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Mr und Mrs Beresford frühstückten. Zur gleichen Zeit saßen Hunderte ganz ähnliche ältere Ehepaare in England beim Frühstück. Auch der Tag war so normal wie jeder andere: Es sah aus, als regnete es gleich, aber man konnte nicht ganz sicher sein.

Mr Beresford war früher rothaarig gewesen. Seine Haare hatten jedoch, wie bei vielen Rothaarigen, im Laufe der Jahre ein rötliches Graublond angenommen. Mrs Beresford, die einstmals eine krausgelockte schwarze Mähne gehabt hatte, trug nun willkürlich angeordnete graue Strähnen zwischen dem Schwarz, was apart und hübsch aussah. Früher hatte sie einmal daran gedacht, sich die Haare zu färben, aber dann fand sie doch, dass sie sich so gefiel, wie die Natur es gewollt hatte.

Ein älteres Ehepaar saß beim Frühstück. Ein nettes, aber keineswegs ausgefallenes Ehepaar. Jeder Beobachter hätte das festgestellt. Wäre er jung gewesen, hätte er vielleicht noch hinzugefügt: »Ja, sehr nett, aber natürlich schrecklich langweilig. Wie alle alten Leute.«

Mr und Mrs Beresford allerdings hielten sich ganz und gar nicht für alt. Und sie ahnten auch nicht, dass sie und viele ihrer Altersgenossen als »schrecklich langweilig« abgetan wurden, nur weil sie nicht mehr jung waren. Natürlich sagten so etwas nur die Jungen. Die Beresfords hätten dazu nachsichtig festgestellt, dass junge Leute das Leben eben nicht kannten. Arme junge Leute! Ewig hatten sie mit den Examen oder ihrem Liebesleben Sorgen. Mr und Mrs Beresford hatten ihrer Meinung nach soeben erst den Höhepunkt des Lebens überschritten. Sie waren mit sich zufrieden, hatten einander sehr gern und verbrachten ihre Tage friedlich und angenehm.

Es gab natürlich Augenblicke … Aber bei wem gibt es die nicht? Mr Beresford öffnete einen Brief, überflog ihn und legte ihn auf den kleinen Stapel links neben sich. Er griff nach dem nächsten Brief, um ihn zu öffnen, aber dann behielt er ihn einfach in der Hand. Er sah nicht auf den Brief, sondern auf den Ständer mit Toast. Seine Frau betrachtete ihn eine Weile und fragte dann: »Was ist los, Tommy?«

»Was los ist?«, fragte Tommy vage. »Was ist los?«

»Das habe ich dich eben gefragt.«

»Gar nichts ist. Was sollte denn sein?«

»Du hast an etwas gedacht«, sagte Tuppence Beresford vorwurfsvoll.

»Ich glaube, ich habe gar nichts gedacht.«

»Doch. Du hast. Ist etwas passiert?«

»Aber nein. Was soll denn passiert sein?« Dann fügte er hinzu: »Ich habe die Rechnung vom Klempner.«

»Aha«, sagte Tuppence verständnisvoll, »sie ist höher, als du gedacht hast, nicht wahr?«

»Natürlich«, bestätigte Tommy. »Das ist sie immer.«

»Warum sind wir eigentlich nicht Klempner geworden? Wenn du der Chef wärst, könnte ich als dein Gehilfe gehen, und wir würden das Geld nur so scheffeln.«

»Ja, wenn wir das früher gewusst hätten!«

»War das eben die Klempnerrechnung, die du in der Hand hattest?«

»Nein. Das war nur mal wieder eine Aufforderung, Geld zu spenden.«

»Wofür? Schwer erziehbare Jugendliche oder Rassenintegration?«

»Nein. Für ein Altersheim.«

»Na, das finde ich schon vernünftiger«, sagte Tuppence, »aber ich verstehe nicht, warum du deshalb so ein besorgtes Gesicht machen musst.«

»Oh, an die Spende hab ich doch gar nicht gedacht.«

»An was hast du denn gedacht?«

»Dadurch bin ich wahrscheinlich drauf gekommen«, sagte Mr Beresford.

