Читать книгу Im goldenen Käfig - Aicha Laoula - Страница 17

Neue Welten

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Mit der Zeit konnte ich immer besser Italienisch schreiben und lesen. Ich las jeden Tag und entdeckte immer wieder Dinge, die mir neu waren, die mich allerdings auch erkennen ließen, wie ungebildet ich war und dass ich nichts über die Welt wusste. Ich wusste nichts über unseren Planeten, nichts über Geographie, nichts über die Geschichte der Weltbevölkerung, ich hatte keine Ahnung von den Kulturen andere Länder, wusste noch nicht einmal von deren Existenz, wusste nichts über die Natur oder sonst irgendetwas. Wenn unsere Freunde über internationale Ereignisse sprachen, staunte ich mit offenem Mund und wusste zu keinem Thema auch nur irgendetwas zu sagen. Ich war die einzige Dumme, es schien, als wäre ich in einem Bunker unter der Erde aufgewachsen. Ich wusste nicht, dass es zwei Weltkriege und den schrecklichen Vietnamkrieg gegeben hatte. Jetzt entdeckte ich durch mein Lesen die Weltgeschichte, sowohl die unseres Jahrhunderts als auch die der vergangenen: die Geschichte der Römer, Ägypter, Perser, Griechen, Amerikaner und so weiter. Ich liebte die Geschichte über die Ureinwohner Australiens, der Aborigines, die der Indianer in Amerika und von Amazonien in Brasilien und die Geschichte Südamerikas. Ich interessierte mich für die Kultur Chinas und Japans, für das Leben in Tibet und das der Afrikaner, wie in der Savanne, und viele mehr. Ich liebte es, diese Geschichten zu lesen oder sie als Dokumentation im Fernsehen anzusehen. Was mich am meisten faszinierte, waren die Eskimos, die in einer Schneewelt lebten und in Häusern aus Eisblöcken wohnten. Ich konnte mir nicht vorstellen, in diesem Teil der Welt zu leben, angesichts der unglaublichen Kälte. Ich las gern über die Natur und entdeckte Pflanzen und Tiere, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich informierte mich sehr gern über Medizin, wo ich doch als Kind den Wunsch hatte, Ärztin zu werden. Doch dies war mir unmöglich, da mir als Sklavin verboten war, zur Schule zu gehen. Außerdem hatte ich entdeckt, dass es auf der Welt noch andere Religionen gab, nicht nur eine, und dass der Planet Erde in mehrere Kontinente unterteilt war – und dass die Erde rund und der größte Teil davon von Wasser bedeckt war, eine Tatsache, die ich mir vorher nie hätte vorstellen können. Doch neben den schönen Dingen, die ich entdeckte, gab es auch negative und schmerzhafte. Zum Beispiel die Existenz gefährlicher Waffen und Atombomben, die den Planeten Erde zerstören konnten. Dies ließ mich schaudern und rief Zweifel an meiner Sicherheit hervor. Ich war schockiert, als ich im Fernsehen die Bombe in Hiroshima explodieren sah und dass alle anderen vorhandenen Bomben die gleiche Macht hatten. Diese Entdeckung stellte den Frieden und die Sicherheit, die ich in der Schweiz erlangt hatte, auf den Kopf. Ich hatte Angst vor einem dritten Weltkrieg, über den man in den 80er Jahren sprach. Ich hörte nicht mehr auf zu lesen, oft bis spät in die Nacht hinein. Bilal wachte auf und sagte: »Kannst du das Licht ausmachen und aufhören zu lesen?« »Ja, das ist die letzte Seite, versprochen.« Dann blätterte ich lautlos auf die nächste Seite, auf die eine weitere folgte. Ich entdeckte, dass der Kosmos nicht nur aus der Sonne, dem Mond und den Sternen bestand, die für meine Augen sichtbar waren, sondern auch aus einem unendlichen Raum voller Planeten und dass die Milchstraße aus Milliarden von Galaxien bestand und diese wiederum aus Milliarden von Sternen. Auch diese Entdeckung verdrehte mir den Kopf. Es war zu viel für mein kleines und begrenztes Gehirn. Mir wurde klar, dass ich in einem großen und wundervollen Universum und auf einer riesigen Erde lebte, die nicht nur aus Marokko und der Schweiz bestand, die einzigen Länder, die ich zu diesem Zeitpunkt kannte. Allerdings verursachten mir diese Erkenntnis auch großen mentalen Stress und riefen in mir Angst und Unsicherheit hervor. Ich benötigte Zeit, um all das neue Wissen, das ich auf einen Schlag erhalten hatte, zu verarbeiten. Eine Erkenntnis, die mich am meisten bestürzte, waren die beiden Weltkriege und die Versklavung in Afrika. Dies tat mir sehr weh und ließ mich ein Meer an Tränen vergießen. Es zerriss mir das Herz, wenn ich las oder in den alten Filmen sah, wie die Weißen vor Hunderten von Jahren die Afrikaner gefangen genommen hatten, um sie in Amerika zu verkaufen und sie dort zum Arbeiten zu zwingen.

