Читать книгу Im goldenen Käfig - Aicha Laoula - Страница 18

Der Psychiater

Оглавление

Seit unserem letzten Aufenthalt in Marokko war ein Jahr vergangen und der nächste Urlaub näherte sich. Der Gedanke daran, die Familie Bilals erneut zu treffen, jagte mir Angst ein, außerdem war ich in meiner Ehe sehr unglücklich, seit wir das letzte Mal in Marokko gewesen waren. Ich hatte das verzweifelte Verlangen danach, zu lieben und mich geliebt zu fühlen, doch meine Familie hatte mir dieses Recht genommen, indem sie einen Mann für mich ausgewählt hatte, der nicht für mich bestimmt war. So gab ich nicht Bilal die Schuld an meinem Unglück. Obwohl ich ihn lieber als Freund und nicht zum Ehemann gehabt hätte. Als ich Bilal fragte, ob er mich liebe, sagte er: Wenn er mich nicht lieben würde, wäre er nicht bei mir. Doch diese Antwort genügte mir nicht. Ich hatte das verzweifelte Verlangen danach, dass er mir seine Liebe unter Beweis stellte. Mich geliebt zu wissen – das hätte es mir vielleicht erträglich gemacht, nicht lieben zu können. Doch nicht einmal das wurde mir gewährt. Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken, platzen und sterben. Ich konnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben ohne Zärtlichkeiten und ohne die Nähe einer Person zu verbringen, von der ich mich geliebt wusste und die ich liebte. Diese Tatsache bescherte mir unbeschreibliches Leid, ein Leid, dass mich Tag für Tag auszehrte und das Jahrzehnte anhielt.

Nachdem ich viel überlegt hatte, kam ich zu dem Entschluss, dass ich mich befreien müsste. So sprach ich mit Bilal und teilte ihm mit, dass ich mich scheiden lassen wollte, dass ich aber gern ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm beibehalten würde. Seine Antwort lautete: Wenn ich mich scheiden lassen wolle, würde er mich zum marokkanischen Konsulat in Bern bringen. Dort könne die Scheidung durchgeführt werden, wonach ich direkt nach Marokko zurückgeschickt werden würde, jedoch ohne Youns, der nach marokkanischem Recht in seiner Obhut bliebe. Er sagte, dass sich die Schweizer Behörden nicht einmischen würden, da wir ja in Marokko getraut worden waren. Ich kannte meine Rechte in der Schweiz noch nicht und so glaubte ich ihm. Eine schreckliche Angst überkam mich, davor, meinen Sohn zu verlieren und auch vor dem großen Skandal, den ich in meinem Land und unter meinem Volk auslösen würde, wenn ich meinen Mann verlassen und wieder zurückgeschickt werden würde. Diese Nachricht wäre für meine Mutter tödlich gewesen, eine fürchterliche Demütigung für meine Brüder aber auch eine große Freude für meine Schwiegermutter und deren Töchter. Bilal sagte oft, wenn wir uns stritten: »Vergiss nicht, was du mir alles zu verdanken hast. Du bist in der Schweiz und hast die Aufenthaltserlaubnis und wenn ich es will, schicke ich dich sofort nach Marokko zurück, doch ohne meinen Sohn Youns.« Diese Drohung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, schlimmer noch als die Drohungen meiner Schwiegermutter. Ich fühlte mich immer bedroht, sowohl in Marokko als auch in der Schweiz, und ich fühlte mich, als lebte ich angekettet in einem Gefängnis. Ich sah keinen anderen Ausweg, als mich all dem zu unterwerfen und wurde schließlich sogar krank. Es blieb mir nichts anderes übrig, als alles zu akzeptieren, als wäre es normal. Ich musste meinem Mann ständig dafür dankbar sein, mich akzeptiert zu haben, wie ich war und mich in dieses Land gebracht zu haben. Trotz alledem hielt ich ihn immer für einen guten Menschen.

Ich hatte keinen Appetit mehr und nahm sehr viel ab, war von Albträumen geplagt und schlief schlecht. Ich hatte Herzschmerzen und war ständig der Bewusstlosigkeit nahe. Bisweilen lief ich im Zickzack, als wäre ich benommen, und dennoch musste ich um halb fünf Uhr morgens aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. Alle bemerkten, dass es mir nicht gut ging. Trotzdem lächelte ich immer und versuchte ein normales Leben führen, doch im Inneren fühlte ich mich wie eine Scheune, die Feuer gefangen hatte, und niemand holte die Feuerwehr. Während meiner Zeit als Sklavin war ich gezwungen gewesen, mich weder zu beschweren noch meine Schmerzen ernst zu nehmen.

