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Es hat sich nichts verändert«, sagte Tuppence.

Sie standen auf der Treppe von Haus Sonnenhügel.

»Was sollte sich auch verändern?«, fragte Tommy.

»Ich weiß nicht. Ich hab mir eingebildet, es müsste anders sein – wegen der Zeit, weißt du. Die Zeit vergeht nicht überall gleich schnell. Zu manchen Orten kehrt man zurück und erwartet, dass furchtbar viel geschehen ist. Aber hier … Hier ist überhaupt nichts passiert. Hier hat die Zeit stillgestanden. Hier ist alles wie immer.«

»Willst du hier den ganzen Tag stehen bleiben und über die Zeit philosophieren? – Tante Ada ist nicht mehr hier, das hat sich verändert.« Tommy klingelte entschlossen.

»Ja, das ist wohl das Einzige. Meine alte Dame wird ihre Milch trinken und von Kaminen reden; und Mrs Soundso wird einen Fingerhut oder einen Teelöffel verschluckt haben; und eine komische kleine Frau wird aus einem Zimmer herausstürzen und Kakao verlangen; und Miss Packard wird die Treppe herunterkommen und …«

Die Tür öffnete sich. Eine junge Frau in einem Nylonkittel sagte: »Mr und Mrs Beresford? Miss Packard erwartet Sie.«

Die junge Frau wollte sie gerade wieder in das Wohnzimmer führen, als Miss Packard die Treppe herunterkam und sie begrüßte. Sie sprach – entsprechend den Umständen – in gemessenem Trauertonfall; allerdings hielt sich die Trauer in Grenzen. Miss Packard dosierte ihr Mitgefühl sehr geschickt.

»Und wenn es hoch kommt, siebzig Jahre.« Das war die Spanne Zeit, die die Bibel nannte, und die Todesfälle in ihrem Haus traten selten früher ein. Man musste mit ihnen rechnen, und sie ereigneten sich.

»Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten, denn ich habe, um ehrlich zu sein, schon drei oder vier Anwärter auf einen freien Platz. Sie verstehen das sicher und glauben nicht, dass ich Sie drängen wollte.«

»Aber natürlich, wir verstehen das sehr gut«, sagte Tommy.

»Es ist alles noch an seinem Platz.«

Miss Packard öffnete die Tür des Zimmers, in dem sie Tante Ada zum letzten Mal gesehen hatten. Es sah so unbewohnt aus wie alle Zimmer, in denen ein Bett mit einem Überzug zugedeckt ist, unter dem man sauber gefaltete Decken und aufgestapelte Kissen erkennen kann.

Die Schranktür stand offen; die Kleider waren ordentlich auf dem Bett ausgelegt.

»Was tun Sie gewöhnlich – ich meine, was geschieht normalerweise mit den Kleidern und der Wäsche?«

Miss Packard war so hilfsbereit und bewandert, wie man es von ihr erwartete. »Ich kann Ihnen die Adresse von Wohlfahrtsorganisationen geben, Mrs Beresford, die abgelegte Kleidungsstücke nur zu gern nehmen. Ihre Tante hatte eine sehr schöne Pelzstola und einen Mantel aus gutem Stoff. Ihren Schmuck hatte ich an mich genommen und eingeschlossen. Ich habe ihn jetzt in die rechte Schublade des Toilettentischs gelegt.«

»Vielen Dank für all die Mühe, die Sie sich gemacht haben«, sagte Tommy.

Tuppence betrachtete gebannt das Bild über dem Kamin. Es war ein kleines Ölgemälde und zeigte ein blassrosa Haus an einem Kanal, der von einer kleinen hochgewölbten Brücke überspannt wurde. Unter der Brücke war am Ufer ein leeres Boot festgemacht. In der Ferne standen zwei Pappeln. Es war ein reizendes Bild, aber Tommy wusste nicht, warum Tuppence es so intensiv musterte.

»Komisch«, murmelte sie.

