Читать книгу Darky Green - Adrian Plass - Страница 13
ОглавлениеSAMSTAG
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Darky Greens erster Gedanke, als er am Samstagmorgen vom schrillen Pulsieren seines Weckers erwachte, war sein Plan. Wie immer hatte er einen Plan für den Tag. Fünf Dinge waren zu tun. In die Stadt gehen, Friseur, Frühstück, Bausparkasse, Brautschau. Das waren die Punkte auf seiner Liste, die er sich gestern Abend säuberlich auf einem Blatt Papier notiert hatte, das nun seinen genau zugewiesenen Platz auf dem Tisch neben seinem Bett belegte. Bis auf die letzte war bei all diesen Aktivitäten das kleine Goldkörnchen einer Belohnung abzusehen, das sie mit sich bringen würden. Mit der Brautschau war das etwas anderes. Die Brautschau konnte einen unerwarteten Verlauf nehmen oder in eine ungewohnte Richtung führen, doch Darky hatte eine Menge Geld dafür ausgegeben, um in diesem Bereich eine, wie er fand, sehr wertvolle Grundlage zu legen. Es würde schon gut gehen. Geld und Macht waren die weichen, rettenden Kissen, auf die er sein Haupt legte, wenn die Ereignisse ihm das Selbstvertrauen auszusaugen drohten. Es würde gut gehen. Heutzutage ging es erstaunlicherweise fast immer gut.
Aber erst einmal hieß es aufstehen. Routine. In Darky Greens persönlichen Gewohnheiten herrschte eine strenge Ordnung. Das lag daran, dass er in so vielen Heimen und Sonderschulen gewesen war. Newlands zum Beispiel. Da hatte man um sein Bett herum seinen eigenen Bereich. Einen eigenen Kleiderschrank, sein eigenes Waschzeug. Eigene Bilder und Fotos, die man mit Reißzwecken an seinem eigenen Stück Wand befestigen durfte. Eigene Sachen im eigenen Regal. Eigenen Platz unter dem Bett für den Koffer, den man brauchen würde, wenn man wieder weiterzog. Das alles musste in Ordnung gehalten werden, sonst verlor man gewisse Privilegien, wenn Dan oder Mike oder Mr. Tennant oder June oder wer auch immer gerade Dienst hatte, am Morgen die Runde machte und die Zimmer inspizierte. Und Darky hatte es sowieso gerne ordentlich. Sobald man Unordnung zuließ, konnte das bedeuten, dass die Erinnerungen wiederkamen. Das heißt, eigentlich stimmte das so nicht. Es waren eigentlich gar keine Erinnerungen. Na ja, eigentlich schon, aber es waren Erinnerungen an Dinge, die er gefühlt hatte, keine klaren Bilder von Dingen, die tatsächlich passiert waren. Heilloses, panisches Entsetzen. Eine tiefe, atemlose Angst, dass niemand je wiederkommen würde. Hunger. Brennender Durst. Schmerzende, kalte Beine. Ein säuerlicher, durchdringender Geruch. Ein hölzern klapperndes Geräusch in der Dunkelheit.
Die dicke, orangefarbene Mappe, auf der sein richtiger Name stand, Richard Verne Green, hatte Darky nie gesehen. Seit er anderthalb Jahre alt gewesen war, bis zu dem Tag, als er mit achtzehn die Fürsorge verließ, war dieses Dossier von Leuten geführt worden, die fürs Jugendamt arbeiteten. Seine einzige Erinnerung daran, wie jemand sie erwähnt hatte, rief ein solches Gefühl der Demütigung in ihm hervor, eine solch glühende Hitze in seinen Wangen, dass er selbst jetzt noch, fünfzehn Jahre später, eine Melodie summen, sich die Haare kämmen oder sein Geld zählen musste, wann immer diese Erinnerung in ihm aufstieg. Eines Tages hatte Mike Sands, einer der Betreuer in Newlands, vor Darkys Ohren erwähnt, dass es für alle Kinder in dem Heim ein Dossier im Büro gab.
Das Büro kannte der zehnjährige Darky. Dort hatte er geweint, als er hergekommen war, weil er Mr. und Mrs. Bishop vermisste, obwohl er sie eigentlich gehasst hatte. Es war ein Ort, wo man eine andere Art von Gelächter von den Mitarbeitern hören konnte, wenn sie dort drinnen zusammensaßen und Bier tranken, das einer von ihnen aus der Kneipe holte, sobald die Kinder im Bett waren. Dort gab es einen Schreibtisch und ein Telefon und ein Anschlagbrett und scheppernde Metallschränke, vollgestopft mit Papieren. Außerdem war das Büro der Ort, wo der Sozialarbeiter, der für einen zuständig war, immer verschwand, wenn er zu Besuch kam, um sich mit den Newlands-Mitarbeitern über Dinge zu unterhalten, die man nicht hören durfte, obwohl klar war, dass sie sich nur um ihn drehen konnten. Er hasste das. Was war ein Dossier? Seine undeutliche Vorstellung war, dass es vielleicht ein Behälter sein könnte, so eine Art Dose. Vielleicht war eine Schublade in dem Büro voller Dosen, für jedes Kind eine. Warum? Darky fragte Mike, was ein Dossier sei.
