»Nun ja, das hört sich sehr beeindruckend an«, sagte Gerald, »aber eigentlich waren es bloß Kräppel.«
»Oh, lecker!«, rief Angels.
»Ja, ich habe eine Riesenladung gefüllte Kräppel gekauft und sie nach dem Gottesdienst am Sonntag mit den Getränken verteilt. Das hat offenbar gewirkt.«
Edwin lehnte sich lachend in seinem Sessel zurück und klatschte in die Hände.
»Welch ein Vorrecht ist es für uns«, schmunzelte er, »einem Gott dienen zu dürfen, der Gebete mit Kräppeln beantwortet. Finden Sie nicht auch, Barry?«
»Äh, ja«, sagte Barry mit zweifelnd gerunzelter Stirn, »ja, das ist es wohl.«
»Eigentlich«, sagte Gerald, »hatte ich bloß einen einzigen Kräppel, aber den habe ich gesegnet und er schien für alle zu reichen. War natürlich billiger so.«
»Das war ein Scherz, Barry«, sagte Anne.
»Ach so, verstehe«, erwiderte Barry.
Hoffe sehr, dass Barry am Ende dieser Woche nicht den Eindruck hat, sein Geld zum Fenster hinausgeschmissen zu haben.
Wir werden sehen.