Tommy sah sie fragend an. Aus langer Erfahrung wusste er, dass Dinge, die Tuppence mit »komisch« bezeichnete, keineswegs komisch waren. »Was meinst du denn, Tuppence?«

»Es ist komisch. Das Bild ist mir früher hier nie aufgefallen. Und dabei kenne ich das Haus. Ich habe es schon gesehen. Ich erinnere mich genau … Komisch, dass ich nicht mehr weiß, wann und wo es war.«

»Wahrscheinlich hast du es gesehen, ohne richtig zu merken, dass du es gesehen hast.« Tommy fand seine Worte sehr ungeschickt und ebenso abgedroschen wie Tuppence’ »komisch«.

»Hast du es gesehen, Tommy, als wir zum letzten Mal hier waren?«

»Nein. Aber ich habe mich auch nicht gründlich umgesehen.«

»Ach, das Bild«, sagte Miss Packard. »Nein, das können Sie nicht gesehen haben. Ich bin ziemlich sicher, dass es damals nicht über dem Kamin gehangen hat. Es gehörte einer anderen alten Dame. Miss Fanshawe hat bei ihr das Bild einige Male bewundert, und da hat die Dame es ihr geschenkt.«

»Aha«, sagte Tuppence. »Aber ich habe trotzdem das Gefühl, das Haus gut zu kennen. Du nicht, Tommy?«

»Nein.«

»Dann darf ich Sie allein lassen?«, fragte Miss Packard. »Wenn Sie mich brauchen, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Sie nickte ihnen lächelnd zu, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

»Ich mag die Zähne dieser Frau nicht«, stellte Tuppence fest.

»Was stört dich daran?«

»Sie hat zu viele davon. Oder sie sind zu groß. Damit ich dich besser fressen kann. – Wie die Großmutter von Rotkäppchen.«

»Du bist ja heute in einer sonderbaren Stimmung!«

»Bin ich auch. Ich habe Miss Packard immer sehr nett gefunden, heute aber kommt sie mir irgendwie – unheimlich vor. Kennst du das Gefühl?«

»Nein. – Und nun komm. Wir sind hier, um die Effekten der armen Tante Ada zu sortieren – wie es die Juristen nennen. Das ist der Schreibtisch, von dem ich gesprochen habe, der von Onkel William. Gefällt er dir?«

»Er ist sehr hübsch. Regency, nicht wahr? Eigentlich schön für die alten Leute, die hierherkommen, dass sie sich ein paar persönliche Dinge mitbringen können. Die Rosshaarstühle gefallen mir nicht, aber der Nähtisch ist reizend. Er ist genau das, was wir für die Fensternische brauchen können.«

»Gut«, sagte Tommy, »dann lassen wir uns die beiden Stücke schicken.«

»Und das Bild. Ich finde es so hübsch. Und ich bin sicher, dass ich das Haus schon gesehen habe. – So, jetzt kommt der Schmuck an die Reihe.«

Sie fanden in der Schublade einige Kameen, ein Florentiner Armband, Ohrringe und einen Ring mit verschiedenfarbigen Edelsteinen.

Tuppence steckte den Ring an den Finger. »Deborah würde ihn sicher gern haben. Und den florentinischen Schmuck. Sie schwärmt für alles Viktorianische. Aber jetzt müssen wir an die Kleider gehen. Irgendwie kommt mir das schrecklich vor. – Ach, das ist die Pelzstola. Die ist, glaube ich, sehr wertvoll. Aber ich mag sie nicht. Ob hier wohl jemand ist, der besonders nett zu Tante Ada war? Eine Freundin vielleicht? Wir könnten ihr die Stola schenken. Es ist Zobel. Wir fragen Miss Packard. Alles andere kann an die Wohlfahrtsleute gehen. So, das wär’s. – Leb wohl, Tante Ada«, sagte Tuppence laut und sah zum Bett hinüber. »Ich bin froh, dass wir dich noch besucht haben. Es tut mir leid, dass du mich nicht gemocht hast, aber wenn es dir Spaß gemacht hat, mich nicht zu mögen und all diese Unverschämtheiten zu sagen, dann nehme ich dir das nicht übel. Ein bisschen Spaß sollte dir das Leben doch machen. Und wir vergessen dich auch nicht. Wir denken an dich, wenn wir Onkel Williams Schreibtisch ansehen.«

