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Ausweitung des Deportationsprogramms

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In der Übergangsphase des deutschen Besatzungsregimes, die von Ende 1941 bis zum Frühjahr 1942 reicht, d.h. noch vor der Einsetzung eines Höheren SS- und Polizeiführers in Frankreich im Mai, ist ein Radikalisierungsschub auf allen Gebieten der antijüdischen Politik zu beobachten. Nach den ersten Verordnungen des Jahres 1940 über Maßnahmen gegen Juden, die Dannecker als „Brücke [...] zum Beginn des antijüdischen Ausschaltungswerkes“ bezeichnet hatte,169 und nachdem der Aufbau einer Infrastruktur der Verfolgung – Einrichtung des Generalkommissariats für Judenfragen, Schaffung von Internierungslagern, Gründung einer jüdischen Zwangsorganisation – im Laufe des Jahres 1941 weitgehend abgeschlossen werden konnte, war ein „gewisser Stillstand“ eingetreten, wie der Leiter des Judenreferats wiederholt beklagte. Ab Dezember 1941 jedoch zeigte die Militärverwaltung ein deutliches „Entgegenkommen in der Verschärfung der Judenaktionen“,170 Vertreter der Wirtschaftsabteilung konstatierten, daß „das Judenproblem auch für Frankreich neue, stark politische Bedeutung“ gewann,171 regionale Außenstellen der Sipo-SD – wie das Kommando in Bordeaux – forderten die „Weitertreibung der antijüdischen Maßnahmen“,172 alle deutschen Stellen in Paris verlangten die Ablösung des französischen Generalkommissars Vallat, der als zu moderat galt, und die Sipo-SD, der Militärbefehlshaber und die Botschaft bereiteten die letzten Verordnungen gegen Juden, darunter die Einführung des Kennzeichnungszwangs, vor. In diese Phase fällt der Umschlag von der Repressions- zur Deportationspolitik.

Am 24. Dezember hatte das Reichssicherheitshauptamt die vom Militärbefehlshaber befohlene Deportation von zunächst 1.000 Juden aus Frankreich wegen „Transportschwierigkeiten“ abgesagt und auf Februar oder März 1942 verschoben. Drei Vorgänge kennzeichnen das Geschehen der folgenden Wochen: In Erwartung eines neuen Termins konzentrierten sich die Aktivitäten der Militärverwaltung und des Judenreferats darauf, die Zahl der in Compiègne internierten Juden möglichst konstant zu halten.Als Eichmann Ende Februar einen baldigen Abtransport in Aussicht stellte, mußte die Zustimmung des Auswärtigen Amts eingeholt werden, und darüber wurde auch die Deutsche Botschaft in Paris in die Entscheidung über die Deportation von Juden einbezogen. Und während Dannecker mit den technischen Vorbereitungen des ersten Transports beschäftigt war und dabei auf eine enge Kooperation mit der Militärverwaltung setzten konnte, drängte er – Anfang März nach Berlin in das Reichssicherheitshauptamt einbestellt – gleichzeitig auf eine Erweiterung des Deportationsprogramms, um die Internierungslager in der besetzten Zone zu leeren und neue Massenrazzien durchführen lassen zu können.

Das Bemühen der Militärs, auf jeden Fall ausreichend Juden für einen eventuellen Abschubtermin bereitzustellen, kommt in keinem anderen Dokument besser zum Ausdruck, als in einem von Nährich, Sachbearbeiter in der Polizeigruppe des Verwaltungsstabs, entworfenen und von Best unterzeichneten Rundschreiben an alle beteiligten Besatzungsorgane vom 10. Februar 1942, das die „Behandlung jüdischer Häftlinge im Polizeihaftlager Compiègne“ regelte. Obwohl man die Juden in Compiègne, wo auch politische Gefangene interniert waren, von Anfang an gesondert untergebracht hatte, wurde die Situation nunmehr auf Dauer gestellt und verfügt, daß innerhalb des Lagers „für Juden unter räumlicher Trennung von den übrigen Polizeihäftlingen eine besondere Abteilung ‘Judenlager’“ einzurichten sei. Außerdem nahm die Militärverwaltung eine neue Differenzierung der jüdischen Häftlinge vor. Das „Judenlager“ sollte der Aufnahme von Juden dienen, so hieß es, die „zum Zweck der Deportation“ oder „als Geiseln für eine zukünftige Durchführung von Sühnemaßnahmen“ oder aus sonstigen Gründen verhaftet worden waren. Um die unterschiedlichen Gruppen – d.h. die unterschiedlichen Formen, Menschen zu Tode zu bringen – zu kennzeichnen, ordneten Nährich und Best folgendes an:

