Читать книгу Täter im Verhör - Ahlrich Meyer - Страница 15
Knochens Erklärungen
ОглавлениеSerge Klarsfeld charakterisiert Knochen als einen politischen Realisten, stellt aber zugleich fest, daß sich dessen Linie in der Judenverfolgung als die effektivere erweisen sollte.178 Das ist ein kluges Urteil, doch trifft es sich in Teilen mit dem Bild, das Knochen im Verhör von sich selbst gezeichnet hat. Ein Grund dafür mag sein, daß Klarsfeld bei der Abfassung seines Buches „Vichy-Auschwitz“ vor allem die Verantwortung von Knochens französischem Gesprächspartner René Bousquet, der zum Komplizen der deutschen „Endlösung“ geworden war, herausstellen und eine Anklage gegen ihn vorbereiten wollte. Dazu schien der Nachweis wichtig, daß der von den Deutschen eingeräumte Verhandlungsspielraum größer gewesen war, als Bousquet nach dem Krieg hatte zugeben wollen. Sicherlich hat Knochen, vor allem in seiner Zeit als Befehlshaber der Sipo-SD, der Politik der Kollaboration mit dem Vichy-Regime wie der Aufrechterhaltung von „Ruhe und Ordnung“ im besetzten Frankreich stets den Vorrang vor antisemitischem Extremismus und einer radikalen „Lösung der Judenfrage“ gegeben – Klarsfeld führt dafür überzeugende Beispiele an. So sorgte Knochen offenbar unter einem Vorwand dafür, daß man Dannecker im Sommer 1942 – als das Programm der „Endlösung“ in Frankreich auf den Weg gebracht war – von seinem Pariser Posten entfernte.179 Als Eichmann und Danneckers Nachfolger im Judenreferat, Röthke, den von Oberg und Knochen mit der französischen Regierung Anfang Juli 1942 ausgehandelten „Kompromiß“, die Deportationen auf ausländische Juden zu beschränken, aufbrechen wollten, intervenierte Knochen mit Rücksicht auf den französischen Regierungschef Laval und unter Verweis auf die negativen politischen Folgen zweimal bei Himmler bzw. Müller, Eichmanns Vorgesetztem im Reichssicherheitshauptamt, und erreichte, daß Juden französischer Staatsangehörigkeit den Prioritäten Vichys entsprechend zunächst von Festnahmen ausgenommen blieben.180
Wie gesagt versuchte Knochen, dem Pariser Untersuchungsrichter Lequette begreiflich zu machen, er habe die in Berlin beschlossenen Maßnahmen zur „Endlösung“ nicht beeinflussen können, alles sei zwischen Eichmann und Dannecker entschieden worden:
In Anbetracht der Befehle, die das Judenreferat aus Berlin erhielt, war es einem Oberg oder einem Knochen unmöglich, die Forderungen der Reichsregierung nicht an die Französische Regierung weiterzugeben, zumal alle anderen Dienststellen (Botschaft, Militärbefehlshaber) ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt waren.181
Aber warum hatte es Verhandlungen zwischen Oberg, Knochen und der französischen Regierung über die „Judenfrage“ gegeben? Und sprach nicht andererseits die dokumentierte Tatsache, daß seine eigenen Interventionen in Berlin nicht wirkungslos geblieben waren, für den Beschuldigten? Während der Zeit der Pariser Verhöre bilanzierte Knochen seine Aktivitäten in Form einer Selbstdarstellung, die nicht wegen ihrer eklatanten Unglaubwürdigkeit von Interesse ist, sondern weil sie zugleich für jeden Vorgang, für jede einzelne Handlung eine scheinbar plausible Erklärung lieferte.Auch wenn sich im Nachhinein nicht unterscheiden läßt, was davon eingeübtes, strategisches Entlastungsverhalten und was Verblendung war, so dürften Knochens Aussagen doch symptomatisch für den Bewußtseinszustand jener an der „Endlösung“ beteiligten Tätergruppe der höheren Verantwortungsebene sein, die in den ersten Nachkriegsjahren mit dem Verbrechen konfrontiert wurde. Alle Aussagen wurden denn auch fast wortgleich von Oberg bestätigt, der in den Jahren 1949 und 1950 ebenfalls durch Lequette verhört wurde.182