Sie suchten Miss Packard, und Tommy erklärte, dass ein Spediteur den Schreibtisch und den Nähtisch abholen würde und dass er die übrigen Möbel vom örtlichen Auktionator versteigern lassen wollte. Alle Kleidungsstücke würden sie, wenn es nicht zu viel Mühe machte, durch sie an die geeigneten Stellen weiterleiten lassen.

»Ich weiß nicht, ob hier jemand ist, der sich über die Zobelstola freuen würde«, sagte Tuppence. »Sie ist sehr schön. Hat Tante Ada eine gute Freundin gehabt? Oder vielleicht hat sich eine der Schwestern besonders um sie verdient gemacht?«

»Wie freundlich von Ihnen, Mrs Beresford. Leider hatte Miss Fanshawe unter unseren Gästen keine besondere Freundin, aber Miss O’Keefe, eine von den Schwestern, hat sich immer liebevoll um sie gekümmert. Ich glaube, sie würde sich sehr darüber freuen und es als große Anerkennung empfinden.«

»Ach, und dann das Bild über dem Kamin«, fuhr Tuppence fort. »Das hätte ich sehr gern – aber vielleicht möchte es die Dame, die es ihr geschenkt hat, wieder an sich nehmen? Ich meine, wir müssten sie erst fragen …«

Miss Packard unterbrach sie. »Leider können wir das nicht, Mrs Beresford. Es geht nicht. Mrs Lancaster hat es Miss Fanshawe geschenkt; und die ist nicht mehr bei uns.«

»Nicht mehr bei Ihnen?«, fragte Tuppence überrascht. »Mrs Lancaster? Die, die ich beim letzten Besuch kennengelernt habe? Die Dame mit den zurückgekämmten Haaren? Sie trank unten im Wohnzimmer Milch. Und die ist nicht mehr hier?«

»Nein. Es ist ganz plötzlich gegangen. Eine Verwandte von ihr, eine Mrs Johnson, hat sie vor etwa einer Woche abgeholt. Mrs Johnson kam aus Afrika zurück, wo sie seit vier oder fünf Jahren lebte. Sie kann Mrs Lancaster nun bei sich aufnehmen. Sie und ihr Mann haben sich in England ein Haus gekauft. Ich glaube übrigens«, fügte Miss Packard hinzu, »dass Mrs Lancaster gar nicht gern von uns fortging. Sie war glücklich hier und hatte viele Freunde. Beim Abschied war sie ganz aufgelöst und hat sogar geweint – aber was kann man machen? Schließlich haben die Johnsons ihr den Aufenthalt hier bezahlt. Ich habe vorgeschlagen, da sie schon so lange hier sei, sie hierzulassen …«

»Wie lange war sie denn hier?«, fragte Tuppence.

»Oh, beinahe sechs Jahre. Ja, ungefähr so lange. Und darum hatte sie sich hier auch so gut eingelebt.«

Tuppence nickte. »Das kann ich verstehen.« Sie runzelte die Stirn, warf Tommy einen nervösen Blick zu und streckte dann energisch ihr Kinn vor. »Es ist schade, dass sie fort ist. Als ich mit ihr sprach, hatte ich das Gefühl, sie früher schon getroffen zu haben – ihr Gesicht kam mir so bekannt vor. Später ist es mir dann wieder eingefallen. Ich hatte sie bei einer alten Freundin kennengelernt, einer Mrs Blenkinsop. Ich wollte bei unserem nächsten Besuch mit ihr darüber sprechen und fragen, ob ich mich richtig erinnere.«

»Das wäre nett gewesen, Mrs Beresford. Alle unsere Gäste sind glücklich, wenn sie wieder Kontakt mit alten Freunden bekommen oder jemanden treffen, der ihre Verwandten früher gekannt hat. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass sie jemals von einer Mrs Blenkinsop gesprochen hätte, aber das wäre ja auch nur ein Zufall gewesen.«