»Ihr habt alle eines«, erklärte Mike. »Alle Kinder müssen ein Dossier haben.«
Verständnisloser Blick.
»Das ist ein Bericht über die wichtigsten Dinge, die mit dir passiert sind, und alles, was du getan hast, seit du klein warst. Alles auf Papier aufgeschrieben, in so einer Art großem Pappumschlag. Warum?«
»Ach, nichts«, sagte Darky.
Den ganzen nächsten Vormittag und Nachmittag musste Darky über dieses Dossier nachdenken. Damals hatte er nur ein oder zwei ganz kleine Ruhekissen. Das eine war seine Schwimmurkunde. Als er acht war, hatte er eine Urkunde dafür bekommen, dass er einmal quer durchs Becken geschwommen war. Wenn jemand ihm diese Urkunde geben würde, dann könnte er sie neben seinem Bett an die Wand hängen und anschauen. Das würde ihm gefallen. Sie musste in seinem Dossier sein. Mike hatte ganz klar gesagt, dass darin all die wichtigsten Sachen waren. Was könnte wichtiger sein als das Einzige, wofür er je einen Preis bekommen hatte? Als Mike nach dem Tee seinen Dienst antrat, fragte Darky ihn höflich, ob es ihm etwas ausmachen würde, ihm seine Schwimmurkunde aus seinem Dossier zu holen, damit er sie sich an die Wand hängen könnte. Mike starrte ihn einen Moment lang an und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Witzbold«, sagte er, »dafür sind doch Dossiers nicht da. Darin stehen die Orte, wo du gewohnt hast, und was dort passiert ist. Namen und Adressen. Was schiefgegangen ist, was gut gelaufen ist und so. Verstehst du? Eine Schwimmurkunde ist da nicht zu finden, fürchte ich.«
Darkys Wangen brannten so heiß, dass er dachte, er würde Feuer fangen. Als er später in dem Korridor herumlungerte, der hinunter zu den Schlafräumen führte, hatte er mitangehört, wie Mike im Büro lachend Mr. Tennant davon erzählte, wie Darky nach der Schwimmurkunde in seinem Dossier gefragt hatte.
Mr. Tennant lachte auch, wenn auch nicht so laut wie Mike, und sagte: »Bizarres kleines Geschöpf, was?«
Darky hatte keine Ahnung, was bizarr war. Er wollte es auch nicht wissen. Er brauchte es nicht zu wissen.
Hätte man ihm je erlaubt zu lesen, was tatsächlich in seinem Dossier stand, so hätte Darky vielleicht angefangen, jene dunklen, schwierigen Halberinnerungen zu verstehen, die in ihn hineinrauschten wie Gespenster, um sich in den Lücken einzunisten, die durch Unordnung und emotionale Nachlässigkeit entstanden. Die ersten Seiten des Dossiers schilderten, wie er als Krabbelkind den größten Teil jedes Tages in seinem wackeligen kleinen Kinderbettchen zubrachte, ohne Windelwechsel und ohne Essen, sich an dem hölzernen Seitengitter festhielt und mit beiden Händen daran rüttelte und unter Tränen die Rückkehr seiner jungen redegewandten, aber überforderten alleinstehenden Mutter von ihren eigene Lücken füllenden Aktivitäten herbeisehnte, damit sie sich um ihn kümmerte. Mit achtzehn Monaten war Darky in die Fürsorge und zu dem ersten von etlichen Pflegeelternpaaren gekommen, die alle großes Mitleid empfunden hatten, als sie von seinen bisherigen Lebensumständen hörten, aber letzten Endes keine Zuneigung zu der merkwürdigen kleinen Persönlichkeit, die diese Umstände hervorgebracht hatten, zu entwickeln vermochten.
Seine Mutter sah er nie mehr wieder. Eine Weile lang hatte er oft an sie gedacht, während er heranwuchs. Sie war geradezu der Inhalt aller seiner Hoffnungen und Träume. Wenn er nachts wach lag, war er manchmal ganz sicher, dass er sah, wie sie ihm aus der Dunkelheit zulächelte, drei Handbreit über dem Fußende seines Bettes. Sie hatte das Gesicht eines Engels, getrübt nur vom Kummer darüber, von ihrem Sohn getrennt zu sein. Sie liebte und vermisste ihn. Irgendetwas, irgendjemand hielt sie immer davon ab, zu kommen und ihn zu holen. Eines Tages würde sie ganz sicher auftauchen und ihren kleinen Jungen finden, und dann würde sie ihn mit sich nach Hause nehmen und alles würde wieder gut sein. Dies geschah freilich nie und mit den Jahren verwandelte sich die Sehnsucht in Darky in Zorn und Ablehnung. Verschiedene Pflegeeltern und Fürsorgemitarbeiter hatten ihm den gleichen Trost angeboten. Seine Mutter hatte ihn geliebt, aber sie war zu jung gewesen, um sich richtig um ihn kümmern zu können. Blödsinn. Wenn sie sich je um ihn geschert hätte, wäre er jetzt bei ihr. Er wollte sie nie wiedersehen. Und damit hatte es sich.