Im Polizeihaftlager Compiègne wird entsprechend den Rotstiftaufschriften auf Formblatt Muster 1 unter den Stichworten

1 „Deportations-Juden“

2 „Jüdische Geiseln“

3 „Juden“

je eine getrennte Kartei angelegt, die die jederzeitige Herausziehung dieser Juden ermöglicht.173

Für die Auswahl von Juden zur Deportation wurden überdies die Richtlinien bekannt gegeben. Die Juden sollten „arbeitsfähig und weder unter 18 noch über 55 Jahre alt“ sein, neben französischen und staatenlosen Juden sollten nur Angehörige deutschbesetzter Staaten deportiert werden. Analog formulierte die Gruppe Justiz des Verwaltungsstabs Richtlinien für die „Geiselauswahl“: in erster Linie sollten „a) Verbrecher aus früheren Attentaten, b) Kommunisten und Juden“ erschossen werden.174

Nun waren bereits im Dezember, unmittelbar nach der Razzia, die ersten Entlassungen aus Compiègne vorgenommen worden – vermutlich auf Veranlassung des Lagerarztes.175 Seit Beginn des Jahres 1942 wurden zahlreiche Entlassungsanträge an die Militärverwaltung herangetragen.176 Da der Gruppe Polizei zudem inzwischen eine vom Lagerkommandanten angefertigte statistische Übersicht über die in Compiègne internierten Juden (darunter mehr als zweihundert Männer über 55 Jahre und über dreißig Jugendliche unter 18 Jahren) sowie Listen „arbeitsunfähiger“ Juden vorlagen, verfügte Oberkriegsverwaltungsrat Ernst am 22. Januar, entsprechend dem „Verhaftungszweck“ diejenigen Personen von der Deportation auszunehmen und zu entlassen, „die entweder auf Grund der ärztlichen Untersuchung bereits als arbeitsunfähig bezeichnet sind oder, weil sie über 55 Jahre oder unter 18 Jahre alt sind, für Zwangsarbeiten im Osten nicht geeignet sind“. Er ließ allerdings offen, sie im Einzelfall, „sofern [...] gegen ihre Entlassung Bedenken bestehen“, statt dessen in das Lager Drancy zu überstellen.177 Zum ersten Mal wurden also per Erlaß Altersgrenzen festgelegt. Parallel dazu begann die Militärverwaltung zu klären, ob Juden, die in sogenannten „Mischehen“ lebten, wie im Reichsgebiet auch von der Deportation ausgenommen werden sollten, was weitere Entlassungen aus Compiègne bzw. Überführungen nach Drancy zur Folge gehabt hätte.178 Außerdem wurde die Botschaft Paris um Auskunft gebeten, ob „politische Bedenken“ gegen die Deportation von Juden türkischer, rumänischer, ungarischer, italienischer und anderer Staatsangehörigkeiten bestünden, die in größerer Zahl in Compiègne interniert waren.179