»Können Sie mir vielleicht sagen, wer ihre Verwandten sind und wie sie hierhergekommen ist?«

»Ich weiß leider nur wenig. Wie ich schon sagte, haben wir vor etwa sechs Jahren Briefe von einer Mrs Johnson bekommen, in denen sie sich nach dem Heim erkundigte. Später kam Mrs Johnson selbst, um es sich anzusehen. Sie erkundigte sich nach den Preisen und Bedingungen und reiste wieder ab. Eine Woche darauf schrieb uns eine Anwaltsfirma aus London und holte weitere Auskünfte ein. Dann baten sie uns, Mrs Lancaster aufzunehmen, falls wir einen Platz frei hätten. Zufällig war das der Fall. Mrs Johnson brachte Mrs Lancaster, und ihr gefielen das Haus und das Zimmer. Mrs Johnson sagte, Mrs Lancaster sei eine entfernte Verwandte ihres Mannes, um die sie etwas besorgt seien, weil sie für ein paar Jahre nach Afrika gingen – nach Nigeria, glaube ich. Da sie Mrs Lancaster nicht mitnehmen könnten, suchten sie nach einer passenden Bleibe für sie, und nach allem, was sie über unser Heim gehört hätten, schiene es ihnen die ideale Lösung. Wir haben dann alles arrangiert, und Mrs Lancaster hat sich sehr gut eingelebt.«

»Aha.«

»Mrs Lancaster war sehr beliebt. Sie war ein bisschen – na, Sie wissen schon – verwirrt. Sie vergaß viel und verwechselte alles und konnte sich manchmal nicht an Namen und Adressen erinnern.«

»Hat sie viele Briefe bekommen?«, fragte Tuppence. »Aus Afrika, meine ich?«

»Ich glaube, die Johnsons haben im ersten Jahr ein- oder zweimal geschrieben. Später dann nicht mehr. Das ist leider so, wissen Sie. Wenn jemand in ein fernes Land geht, vergisst er schnell. Und ich glaube, sie haben nie eine enge Bindung gehabt. Sie war ja nur eine entfernte Verwandte, für die sie sich verantwortlich fühlten. Alle finanziellen Dinge erledigte der Anwalt, Mr Eccles. Er hat eine sehr angesehene Praxis. Wir hatten früher schon mit ihm zu tun. Vermutlich waren die Freunde und Angehörigen von Mrs Lancaster gestorben, denn sie bekam wenig Post, und es hat sie so gut wie nie jemand besucht. Nach dem ersten Jahr kam einmal ein sehr gut aussehender Herr zu ihr. Ich glaube, er hat sie nicht selbst gekannt, sondern war ein Freund der Johnsons. Wahrscheinlich wollten sie sich vergewissern, dass es ihr gut ging und sie zufrieden war.«

»Und danach haben alle sie vergessen«, stellte Tuppence fest.

»Leider. Ist das nicht traurig? Aber so geht es oft, und es ist ein Glück, dass die meisten unserer Gäste hier neue Freundschaften schließen. Sie haben manchmal gemeinsame Erinnerungen – na ja, und dann sind sie sogar recht glücklich. Ich glaube, viele vergessen ihr früheres Leben ganz.«

»Wahrscheinlich sind einige auch ein bisschen …« Tommy zögerte und suchte nach einem Wort, wobei er sich langsam über die Stirn strich.