Der Gang der Erzählung ist etwa der folgende: Knochen und Oberg hatten bei routinemäßigen Zusammenkünften mit dem Regierungschef Laval und dessen Generalsekretär für die Polizei Bousquet nur deswegen über Juden betreffende Fragen gesprochen, weil die französischen Vertreter Dannecker nicht als Verhandlungspartner akzeptieren wollten. Also gab der Höhere SS- und Polizeiführer – Knochen blieb seinem Bekunden nach „in der zweiten Reihe“ – das weiter, was ihm Dannecker als Befehle aus Berlin übermittelte. (Das hieße, nebenbei gesagt, die Chefs der deutschen Polizei in Frankreich wären die Boten des Judenreferenten gewesen.) Aber nicht nur die Franzosen lehnten Dannecker ab, auch Knochen selbst erklärte den radikalen Antisemiten für verrückt („ce fou de Dannecker“). Da er dienstlich nicht habe einschreiten können und Eichmann mit seinem Pariser Statthalter vollauf zufrieden gewesen sei, habe er, Knochen, Danneckers Ablösung aus disziplinarischen Gründen betrieben.183
Worin bestanden also die Differenzen zwischen Knochen und Dannecker? An den deutsch-französischen Verhandlungen im Sommer 1942, die für die Realisierung des Programms der „Endlösung“ in Frankreich entscheidend gewesen sind,184 war Dannecker noch beteiligt. Am 11. Juni 1942 hatte er auf der bereits erwähnten Tagung im Reichssicherheitshauptamt vorgeschlagen, innerhalb kürzester Frist ein Kontingent von 100.000 Juden aus dem besetzten wie unbesetzten Frankreich deportieren zu lassen, und das Einverständnis Eichmanns erhalten.185 Knochen hielt diesen Plan – seiner Darstellung nach186 – wegen der enormen Zahlen und der allgemeinen Mangellage an Transportmitteln für völlig unrealistisch. Er will Bousquet daher persönlich zu verstehen gegeben haben, sie hätten beide anderes zu tun, als sich um die „Judenfrage“ zu kümmern. Offiziell habe man den französischen Standpunkt und Bousquets wichtigstes Anliegen – die Wahrung der Autorität der französischen Polizei – stets respektiert, deswegen der französischen Exekutive die Verantwortung für die Festnahme von Juden überlassen und im übrigen in den Gesprächen niemals Druck ausgeübt, „weder materiellen noch moralischen Druck“.187 Um Danneckers ursprüngliche Forderungen zu begrenzen, seien Knochen, Oberg und Bousquet übereingekommen, in der Nordzone keine Juden französischer Staatsangehörigkeit, sondern nur ausländische Juden durch die französische Polizei verhaften zu lassen, und Laval habe der Auslieferung ausländischer Juden aus der unbesetzten Südzone schließlich zugestimmt. Daraufhin habe sich Dannecker über ihn, Knochen, in Berlin beschwert188:
Das von Dannecker unterzeichnete Schreiben vom 15. Juni 1942189 berichtet über eine Besprechung in Berlin. Daraus geht klar hervor, daß die Absicht, 100.000 Juden aus Frankreich abzutransportieren, weder von Oberg noch von mir stammt und daß nur Dannecker Vorschläge bezüglich der Durchführung dieser Operation gemacht hat [...].
Bousquet wollte keine französischen Juden festnehmen, sondern nur ausländische. Nach einer Konferenz bei Oberg kam er mir gegenüber noch einmal darauf zu sprechen und ich antwortete ihm, er bräuchte nur ausländische Juden festzunehmen. Das Judenreferat hat mich in Berlin denunziert, Dannecker verbreitete Gerüchte [...], und ich hatte bei Müller und Eichmann immer den Ruf, Maßnahmen gegen die Juden zu behindern.
Ich habe das ganze Programm Eichmanns während des Sommers 1942 umgeworfen, indem ich Bousquet meine Zustimmung gab, daß nur staatenlose Juden durch die französische Polizei verhaftet und evakuiert würden [...]. Ich hatte Bousquet in diesem Punkt meine persönliche Zustimmung gegeben, obwohl ich tatsächlich in dieser Sache gar nicht zuständig war. Bousquet hat meine Antwort dann als eine offizielle Vereinbarung dargestellt.