Dannecker und Lischka lehnten, das konnten die Militärs im voraus wissen, die vorgesehene Entlassung von über 55 Jahre alten bzw. arbeitsunfähigen Juden kategorisch ab. Beide machten gegenüber der damit befaßten Polizeigruppe des Kommandanten von Groß-Paris – die der Sipo-SD die Entscheidung hatte überlassen wollen, wer nach Drancy überführt und wer entlassen werden sollte – wiederholt geltend, in jedem Einzelfall und grundsätzlich bestünden „sicherheitspolizeiliche Bedenken“ gegen eine Freilassung.180 Die Angelegenheit entwickelte sich – wie der Historiker Wolfgang Scheffler dargestellt hat181 – zu einer Prestigefrage, bei der es den Militärs nicht zuletzt um die Aufrechterhaltung der Fiktion des „Arbeitseinsatzes“ ging. In einem wiederum von Nährich entworfenen und von Best unterzeichneten Schreiben an den Kommandanten von Groß-Paris vom 28. Februar schwenkte die Militärverwaltung schließlich um: „Im Einvernehmen mit dem Beauftragten des Chefs der SP und des SD – Dienststelle Paris“, so hieß es dort, werde die sofortige Überführung der über 55 Jahre alten, unter 18 Jahre alten und der arbeitsunfähigen „Deportationsjuden aus dem Lager Compiègne in das Lager Drancy“ angeordnet. Die dadurch hervorgerufene Verringerung der Zahl der in Compiègne Internierten mache Neueinweisungen aus dem Lager Drancy „zur Auffüllung der zur Deportation nach dem Osten befohlenen Juden“ nötig, ansonsten seien an dem „Bestand des Deportationslagers“ Compiègne keine Veränderungen mehr vorzunehmen.182 Letztlich stimmte die Militärverwaltung mit der Rotation der Häftlinge also einer weiteren Internierung auch von „nicht arbeitsfähigen“, alten und gebrechlichen Juden zu, während sie den ersten Transport aus Compiègne als Zwangsarbeitertransport gesunder, arbeitsfähiger Männer deklarieren konnte. Nahezu alle der aus Compiègne nach Drancy verlegten, „arbeitsunfähigen“ und alten Juden wurden später deportiert.

Zum selben Zeitpunkt, am 26. Februar, wandten sich Dannecker und Lischka, die offensichtlich eine weitere Diskussion um Entlassungen vermeiden wollten, an das Reichssicherheitshauptamt und erklärten, im Interesse der Stärkung der deutschen Autorität sei ein „möglichst schneller Abschub der im Zuge der Aktion vom 12. 12. 41 verhafteten 1000 Juden“ erforderlich. Abgesehen davon, daß das Judenreferat und der Kommandant von Groß-Paris „durch unzählige Eingaben für die Befreiung dieser Juden belästigt“ würden, werde „französischerseits der bisher noch nicht erfolgte Abschub als deutsche Schwäche ausgelegt“. Das Fernschreiben schloß mit der Bitte an Eichmann, in diesem Fall eine „Sonderregelung“ zu treffen.183 Erst jetzt also, nachdem der Militärbefehlshaber schon Mitte Januar gegenüber dem OKH auf einen raschen Abtransport der Opfer der Dezember-Razzia gedrängt hatte, wurde auch Dannecker in Berlin vorstellig. Zwar lag wie erwähnt eine allgemein gehaltene Zusage Himmlers an Keitel von Ende Januar vor, die „durch den dortigen Wehrmachtsbefehlshaber festgenommenen Kommunisten und Juden en bloque“ zu übernehmen. Doch die eigentliche Entscheidung im RSHA dürfte erst am 28. Februar gefallen sein. Das an Knochen gerichtete Telegramm Eichmanns, das diese Entscheidung bekanntgab und dessen Eingang in Paris am 1. März registriert wurde, hatte folgenden Wortlaut:

1.000 Juden werden sofort nach augenblicklich im Gang befindlicher Fahrplanbesprechung übernommen und einem im Reichsgebiet gelegenen Aufnahmelager zugeführt. – Die näheren Einzelheiten [werden] anläßlich Anwesenheit des dort. Sachbearbeiters für Judenfragen, SS Hptstf. Dannecker, am 4. 3. 42 hier in Berlin besprochen. – Im Reichsgebiet in Mischehe lebende Juden werden vorläufig [unterstrichen] von der Evakuierung zurückgestellt. Entsprechende Regelung [unterstrichen] ist vorgesehen. – Auch hierüber erhält SS Hptstf. Dannecker anläßlich Anwesenheit in Berlin nähere Weisungen.184