»Ich weiß, wie Sie das meinen«, sagte Miss Packard. »Wir nehmen niemanden mit einer Geisteskrankheit auf, aber es gibt Grenzfälle. Menschen, die senil sind, die nicht mehr allein zurechtkommen, die gewisse fixe Ideen haben. Manchmal glauben sie, berühmte historische Persönlichkeiten zu sein. Es ist ganz harmlos. Wir hatten einmal zwei Marie-Antoinettes hier. Eine sprach dauernd vom Petit Trianon und trank viel Milch. Und dann hatten wir eine reizende alte Dame, die darauf bestand, Madame Curie zu sein und das Radium entdeckt zu haben. Natürlich sind Fälle von Gedächtnisschwund sehr viel häufiger. Die alten Leute können sich nicht mehr entsinnen, wer sie sind. Oder sie sagen immer wieder, dass sie etwas sehr Wichtiges vergessen haben, das ihnen unbedingt wieder einfallen müsste. Das kommt am häufigsten vor.«

Tuppence zögerte etwas und fragte dann: »Hat Mrs Lancaster immer von dem Kamin hier im Wohnzimmer gesprochen, oder ging es um irgendeinen Kamin?«

Miss Packard sah sie erstaunt an. »Ein Kamin? Mir ist nicht klar, was Sie damit meinen.«

»Sie hat etwas gesagt, das ich nicht verstanden habe. – Vielleicht verband sich eine unangenehme Erinnerung mit dem Kamin. Oder sie hat etwas gelesen und sich geängstigt.«

»Das ist natürlich möglich.«

Tuppence lenkte ab. »Ich mache mir immer noch Gedanken über das Bild, das sie Tante Ada gegeben hat.«

»Das brauchen Sie nicht, Mrs Beresford. Ich vermute, dass sie es inzwischen längst vergessen hat. Vielleicht hing sie gar nicht so sehr daran. Sie freute sich, dass es Miss Fanshawe gefiel, und hat es ihr geschenkt. Bestimmt wäre es ihr recht, wenn Sie es haben, weil Sie es auch schön finden.«

»Wissen Sie, was ich tun werde? Wenn Sie mir die Adresse geben können, schreibe ich Mrs Johnson.«

»Ich habe nur die Adresse des Hotels in London, in dem sie gewohnt haben. Cleveland, glaube ich. Ja, Cleveland-Hotel, George Street, W1. Sie hat eine knappe Woche mit Mrs Lancaster dort gewohnt, und dann wollten sie zu Verwandten nach Schottland. Das Cleveland-Hotel hat sicher die Adresse.«

»Vielen Dank, Miss Packard. Ach, und nun noch die Zobelstola …«

»Ich hole Ihnen Miss O’Keefe.«

»Du und deine Mrs Blenkinsop«, sagte Tommy, als sie allein waren.

Tuppence machte ein selbstzufriedenes Gesicht. »Das ist eine meiner besten Erfindungen. Ist es nicht ein großartiger Name? Kannst du sie dir nicht richtig vorstellen?«

»Ich möchte lieber wissen, warum alte Frauen Marie-Antoinette oder Madame Curie sein wollen.«

»Vermutlich, weil sie sich langweilen. Du würdest dich auch langweilen, wenn du nicht mehr auf deinen Beinen herumlaufen könntest oder steife Finger hättest. Du suchst dann verzweifelt nach etwas, um dich zu beschäftigen, und kommst auf die Idee, in einen berühmten Menschen zu schlüpfen und auszuprobieren, wie das ist. Ich kann das sehr gut verstehen.«

»Ja, du bestimmt!« sagte Tommy. »Gott schütze jedes Altersheim vor dir. Ich nehme an, du wirst ständig Kleopatra sein.«

»Nein, ich werde keine historische Persönlichkeit«, wehrte Tuppence ab. »Ich bin höchstens ein Küchenmädchen im Schloss der Anna von Cleve. Und ich erzähle alle saftigen Skandalgeschichten, die ich aufgeschnappt habe.«

Wieder kam Miss Packard herein. Sie wurde von einem großen, sommersprossigen, rothaarigen Mädchen in Schwesterntracht begleitet.