»Auf was? Stell dich nicht so an. Du erzählst es mir ja doch.«

»Ach, es war gar nicht wichtig. Ich hab nur an Tante Ada gedacht.«

»Ach so«, sagte Tuppence, der plötzlich alles klar wurde. »Ja«, fügte sie nachdenklich hinzu, »Tante Ada.«

Ihre Blicke begegneten sich. Leider gibt es heutzutage in fast jeder Familie ein Problem, das man »Tante Ada« nennen könnte. Die Namen unterscheiden sich, und statt Tanten könnten es Großmütter, ältere Kusinen oder Großtanten sein. Aber es gibt sie, und man muss sich mit ihnen befassen. Man muss nach einem geeigneten Heim suchen und es besichtigen. Man muss Empfehlungen von Ärzten einholen oder von Freunden, die eigene »Tanten Adas« haben, die »zufrieden und glücklich bis zu ihrem Tode« in »Haus Frieden« oder im »Wiesenheim« gelebt haben.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Tante Elizabeth und Tante Ada und alle anderen im eigenen Haus lebten und von treuen, manchmal tyrannischen alten Dienstboten betreut wurden. Die Tanten Adas von heute müssen versorgt werden, weil sie wegen Arthritis oder Rheuma möglicherweise die Treppe hinunterfallen könnten, wenn sie allein im Haus sind, weil sie an chronischer Bronchitis leiden, weil sie mit den Nachbarn Streit anfangen oder die Geschäftsleute beleidigen.

Tuppence Beresfords eigene Tante – Großtante Primrose – war eine solche Kämpfernatur gewesen. Nichts passte ihr. Kaum war sie in ein Heim eingezogen, das älteren Damen einen angenehmen und komfortablen Aufenthalt versprach, und hatte der Nichte einige lobende Briefe über diese Institution geschrieben, kam schon die Nachricht, dass sie Knall und Fall abgereist sei. »Unmöglich! Nicht eine Minute länger hätte ich es ausgehalten!«

Innerhalb eines Jahres hatte Tante Primrose elf Heime bezogen und wieder verlassen; dann schrieb sie, dass sie einen reizenden jungen Mann kennengelernt hätte. »Er ist wirklich ein sehr anhänglicher Junge. Er hat schon als Kind die Mutter verloren und braucht jemand, der sich um ihn kümmert. Ich habe eine Wohnung gemietet. Er wird zu mir ziehen. Das ist für uns beide die ideale Lösung. Es ist eine echte Wahlverwandtschaft. Liebe Prudence, du brauchst dir um mich keine Sorgen mehr zu machen. Morgen gehe ich zu meinem Anwalt, da ich ja für Mervyn Vorsorge treffen muss, falls ich, womit natürlich normalerweise zu rechnen ist, vor ihm das Zeitliche segne. Allerdings muss ich dir sagen, dass ich mich noch nie so wohlgefühlt habe.«

Tuppence war damals sofort nach Aberdeen gereist. Aber die Polizei war ihr bereits zuvorgekommen und hatte den prachtvollen Mervyn entfernt, der schon lange gesucht wurde, weil er sich unter falschen Vorwänden Geld erschwindelt hatte. Tante Primrose war wütend und redete von Polizeistaat. Als sie aber zur Gerichtsverhandlung musste – wo fünfundzwanzig ältere Freundinnen von Mervyn auftraten –, änderte sie notgedrungen ihre Meinung über ihren Schützling.

»Ich glaube, Tuppence, ich sollte Tante Ada besuchen«, sagte Tommy. »Ich war lange nicht bei ihr.«

»Ja«, sagte Tuppence nicht sehr begeistert. »Wie lange ist es her?«

Tommy überlegte. »Fast ein Jahr.«

»Länger. Ich glaube, es war vor über einem Jahr.«

»Mein Gott!« Tommy seufzte. »Die Zeit vergeht zu schnell. Schrecklich, wie man alles vergisst. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen.«

»Das brauchst du nicht«, sagte Tuppence. »Wir schicken ihr Päckchen und schreiben Briefe.«

»Ja, schon. Du bist immer so zuverlässig, Tuppence, aber trotzdem: Manchmal liest man Schreckliches über solche Heime.«

»Ach, du denkst an das scheußliche Buch aus der Bibliothek, in dem die armen alten Frauen so gelitten haben.«

»Es soll sich um einen tatsächlichen Vorfall handeln.«

»Ja. Vielleicht gibt es wirklich solche Häuser. Und es gibt immer Menschen, die unglücklich sind, weil sie gar nicht anders können. Aber was sollten wir denn sonst tun, Tommy?«

»Nichts. Man kann nur so vorsichtig wie möglich sein. Man muss sich das Haus genau ansehen, sich genau erkundigen und dafür sorgen, dass ein guter Arzt da ist.«