Am 2. März setzte Dannecker die Militärs – die Gruppe Polizei und den Kommandanten von Groß-Paris – vom Inhalt des Telegramms in Kenntnis.185 Die von Eichmann anberaumte Besprechung im Reichssicherheitshauptamt, zu der außer Dannecker auch die Judenreferenten der Sipo-SD-Dienststellen Brüssel und Den Haag, Asche und Zoepf, sowie der Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ Amsterdam, Lages, hinzugezogen wurden,186 fand aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich am 4. März statt.187 Es handelte sich um ein Treffen, das im unmittelbaren Zusammenhang der Wannsee-Konferenz zu sehen ist. Dabei wurden über die von Eichmann angesprochenen Einzelheiten des ersten Transports hinaus weitere, folgenschwere Entscheidungen getroffen. Zum einen wurden – wie im vorigen Kapitel dargestellt – die bereits angelaufenen Bemühungen koordiniert, gleichzeitig in den besetzten niederländischen, belgischen und französischen Gebieten einen Kennzeichnungszwang für Juden einzuführen. Zum anderen wurde eine Ausweitung des Deportationsprogramms für Frankreich beschlossen, und zwar vermutlich auf Vorschlag Danneckers.

In zwei Vermerken für Knochen und Lischka vom 10. März hielt der Leiter des Judenreferats die Ergebnisse der Konferenz vom 4. März fest. Er habe bei der Besprechung in Berlin, schrieb Dannecker, „erneut auf die Dringlichkeit sofortiger Deportierung der in Compiègne sitzenden Juden verwiesen“, Eichmann habe den Abtransport noch im Monat März zugesagt, voraussichtlich für den 23. März, Bestimmungsort sei – der Name erscheint hier zum ersten Mal in einem Dokument der deutschen Besatzungsbehörden in Frankreich – das „als Zwischenaufenthalt“ (!) vorgesehene Konzentrationslager Auschwitz/Oberschlesien. Wer die Transportkosten trage und ob eine „Zugbegleitung“ durch die Feldgendarmerie gestellt werden könne, sei schnellstens in Paris zu klären. Sodann listete Dannecker eine Reihe von Details auf, die das wenige mitzuführende Gepäck der Deportierten betrafen. Daraus ergab sich zwangsläufig die Frage, was mit der zurückgelassenen Habe geschehen würde. Da der Militärbefehlshaber für die wirtschaftliche „Arisierung“ zuständig war, gedachte Dannecker mit dessen Dienststelle über die „Vermögensfrage“ – also die definitive Enteignung und Beraubung der Opfer – zu verhandeln. Der Vermerk schloß mit der Auskunft, daß in „Mischehen“ lebende Juden auf Weisung Eichmanns – entsprechend der Regelung im Reichsgebiet – „vorläufig von der Deportierung verschont“ bleiben sollten.188

Der zweite Vermerk wies in die Zukunft. Er trug den Betreff: „Abschub von 5000 Juden aus Frankreich (Quote 1942)“. Demnach hatte Eichmann am 4. März vorbehaltlich einer endgültigen Entscheidung Heydrichs zugestimmt, weitere „rd. 5000 Juden nach dem Osten“ deportieren zu lassen und darüber schon jetzt in „Vorverhandlungen“ mit französischen Regierungsstellen zu treten. Dannecker nahm für sich in Anspruch, dies sei – unter Zurückstellung eines Antrags des Brüsseler Judenreferenten – auf seine Anregung hin erfolgt, „der französischen Regierung einmal etwas wirklich Positives, wie etwa den Abschub mehrerer tausend Juden vorzuschlagen“. Dabei solle es sich, so referierte er, „zunächst [!] um männliche, arbeitsfähige Juden, nicht über 55 Jahren“ handeln (das war also offenbar nur eine vorläufige Einschränkung), Juden französischer Nationalität müßten vor der Deportierung ihre Staatsangehörigkeit verlieren.189 Die „Vermögensabwicklung“ müsse gleichfalls erledigt sein, nicht zuletzt, um – wie Dannecker jetzt unter Hinweis auf ein ähnliches Verfahren in der Slowakei erläuterte – für die „dem französischen Staat abzunehmenden Juden“ Ausgleichs- und Transportkosten in Rechnung stellen zu können.190