Heute kann man General Oberg und mir Vorwürfe machen, weil wir uns in diese Fragen eingemischt haben. Hätten wir es nicht getan und hätte Dannecker seine volle Handlungsfreiheit behalten, dann wären die Forderungen der Dienststelle Eichmanns in Berlin durchgesetzt worden. Dann wären die Deportationen von Juden aus Frankreich sehr viel zahlreicher gewesen, und sie hätten zweifellos fast die Gesamtheit [der jüdischen Bevölkerung; A.M.] umfaßt, wie dies in anderen Ländern der Fall war (Niederlande, Belgien ...).190
Den vorliegenden Dokumenten191 zufolge war es allerdings Bousquet, der das – zunächst von Laval ungedeckte – Angebot unterbreitete, den Deutschen die dringend benötigten französischen Polizeikräfte für die Verhaftung ausländischer Juden in der besetzten Zone zur Verfügung zu stellen, wenn im Gegenzug keine Juden französischer Nationalität festgenommen würden. In Knochens Version dagegen erscheint die mit Bousquet tatsächlich am 2. Juli 1942 getroffene Übereinkunft als deutsches Zugeständnis – oder besser als ein Manöver, um die Ambitionen Danneckers und Eichmanns zurückzudrängen und den Umfang der Deportationen zu verringern.
Eichmann, der am Vorabend dieser Verhandlungen in Paris mit Knochen und auch mit Dannecker zusammengekommen war, um die geplanten Massendeportationen aus Frankreich zu besprechen, hatte zur Kenntnis nehmen müssen, daß die französische Regierung Schwierigkeiten bereitete und daß Dannecker selbst seine Planzahlen kurzfristig schon erheblich reduziert hatte – er nannte nunmehr ein Deportationskontingent von 40.000 Juden.192 Im Protokoll des Treffens zwischen Eichmann und Dannecker wurde zwar die maximalistische Perspektive einer „restlosen Freimachung Frankreichs von Juden“ festgeschrieben, aber zugleich vermerkt, daß eine entsprechende „Druckarbeit“ auf die französische Regierung notwendig sei.193 Ob Knochen seinerseits zugesagt hatte, die Position des Judenreferats in den bevorstehenden Gesprächen mit Bousquet und Laval zu unterstützen oder nicht – Tatsache ist, daß er Anfang Juli 1942 ein Ergebnis aushandelte, das die Verhaftung von 20.000 ausländischen bzw. staatenlosen Juden in Paris und die Auslieferung von 10.000 ausländischen Juden aus der Südzone vorsah.
Nach Abschluß der großen Razzien auf ausländische Juden, die im Juli und August stattfanden, bezog Knochen dann allerdings – mit Rückendeckung Himmlers – Stellung gegen den Versuch, auch die Festnahme von Juden französischer Staatsangehörigkeit zu erreichen, erstmals Ende September 1942.194 Der Hintergrund war, daß das Vichy-Regime sich zu diesem Zeitpunkt einem starkem innenpolitischen Druck ausgesetzt sah, da die Razzien beim hohen katholischen Klerus und in großen Teilen der französischen Öffentlichkeit auf Ablehnung gestoßen waren, was Knochen und Oberg in Rechnung stellten. Im Februar 1943 kam Eichmann erneut nach Paris, um die Deportationen aus Frankreich zu forcieren und die „Evakuierung aller Juden französischer Staatsangehörigkeit“ zu fordern. Daraufhin wandte sich Knochen direkt an den Amtschef IV des Reichssicherheitshauptamts, Müller, und machte ihm den ablehnenden Standpunkt der französischen Regierung und die politische Situation im besetzten Frankreich klar.195 Das schloß im übrigen nicht aus, daß er selbst in Einzelfällen die Deportation bereits internierter französischer Juden gegen die erklärte Absicht Vichys anordnen ließ.196
Diese Intervention nun, der auch Klarsfeld eine große Bedeutung beimißt,197 wurde in Knochens Nachkriegssaussagen zum Dreh- und Angelpunkt seiner Selbstrechtfertigung:
Anfang Februar 1943 kam Eichmann nach Frankreich und sprach direkt mit Röthke (wie er es zuvor mit Dannecker gewohnt war). Er gab den Befehl, in Frankreich alle Juden unabhängig von ihrer Nationalität festzunehmen. Mich suchte er ebenfalls auf, und ich sagte ihm, daß die Französische Regierung sich den Maßnahmen gegen Juden widersetze, insbesondere allen Maßnahmen gegen französische Juden. Ich sagte ihm, daß die Judenfrage Schwierigkeiten im Hinblick auf die Gesamtsituation machen würde, die für Deutschland unter politischen wie militärischen Gesichtspunkten schwerwiegend sein könnten; ich sagte ihm, es sei notwendig, die Behandlung der Judenfrage auf die Nachkriegszeit zu verlegen (ich glaubte stets, daß die Judenfrage zur Gründung eines Judenstaats führen solle, den man praktischerweise erst nach dem Krieg ins Auge fassen könne). [...] Eichmann antwortete, Himmler habe ihn aufgrund eines förmlichen Befehls Hitlers nach Frankreich geschickt, um eine Aufgabe zu erfüllen, und alles, was er tue, gehe auf direkte Befehle Hitlers und Himmlers zurück. Ich sah, daß Eichmann sich allen politischen Fragen verschloß, und daher schrieb ich noch am gleichen Tag einen Brief an General Müller über die Lage in Frankreich mit Bezug auf die Judenfrage, wobei ich den Widerstand der Französischen Regierung noch übertrieb [...]. Ich schrieb, daß die französische Polizei uns niemals französische Juden übergeben würde und daß man in Frankreich bereits an die Niederlage Deutschlands glaube. Ich denke nicht, daß andere Dienststellen derartig defaitistische Berichte abzugeben wagten.