Es quälte mich zu wissen, dass Tausende afrikanische Familien ihren Dörfern und Familien entrissen wurden. Kinder wurden aus den Händen ihrer Eltern gerissen und als kleine Sklaven verkauft. Frauen wurden von den Weißen vor ihren Ehemännern vergewaltigt, um die schwarzen Männer zu demütigen. Meiner Meinung nach sind die Verletzungen, die durch diese schlimme Unterdrückung und den Rassenhass verursacht wurden, bis heute im kollektiven Gedächnis der Afrikaner auf dem gesamten afrikanischen und dem amerikanischen Kontinent vorhanden. Verletzungen, die durch das Brandzeichen der Sklaverei eingebrannt wurden und Jahrhunderte lang anhielten. Ich fühlte mich mit diesen Menschen sehr verbunden, da ich dasselbe Brandzeichen trug, das die Menschen gewaltsam unterteilt hat: in schwarz und weiß, arm und reich, adlig und sozial deklassiert. Doch dieses Zeichen wird nicht von Gott gesetzt, der alle auf die gleiche Weise geschaffen hat und alle auf die gleiche Weise liebt. Auch die schreckliche Misshandlung von Millionen von Menschen während des Zweiten Weltkriegs und der Kriege in Vietnam und Tibet, die ich nur aus Filmen und Büchern kannte, brachte mich zum Weinen und machte mich lange Zeit traurig. Ich konnte diese Geschichten nicht lesen, ohne mich in den Schmerz der Menschen hineinzuversetzen. Für mich war dies alles nicht einfach nur Geschichte, sondern ein Schmerz, der im kollektiven Gedächnis von Millionen von Menschen weiterlebt.

Leider musste ich einsehen, dass in jedem Teil des Planeten Menschen leben, die sich im Laufe der Jahrhunderte wie wilde Bestien verhalten hatten, die ihre eigenen Interessen durch zerstörerische Kriege, Sklaverei oder die Unterdrückung anderer durchgesetzt haben. Ich entdeckte auch die Religionen und ihre politischen Vorteile. Sie haben oft ihre Macht ausgenutzt, um Seelen zu unterwerfen, anstatt sich um sie zu kümmern. So entdeckte ich, dass die Welt und ihre Geschichte nicht so gut waren, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Am Ende war ich mir nicht mehr sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, in meiner kleinen ungebildeten Welt zu bleiben, anstatt weiterhin neue Welten zu entdecken, wie eine unerfahrene Abenteurerin, die sich in den gefährlichen Dschungel begibt. Doch meine Wissbegier sorgte dafür, dass ich nicht davon ablassen konnte, immer mehr zu erfahren, allerdings lernte ich, dass Wissen auch Schmerz mit sich brachte.

Im goldenen Käfig

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