»Aber einen besseren Arzt als Dr Murray kann sie gar nicht haben.«

»Ja.« Tommys besorgtes Gesicht hellte sich wieder auf. »Murray ist wirklich ausgezeichnet. Er ist freundlich und geduldig. Und wenn etwas wäre, hätte er uns sofort benachrichtigt.«

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen«, sagte Tuppence. »Wie alt ist sie jetzt eigentlich?«

»Zweiundachtzig, nein, dreiundachtzig. Es muss doch schrecklich sein, wenn man alle anderen überlebt.«

»Deine Tante Ada findet das nicht schrecklich. Weißt du nicht mehr, mit welchem Genuss sie alle Freunde aufgezählt hat, die schon gestorben sind? Am Ende sagte sie: ›Und Amy Morgan soll höchstens noch ein halbes Jahr haben. Dabei hat sie immer gesagt, ich sei so zart. Und jetzt ist es beinahe sicher, dass ich sie überleben werde.‹ Triumphiert hat sie!«

»Na ja …«

»Ich weiß«, sagte Tuppence. »Du hast das Gefühl, dass es deine Pflicht ist. Deshalb solltest du auch zu ihr fahren. Und ich komme mit.« Ihre Stimme bekam einen heroischen Tonfall.

»Nein«, wehrte Tommy ab. »Warum solltest du das? Sie ist nicht deine Tante. Nein, ich fahre allein.«

»Und ich komme doch mit. Ich leide mit dir. Lass uns zusammen leiden. Dir macht es keinen Spaß; mir macht es keinen Spaß; und ich glaube nicht einen Augenblick, dass es Tante Ada Spaß machen wird. Aber was sein muss, muss sein.«

»Erinnere dich doch nur, wie ekelhaft sie beim letzten Mal zu dir war.«

»Ach, das hat mir nichts ausgemacht«, erklärte Tuppence. »Das war wahrscheinlich das Einzige an dem ganzen Besuch, was dem guten Tantchen Freude gemacht hat. Ich nehme ihr das kein bisschen übel.«

»Du bist immer nett zu ihr gewesen«, sagte Tommy, »obwohl du sie nicht besonders magst.«

»Tante Ada kann man nicht mögen«, stellte Tuppence fest. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand sie je gemocht hat.«

»Ach, ich komme einfach nicht gegen das Mitleid an, das ich mit alten Leuten habe.«

»Ich schon«, sagte Tuppence. »Ich meine, wenn jemand nett ist, tut es mir leid, wenn er alt und krank wird. Aber wenn du schon mit zwanzig biestig bist und mit vierzig auch noch, und mit sechzig bist du noch viel biestiger, und mit achtzig bist du ein ausgekochter alter Teufel – dann weiß ich wirklich nicht, warum ich mit dir Mitleid haben sollte.«

»Ja, schon gut«, sagte Tommy. »Sei ruhig realistisch. Aber wenn du auch noch edel sein und mitkommen willst …«

»Ich will. Schließlich habe ich dich geheiratet, um Freud und Leid mit dir zu teilen. Tante Ada fällt unter Leid. Ich werde ihr Hand in Hand mit dir entgegentreten. Wir bringen ihr einen Blumenstrauß und weiche Pralinen und ein paar Zeitschriften mit. Und du schreibst am besten dieser Miss Sowieso eine Karte und kündigst uns an.«

»Nächste Woche? Wie wäre es mit Dienstag?«

»Also Dienstag. Wie heißt die Frau nur? Ich komme nicht auf den Namen – die Domina oder Leiterin oder wie sie sich nennt. Der Name fängt mit P an.«

»Miss Packard.«

»Ja.«

»Vielleicht wird es diesmal anders«, sagte Tommy.

»Anders? Wie anders?«

»Keine Ahnung. Vielleicht passiert was Interessantes.«

»Unser Zug könnte verunglücken«, schlug Tuppence schon etwas fröhlicher vor.

»Warum, um alles in der Welt, willst du bei einem Zugunglück dabei sein?«

»Natürlich will ich das nicht im Ernst. Es war nur …«

»Was?«

»Na, das wäre ein Abenteuer, nicht? Vielleicht könnten wir Leute retten und etwas Nützliches tun. Auf jeden Fall wäre es aufregend.«

»Was für herrliche Aussichten!« rief Tommy.

»Ja, ich weiß«, gab Tuppence zu. »Aber so etwas denke ich mir eben manchmal aus.«

Lauter reizende alte Damen

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