Ich stellte in diesem Bericht alle politischen Argumente zusammen, die die Reichsregierung dazu bringen konnten, die antijüdischen Maßnahmen in Frankreich auszusetzen oder ganz aufzuheben. Ich führte an, daß diese Maßnahmen wegen der [ablehnenden; A.M.] Haltung der Italiener die Einheit der Achse zerstören könnten (eine Einheit, die angesichts der deutschen militärischen Schwierigkeiten in Rußland um so unverzichtbarer war); ich verwies auf die Tatsache, daß die Maßnahmen den Rücktritt Marschall Pétains, Präsident Lavals und Bousquets provozieren würden. Ich wußte nämlich – das war bekannt damals –, daß Hitler selbst verlangte, daß Pétain auf seinem Posten blieb und daß die Politik Lavals fortgeführt wurde; auch Bousquet wurde damals noch als unersetzliches Element für gute französisch-deutsche Beziehungen angesehen.
Alle Sätze dieses Schreibens untermauern die Absicht, die Aufhebung der antijüdischen Maßnahmen in Frankreich zu erreichen. [...]
Ich glaubte, daß man eine große politische Gesamtlinie [une grande politique générale] durchsetzen müsse, die man nicht dadurch kompromittieren durfte, daß man eine bestimmte Anzahl von Juden nach dem Osten verschickte.198
Soweit Knochens eigene Interpretation seiner Bemühungen, die Judenverfolgung in Frankreich mit den allgemeinen besatzungspolitischen Zielen in Einklang zu bringen, soweit sein Realismus. Es besteht kein Zweifel, daß die „Judenfrage“ für ihn – im Gegensatz zu Dannecker und Röthke, aber auch zu seinem Stellvertreter Lischka – eher nachrangig blieb. Auch läßt sich nicht bestreiten, daß der aus dem SD kommende Protegé Heydrichs gelegentlich in Konflikt mit der Berliner Gestapo-Zentrale und deren Pariser Statthaltern geraten war. Ebenso sicher ist allerdings, daß sich die „Endlösung“ in Frankreich ohne Knochens Vermittlung und Verhandlungsgeschick gegenüber den Vichy-Behörden – oder, im Falle von deren Weigerung zur Mitarbeit, nur mit deutschen Kräften und womöglich gegen den Widerstand der französischen Bevölkerung – nicht im gleichen Umfang hätte durchführen lassen. Doch diese Vermittlungsfunktion versah der ehemalige Befehlshaber der Sipo-SD nun im Verhör mit einem umgekehrten Vorzeichen. Aus einem taktischen Kalkül, welchem er in den Jahren 1942 und 1943 gefolgt war, indem er die aus dem Reichssicherheitshauptamt oder dem Pariser Judenreferat kommenden Forderungen nach Ausweitung der Deportationen stets den Prioritäten der deutschen Besatzungspolitik und dem Erhalt der Kollaborationsbereitschaft Vichys unterordnete, war unterdes ein Beitrag zur Rettung der Juden geworden. Knochen wurde nicht müde, dem Untersuchungsrichter Lequette gegenüber zu beteuern, die antijüdischen Maßnahmen seien ein politischer Irrtum gewesen, er habe die Befehle aus Berlin sabotiert und dadurch erreicht, daß Maßnahmen gemildert, Aktionen blockiert, Deportationsprogramme verzögert wurden, und daß schließlich die Zahl der aus Frankreich deportierten Juden geringer gewesen sei als in anderen besetzten Ländern.199
Und die Todestransporte mit 76.000 Juden aus Frankreich, Männern, Frauen und Kindern, darunter zwei Drittel ausländische und ein Drittel französische Juden? Dazu Knochen im Jahr 1949:
Ich war über das wirkliche Schicksal der nach Deutschland geschickten Juden und insbesondere über das, was in Auschwitz geschah, nicht informiert. Ich glaubte, es handle sich um eine Zusammenziehung der Juden in der Absicht, sie nach Palästina oder nach Madagaskar zu verbringen, wenn der Frieden wiederhergestellt sei. [...]