Zwei Tage später, am 12. März, wurde Knochen von Eichmann telegraphisch über das Tagungsergebnis und den vorgesehenen Termin des ersten Transports (23. März) informiert. Die 1.000 Juden aus Compiègne könnten, so der Leiter des Referats IV B 4, „vorbehaltlich des noch nicht vorliegenden Einverständnisses des Auswärtigen Amtes“ deportiert werden. Eichmann bestätigte, was Dannecker bereits notiert hatte, aber das Fernschreiben enthielt darüber hinaus erstmals die Mitteilung, unter den weiteren 5.000 Juden, die „in Zeitkürze“ aus Frankreich in das Konzentrationslager Auschwitz verbracht werden sollten, könnten sich auch Frauen, und zwar „höchstens 5 Prozent „ befinden191 – ein Zusatz, der die sukzessive Erweiterung des Kreises der Deportierten über die vom Militärbefehlshaber gesetzten Zwecke hinaus ankündigte.

Im einzelnen wiederholte Eichmann sämtliche Dannecker längst bekannten Bestimmungen für die Transporte192 – darunter die in Frage kommenden Nationalitäten („nur Juden deutscher und französischer Staatsangehörigkeit bezw. Staatenlose oder Juden mit ehemaliger polnischer und luxemburgischer Staatsangehörigkeit“), die Ausnahmeregelung für „Mischehen“ und die Aufzählung der mitzunehmenden Verpflegung und „Ausrüstungsstücke“ (Koffer oder Rucksack, Decke, Geschirr mit Löffel, vollständige Bekleidung mit ordentlichem Schuhwerk) – sowie die organisatorischen Modalitäten ihrer Durchführung. Er nannte die Stärke des „Begleitkommandos“ (mindestens ein Führer und 15 Mann), das die Sicherheitsmaßnahmen bis zum „Zielbahnhof“ gewährleisten sollte, schrieb die Art der Ausfertigung von Transportlisten und die Form der Meldungen über Abfahrt jedes Transportzugs – an das Reichssicherheitshauptamt, die Inspektion der Konzentrationslager Oranienburg und die Kommandantur in Auschwitz – vor, und verlangte die Angabe der Abfahrtsbahnhöfe in Frankreich zur Fahrplanerstellung und Anforderung von „Sonderzügen“ für je 1.000 Personen beim Reichsverkehrsministerium. Schließlich bat er um Mitteilung, wer für die von der Reichsbahn in Rechnung gestellten Transportkosten aufkomme.193

Damit waren die Deportationsrichtlinien formuliert, die für die ersten sechs Transporte aus dem besetzten Gebiet – und aus einem westeuropäischen Land überhaupt – weitgehend in Geltung bleiben sollten.194 Auffällig ist, daß die von der Militärverwaltung frühzeitig vorgegebenen und die von Eichmann übermittelten, an die Bestimmungen für Deportationen aus dem Reichsgebiet angelehnten Regelungen – hinsichtlich des Alters, der Staatsangehörigkeiten und der „Mischehen“ – ineinandergriffen, der wichtigste Unterschied lag darin, daß Frauen in größerer Zahl und Kinder vorerst ausgenommen blieben.