»Das ist Miss O’Keefe – Mr und Mrs Beresford. Sie möchten Ihnen etwas sagen. – Ich darf mich sicher entschuldigen? Ich muss eine Patientin besuchen.«

Tuppence überreichte ihr Tante Adas Stola, und Schwester O’Keefe äußerte ihr Entzücken. »Oh, wie schön! Aber für mich ist sie viel zu gut. Sie brauchen sie doch sicher selbst …«

»Nein, wirklich nicht. Mir ist sie zu groß. Ich sehe darin noch kleiner aus. Sie ist für jemanden gemacht, der groß ist. Tante Ada war auch groß.«

»Ja. Sie war eine stattliche alte Dame. – Sie muss sehr schön gewesen sein, als sie jung war.«

»Das wäre schon möglich«, sagte Tommy etwas zweifelnd. »Aber sie zu betreuen, muss recht schwierig gewesen sein. Sie war ein Drachen.«

»Ja, das schon. Sie war eine Kämpfernatur. Sie ließ sich nicht unterkriegen. Und dumm war sie auch nicht. Es ist ganz erstaunlich, was sie alles herausbekommen hat.«

»Aber ihr Jähzorn …«

»Weiß der Himmel. Aber die, die immer klagen und weinen und jammern, sind viel schwerer zu verkraften. Miss Fanshawe war nie langweilig. Sie hat mir so schöne Geschichten von früher erzählt. – Einmal ist sie als Mädchen mit einem Pferd in den ersten Stock eines Landhauses geritten. Das hat sie wenigstens gesagt. Stimmt das?«

»Zuzutrauen wäre es ihr«, sagte Tommy.

»Hier weiß man nie, was man glauben kann und was nicht. Was einem die Alten hier alles erzählen! Verbrecher haben sie wiedererkannt. – Wir müssen es sofort der Polizei melden – sonst sind wir alle in Gefahr!«

»Als wir letztes Mal hier waren, wurde jemand vergiftet«, sagte Tuppence.

»Ach, das war nur Mrs Lockett. Der passiert das täglich. Die will aber nicht die Polizei, für die muss ein Arzt geholt werden. Die ist ganz versessen auf Ärzte.«

»Und dann war da eine kleine alte Frau, die wollte Kakao.«

»Das muss Mrs Moody gewesen sein. Die arme alte Seele ist nicht mehr bei uns.«

»Sie ist nicht mehr hier? Ist sie weggezogen?«

»Nein. Es war eine Thrombose – ganz plötzlich. Sie hing sehr an Ihrer Tante. Aber Miss Fanshawe hatte nicht immer Zeit für sie. Sie hat ein bisschen viel geredet.«

»Und Mrs Lancaster ist auch nicht mehr hier.«

»Ja, die ist von ihren Leuten fortgeholt worden. Die Ärmste wäre viel lieber hiergeblieben.«

»Wovon hat sie mir damals nur erzählt? – Ach ja, von dem Kamin im Wohnzimmer.«

»Oh, die steckte voller solcher Geschichten. Was ihr alles passiert war – und was für Geheimnisse sie wusste …«

»Ja, sie hat von einem Kind gesprochen, von einem geraubten oder ermordeten Kind …«

»Es ist wirklich seltsam, was die sich alles ausdenken. Meistens bringt sie das Fernsehen auf solche Ideen …«

»Finden Sie es nicht anstrengend, immer nur unter alten Menschen zu sein?«

»Ach, das kann ich nicht sagen. Ich mag alte Leute. Deswegen habe ich mich auch hier um die Stelle beworben.«

»Sind Sie schon lange hier?«

»Anderthalb Jahre …« Sie hielt inne. »Aber ich gehe im nächsten Monat.«

»So? Warum denn?«

Zum ersten Mal wurde Schwester O’Keefe etwas zurückhaltender. »Ach, wissen Sie, Mrs Beresford, man muss mal wechseln …«

»Aber die Arbeit bleibt doch immer die gleiche?«

»Ja, schon …« Sie nahm die Zobelstola auf. »Ich bedanke mich nochmals sehr herzlich. Ich freue mich sehr, und ich werde mich immer gern an Miss Fanshawe erinnern. – Sie war eine großartige alte Dame. So was wie sie gibt es heute nicht mehr oft.«

Lauter reizende alte Damen

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