1942 oder 1943 habe ich Eichmann gefragt, warum er die Judentransporte organisierte, da diese ja nicht nach Palästina geschickt werden könnten. Er antwortete mir, daß er über riesige Territorien in Polen verfüge, wo Städte und Dörfer gebaut würden und wo die Juden gesammelt würden, um bereit zu stehen, wenn sie nach dem Friedensschluß in das Gebiet geschickt werden könnten, das zum neuen Judenstaat erklärt würde. [...]
Als ich mit Eichmann sprach, wies ich ihn darauf hin, daß Laval Einwände erhoben hatte, weil man jüdische Männer deportierte, ihm aber die Last der Frauen und Kinder zurücklasse. Eichmann sagte mir, die Männer seien dabei, Städte und Dörfer zu bauen, und ich konnte Laval beruhigen: sobald der Aufbau vollendet sei, würden die Frauen und Kinder nachkommen.
Heute spricht man von den Grausamkeiten in Auschwitz und alle Welt ist auf dem Laufenden. Damals konnte man sich das nicht vorstellen: die Vernichtung in Auschwitz wurde – wie wir jetzt wissen – von den Juden selbst durchgeführt, die nur von einer kleinen Zahl Wachmänner kommandiert wurden.200
Die Behauptung, daß der zweite Mann des deutschen Polizeiapparats in Frankreich nichts von der Vernichtung der Juden gewußt hätte, ist mehr als grotesk.201 Aber worauf wollte Knochen am Schluß hinaus? Handelte es sich um eine der Wendungen des deutschen Nachkriegsantisemitismus, sollten die Juden für Auschwitz verantwortlich gemacht werden? Meinte Knochen, daß die technische Ausführung des Vernichtungsvorgangs durch jüdische Sonderkommandos die Täter entlasten würde? Oder sollte der Hinweis auf das geringe deutsche Lagerpersonal erklären, daß ihm über die Massentötungen in Auschwitz nichts hatte bekannt werden können? Jedenfalls blieb er noch in den sechziger Jahren bei dieser Behauptung, nachdem er aus französischer Haft entlassen und über die Grenze nach Deutschland überstellt worden war, wo ihn ein Vertreter des Speyrer Kirchenpräsidenten in Empfang nahm.202 Den westdeutschen Ermittlungsbehörden ist es – anders als etwa im Fall des ehemaligen Befehlshabers der Sipo-SD in den Niederlanden, Wilhelm Harster – nicht gelungen, Knochen zu einer anderen Aussage zu bewegen oder ihm das Gegenteil zu beweisen.