Um es zusammenzufassen: Bei der Tagung im Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts am 4. März wurde beschlossen oder jedenfalls wurden die Judenreferenten aus Westeuropa von Eichmann darüber informiert, daß künftig RSHA-Transporte in das Konzentrationslager Auschwitz geleitet werden sollten, und zwar beginnend mit dem zunächst für den 23. März geplanten Transport aus Frankreich. Die am 4. März offenbar angesprochenen Transporte aus der Slowakei – Dannecker muß darüber unterrichtet worden sein, daß geplant war, im Laufe des Jahres 20.000 Juden abzutransportieren195 – sollten ebenfalls nach Auschwitz gehen, tatsächlich traf der erste registrierte Transport, der durch das Referat IV B 4 in das Lager eingewiesen wurde, am 26. März aus der Slowakei in Auschwitz ein.196 Bei der zeitgleich einsetzenden dritten Deportationswelle aus dem Reichsgebiet war nicht Auschwitz der Zielort, sondern diese Transporte führten in eine Reihe kleinerer Ghettos im Distrikt Lublin. Wurde am 4. März in Berlin über die Ergebnisse der Wannsee-Konferenz gesprochen? Die Planungen für Frankreich und die Slowakei legen das nahe,197 doch Danneckers Niederschriften geben darüber keine direkte Auskunft.Aber was war gemeint, wenn er Auschwitz als „Zwischenaufenthalt“ für die Juden aus Compiègne bezeichnete? Womöglich hatte Eichmann wiederholt, was er im Wannsee-Protokoll festgehalten hatte, daß nämlich die „evakuierten Juden [...] zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht“ werden sollten, „um von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden“?198 Was veranlaßte Eichmann, einer Ausweitung des Deportationsprogramms für Frankreich zuzustimmen? Gab Dannecker tatsächlich den Anstoß?

Dannecker und Zeitschel waren in der zweiten Februarhälfte 1942 nach Vichy gefahren, um mit dem dortigen deutschen Generalkonsul Krug von Nidda zu sprechen. Dieser hatte ihnen den Eindruck vermittelt, daß die französische Regierung zu Zugeständnissen in der „Judenfrage“ bereit wäre, wenn man ihr beispielsweise vorschlage, „daß man monatlich eine gewisse Anzahl, etwa 1.000 - 5.000 Juden abtransportieren könne“. Bei dieser Gelegenheit wurde auch überlegt, Heydrich über die Situation in Frankreich genauer zu unterrichten. Dannecker wollte – in einem seltenen Anflug von Realismus – klargestellt wissen, daß man „nicht mit gleichen Maßnahmen und im selben Tempo hier vorgehen könnte, wie in Deutschland“. Die Gesprächsteilnehmer planten, gemeinsam in Berlin vorstellig zu werden, um „Züge für den Abtransport der Juden zur Verfügung zu kriegen“.199 Serge Klarsfeld hat wohl nicht zu Unrecht eine Verbindung zwischen diesem Gespräch in Vichy und Danneckers Initiative während der Tagung im Reichssicherheitshauptamt gesehen, wo der Leiter des Pariser Judenreferats – seiner eigenen Besprechungsniederschrift zufolge – angeregt hatte, der französischen Regierung „den Abschub mehrerer tausend Juden“ vorzuschlagen.200 Irgendwelche Verhandlungen mit der Vichy-Regierung über Deportationen in größerem Umfang, auch darauf weist Klarsfeld hin, hat es allerdings zu keinem Zeitpunkt gegeben.201