Harster, der in einer vergleichbaren Position wie Knochen gewesen war, sagte im Jahr 1966 als Beschuldigter aus, Eichmann habe ihm gegenüber immer die Tarnung aufrechterhalten und auch dem Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Seyß-Inquart, erklärt, die Juden kämen im Osten zum Arbeitseinsatz: „Nur durch den Arbeitseinsatz sei der kostspielige Abtransport zu rechtfertigen.“ Der Überblick über seinen Dienstbereich und weitere Nachrichtenquellen sowie die Widersprüchlichkeit einzelner Anordnungen des Reichssicherheitshauptamts hätten ihm jedoch nach einer gewissen Zeit klar gemacht, „daß die nach dem Osten geschickten Juden, aufs Ganze gesehen, in den Tod gingen“.203 Allerdings habe er – so Harster später als Zeuge im Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen für die Deportationen aus Belgien, Ehlers und Asche – sich keine Vorstellungen darüber machen können, wie man eine derartige Menge von Menschen vernichtete, weil es seine „Phantasie überschritt“; deswegen habe er immer wieder den „Umfang der Judenvernichtungsmaßnahmen“ in Zweifel gezogen.204
Dagegen bezeugte Knochen 1967 vor dem Schwurgericht Baden-Baden unter Eid:
Er habe erst nach dem Kriege gehört, was tatsächlich mit den Juden geschehen sei; er habe keinen Begriff gehabt, wo das Lager Auschwitz gewesen sei; er habe nicht gewußt, daß die Juden in den KZ systematisch umgebracht würden; die Transporte seien von der Ordnungspolizei organisiert worden; die Sicherheitspolizei habe überhaupt keine eigene Initiative entwickelt; es habe sich hierbei um eine Verwaltungsstelle gehandelt, die die Befehle von Berlin bekommen und diese der französischen Verwaltung weitergegeben hätte; Dannecker sei direkt nach Berlin zu Eichmann ohne sein Wissen gegangen.205
Diese Aussage führte zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Knochen wegen Meineides, das jedoch 1970 mit der Begründung eingestellt wurde, es sei zwar „aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar“, daß der Beschuldigte in seiner damaligen Position als Befehlshaber der Sipo-SD in Frankreich „nicht gewußt haben soll, daß die Deportierten in den KZ’s, insbesondere in Auschwitz, getötet würden“. Auch werde der Beschuldigte, der die Tätigkeit und Bedeutung der Sicherheitspolizei im Zusammenhang mit den Judendeportationen als geringfügiger dargestellt habe, als sie wirklich gewesen sei, durch eine Vielzahl von Dokumenten erheblich belastet. Aber es sei ihm nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen, daß er die Unwahrheit gesagt habe.206 In Zukunft konnte sich Knochen ungestört seiner Tätigkeit als Versicherungsmakler und dem Tennisspiel widmen, wenn er nicht gelegentlich als Entlastungszeuge auftrat. Wie er dem stellvertretenden Leiter der Dortmunder Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen im Jahr 1979 anvertraute, hatte er allerdings „auf ärztlichen Rat“ seine „Erinnerung an die Kriegszeit und die Gefangenschaft bewußt verdrängt“.207
Das vorläufige Fazit ist, dies zeigen die zusammengestellten Verhöre aus Nürnberg und Paris, daß sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine weitgehende Übereinstimmung in den Aussagestrategien der Täter finden läßt. Sicherlich beruhte diese Übereinstimmung auch – wie etwa im Fall Oberg und Knochen zu vermuten ist – auf Absprachen noch vor Kriegsende, ihre Wurzeln aber dürfte sie in dem einstigen Grundkonsens aller an der „Endlösung“ in Frankreich Beteiligten gehabt haben. Zugleich wurden Muster der Selbstentlastung vorgegeben, an die sich spätere Zeugen und Beschuldigte in der Bundesrepublik bis auf wenige Ausnahmen hielten, obwohl die damaligen Aussagen bei den Alliierten kaum Glauben gefunden hatten. Die Argumentationsfiguren der verantwortlichen Diplomaten der Pariser Botschaft, Abetz, Achenbach und Schleier, wie die des eigentlichen Chefs der deutschen Polizei in Frankreich, Knochen, glichen in manchem den stereotypen Ausflüchten, mit denen die Mehrheit der Deutschen nach 1945 auf die Konfrontation mit dem Grauen der Vernichtungslager reagierte. Dazu gehörten der – bereits von Hannah Arendt konstatierte – Relativismus gegenüber Tatsachen und eine spezifische Form des Sprechens über den Judenmord, die noch näher zu analysieren sein wird. Wenn sie die dokumentierten Fakten nicht rundheraus bestritten, entwickelten die hochrangigen Funktionsträger eine nicht leicht zu durchschauende Technik der Selbstrechtfertigung, indem sie für jede ihrer Handlungsweisen scheinbar plausible, entlastende Teilerklärungen anboten, aus denen in der Summe ein groteskes Zerrbild der historischen Vorgänge entstand. Wichtiger ist vielleicht noch, daß die Aussagestrategien, die allesamt darauf hinausliefen, die eigene Verantwortung zu bestreiten, in der pluralistischen Struktur des Besatzungsapparats selbst, in der Multiplikation von Zuständigkeiten und in der arbeitsteiligen Durchführung der Massenvernichtung eine reale Grundlage fanden. Der vollkommene Mangel an Schuldbewußtsein läßt ahnen, wie die Dinge geschehen konnten. Jedenfalls fällt auf, daß denen, die an den Schalthebeln der Besatzungsmacht gesessen und über Leben und Tod entschieden hatten, die wirkliche Dimension des Massenverbrechens, zu dem sie beigetragen hatten, in der Verhörsituation offenbar überhaupt nicht präsent war.