Ebenso wahrscheinlich ist, daß die Zahl der 5.000 Juden, die über den ersten, vorbereiteten Transport hinaus deportiert werden sollten, auf die Häftlinge in den nordfranzösischen Internierungslagern Beaune-la-Rolande, Pithiviers und Drancy verweist. Einen Tag nachdem Dannecker die am 4. März getroffene Entscheidung des Reichssicherheitshauptamts für seine Vorgesetzten Lischka und Knochen festgehalten hatte, gab er sie bereits den versammelten Vertretern aller Besatzungsorgane in der Dienstagsbesprechung bekannt.202 Zeitschel, der dort anwesend war, leitete die Nachricht seinerseits an das Führungspersonal der Botschaft – Schleier, Achenbach, Rahn, Krafft von Dellmensingen und Kuntze – weiter. Heydrich habe durchgesetzt, daß für die in Compiègne befindlichen 1.000 Juden ein Zug zum Abtransport zur Verfügung gestellt werde. Die Juden kämen „zuerst in ein Auffanglager in Schlesien“ und würden „dann weiter zum Arbeitseinsatz nach dem Osten eingeteilt“. Darüber hinaus habe Heydrich „zugesagt, im Laufe des Jahres 1942 noch weitere 5.000 Juden aus Paris abzutransportieren“. Man sei in der Dienstagsbesprechung übereingekommen, so Zeitschel weiter, „daß diese 5.000 Juden zunächst einmal aus Paris evakuiert werden“.203 (Dannecker scheint außerdem berichtet zu haben, was er sonst nirgends schriftlich fixierte, daß Heydrich für das Jahr 1943 „weitere, größere Abtransporte“ in Aussicht gestellt hatte.)

Die Militärverwaltung erhielt die erste offizielle Mitteilung über die weitergehenden Deportationsplanungen am 17. März in einem von Dannecker diktierten und von Lischka unterzeichneten Schreiben, das an den Chef des Kommandostabs Speidel gerichtet war. Der eigentliche Zweck des Schreibens bestand in der Übermittlung der in Eichmanns Telegramm vom 12. März enthaltenen Informationen – auch der Zusatz, unter den weiteren 5.000 Juden könnten sich „bis zu 5 % Jüdinnen“ befinden, wurde weitergegeben – und in der Klärung technischer Fragen, unter anderem der Frage der „Transportbegleitung“. Aber das Dokument ist aus anderen Gründen bemerkenswert: Im zweiten Teil kam Dannecker darauf zu sprechen, woher diese 5.000 Männer und Frauen, die Opfer künftiger Transporte, kommen sollten. Ein großer Teil dieser Juden könne, schlug Dannecker dem Chef des Kommandostabs vor, „aus dem Lager Drancy bzw. den bei Orléans gelegenen Lagern Pithiviers und Beaune-la-Rolande genommen werden“. Allerdings müsse „bei diesem ersten Großabschub darauf gesehen werden, möglichst arbeitsfähige Juden zu erfassen“. (D.h. selbst den Militärs gegenüber wurde angedeutet, daß später auch nicht-arbeitsfähige Juden deportiert werden könnten.) Um den Anteil der Jüdinnen sicherzustellen, sollten die Ehefrauen der für den Abtransport bestimmten Männer verhaftet werden. Schließlich folgte ein Absatz, der den eigentlichen Grund für die Ausweitung des Deportationsprogramms offenlegte: „Auf diese Weise wäre es möglich, eine Auswechslung der KZ-Belegschaften zu erzielen und zwecks weiterer Auflockerung der Pariser Judenschaft erneute Judenrazzien durchzuführen.“204 Das Kontingent von fast 5.000 Juden, die dann tatsächlich zwischen dem 5. Juni und dem 17. Juli 1942 jeweils mit Transporten aus Compiègne, Drancy, Pithiviers und Beaune-la-Rolande deportiert wurden, dürfte sich also aus der Anzahl der in den Internierungslagern der Nordzone festgehaltenen Personen ergeben haben. Diese fünf Transporte – die ja zugleich noch als „Sühnemaßnahmen“ des Militärbefehlshabers bezeichnet wurden – sollten aus der Sicht des Judenreferats vor allem dem Zweck dienen, die Lager des besetzten Gebiets zu leeren, und damit neue Massenverhaftungen ermöglichen – Massenverhaftungen, die dann Mitte Juli 1942 mit der rafle du Vélodrome d’Hiver in Paris einsetzten.

Während die deutschen Stellen in Frankreich schon die Vorbereitungen für den am 23. März vorgesehenen Transport trafen, kam es zu einem beachtenswerten Schriftwechsel zwischen dem Referat IV B 4, der Deutschland-Abteilung des Auswärtigen Amts und der Botschaft Paris. Unterstaatssekretär Luther vom Auswärtigen Amt hatte auf der Wannsee-Konferenz mit Heydrich vereinbart, daß „alle das Ausland betreffenden Fragen“ vorher zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und seiner Dienststelle abgestimmt werden sollten.205 Daher richtete Eichmann am 9. März einen Schnellbrief an den zuständigen Referenten der Abteilung „Deutschland“, Rademacher, in dem er die Absicht ankündigte, am 23. März „1.000 Juden, die anläßlich der am 12. 12. 1941 in Paris durchgeführten Sühnemaßnahmen für die Anschläge auf deutsche Wehrmachtsangehörige festgenommen wurden, in das Konzentrationslager Auschwitz (Oberschlesien) abzuschieben“; es handle sich um Juden französischer Staatsangehörigkeit und staatenlose Juden. Die Antwort vorwegnehmend, bat Eichmann um Mitteilung, daß im Auswärtigen Amt „keine Bedenken gegen die Durchführung der Aktion“ bestünden.206 Zwei Tage später, inzwischen hatte sich die Erweiterung des Deportationsprogramms offenbar konkretisiert, holte Eichmann die Zustimmung Rademachers für den Abtransport weiterer „5.000 staatspolizeilich in Erscheinung getretene[r] Juden aus Frankreich“ ein.207 Rademacher und Luther wollten nun die Entscheidung nicht ohne Anhörung der Deutschen Botschaft fällen, und sie erbaten am 11. bzw. 13. März jeweils eine Stellungnahme.208 Abetz war zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht präsent, jedenfalls wurden die Anfragen von Generalkonsul Schleier beantwortet, der wiederum am 13. März an das Auswärtige Amt telegraphierte: „Gegen beabsichtigte Judenaktion keine Bedenken“, und am 14. März ergänzte, es gäbe auch keine Bedenken „bezüglich vorgesehener Evakuierung weiterer 5000 staatspolizeilich in Erscheinung getretener Juden“.209 Der Schriftwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und der Botschaft ging sofort an das Pariser Judenreferat, denn dort wurden Abschriften angefertigt,210 und Dannecker und Lischka übermittelten Eichmann auf direktem Wege die Einverständniserklärung Schleiers.211 Am 20. März schließlich, drei Tage vor dem vorgesehenen Transporttermin, teilte Rademacher Eichmann mit, seitens des Auswärtigen Amts werde „gegen die Abschiebung von insgesamt 6000 polizeilich näher charakterisierten Juden französischer Staatsangehörigkeit bzw. staatenloser Juden nach dem Konzentrationslager Auschwitz (Oberschlesien) kein Einspruch erhoben“. Da es das Auswärtige Amt vermutlich nicht für opportun hielt, Eichmann über die Rückfragen ins Bild zu setzen, wurde im Entwurf des Schreibens der Satz: „Seitens der Deutschen Botschaft Paris sind ebenfalls Bedenken nicht geäußert worden“ wieder gestrichen.212

Die zwischen Eichmann und dem Auswärtigen Amt ausgetauschte Fiktion, es handle sich um eine staatspolizeiliche Maßnahme, verwies auf die durch den Militärbefehlshaber angeordnete Razzia vom Dezember 1941. Diese Razzia war in Abstimmung mit Botschafter Abetz durchgeführt worden. Es ist nicht überliefert, welche sonstigen Erkundigungen Schleier oder andere Botschaftsangehörige über diejenigen Personen einholten, zu deren Deportation sie bedenkenlos ihr Einverständnis erteilten, und welche Vorstellungen sie mit dem Zielort Auschwitz verbanden. Zeitschel unterrichtete allerdings seine Vorgesetzten über die Weisungen des Reichssicherheitshauptamts, die Dannecker im Dienstagskreis bekanntgegeben hatte. Auf dieser Grundlage dürfte Schleier seine beiden Telegramme abgesetzt haben, die letztlich grünes Licht für den ersten Transport von Juden aus Frankreich gaben.

Täter im Verhör

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