Erneut ging ich zu dem alten aber so sympathischen Arzt, mit ihm konnte ich italienisch sprechen. Nach einer Untersuchung und einem kurzen Gespräch sagte er mir, dass ich zu einem Psychiater müsse. »Um was zu tun? Ich bin doch nicht verrückt, oder, Doktor?« »Nein. Der Psychiater wird Ihnen Fragen stellen, um die Ursache für Ihr Unwohlsein herauszufinden.« Er sagte mir, dass der Psychiater Italienisch spräche und in einer psychiatrischen Klinik am Ort tätig sei. Das hat mir ja gerade noch gefehlt. Wenn er mich für verrückt hält, sperrt er mich in der Klinik ein, dachte ich. Zur damaligen Zeit sprachen die Leute schlecht über psychiatrische Kliniken oder Psychologen im Allgemeinen, man sagte, wer zu einem Psychologen ging, wäre nicht richtig im Kopf. In der Tat sagten einige meiner Freunde, denen ich blind vertraute und von denen ich dachte, sie wüssten alles besser als ich, ich solle nicht zu einem Psychiater gehen. Zu einem Psychiater oder einem Psychologen zu gehen, sei ein Zeichen für mangelndes Gottvertrauen, sagten sie. Natürlich war es nicht meine Absicht, Gott nicht zu vertrauen. Leider haben mir diese Freunde, nachdem ich doch entschieden hatte, zu einem Psychiater zu gehen, später gesagt, dass ich dem Psychiater nicht vertrauen und nicht alle Einzelheiten meines Lebens erzählen solle, und dass er einen negativen Einfluss auf meine Gesundheit hätte, anstatt mich zu heilen. Sie sagten, ich müsse einfach Gott vertrauen, dann würde ich schon gesund werden. Kein Mensch könne mich heilen, sondern nur Gott. Ich war hin- und hergerissen zwischen meinem Arzt, der bekräftigte, dass ich einen Psychiater brauchte, und meinen Freunden, die das Gegenteil behaupteten. Erst Jahre später verstand ich, dass ihre Mentalität nichts mit dem Gesetz Gottes zu tun hatte. Damals glaubte ich leider alles, was sie mir sagten. Ich hatte noch keine eigene Meinung entwickelt. Ich wollte jedoch auch meinen Arzt nicht enttäuschen, so ging ich zum Psychiater, dieser saß immer mit übereinander geschlagenen Beinen und dem Notizblock darauf vor mir, auf dem er notierte, was wir besprachen. Er achtete auf meine Bewegungen und Gesten, während ich sprach. »Nun, Frau Laoula, warum sind Sie zu mir gekommen?« »Weil mein Arzt es mir geraten hat.« »Aber wie glauben Sie, dass ich Ihnen helfen kann?« »Ich weiß es nicht. Sie sind der Arzt und sollten wissen, wie sie mir helfen können.« »Sie sind verheiratet, richtig?« »Ja.« »Leben Sie mit Ihrem Mann zusammen?« »Ja.« »Wie läuft es zwischen Ihnen?« »Normal.« »Was meinen Sie mit normal?« »Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich will damit sagen, normal eben.« Er sah mich an und stellte mir weitere Fragen, deren Sinn ich nicht verstand, das machte mich nervös und ich begann zu schwitzen. Als er mir Fragen zu meiner Kindheit stellte, verspürte ich einen Stich im Herz, als würde mir eine körperliche Verletzung zugefügt werden. Ich fühle mich schlecht und beendete dieses Thema sofort. Ich war nicht in der Lage, all den Schmerz hervorzuholen, den ich tief in mir begraben hatte. Im Augenblick beschäftigte mich viel Dringlicheres. Ich tat, wie mir meine Freunde geraten hatten. Ich sprach mit dem Psychiater über Gott und den Glauben und gab ihm nicht die Oberhand über mich. In Wirklichkeit wussten sie überhaupt nichts über meine Vergangenheit als Sklavin. Unterdessen befolgte ich ihren Rat, den Psychiater durcheinanderzubringen, um keinen weiteren Fragen über meine Kindheit oder mein aktuelles Leben ausgesetzt zu sein. In der zweiten Sitzung stellte er mir eine Frage, die mich schockierte: »Wie stellt sich die sexuelle Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Ehemann dar?« Ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss, ich schämte mich zu Tode. Ich war es nicht gewohnt, über solche Dinge mit Männern zu sprechen. Es war bereits zu viel für mich, mit einem Mann zu sprechen, und auch noch alleine, dies war in meiner Kultur verboten. Aber das war der Gipfel: »Ich möchte nicht antworten. Bitte, Herr Doktor, stellen Sie mir keine solche Fragen mehr.« »Ich muss Ihnen solche Fragen stellen, Frau Laoula, um die Ursache für Ihr Problem herauszufinden.« Dabei legte er seine Stirn in Falten und sah mich fürsorglich an. Selbst wenn wir Jahre miteinander gesprochen hätten, mein eigentliches Problem hätte er nie herausgefunden. Mein Problem war meine Kultur und Tradition, meine Kindheit, meine erzwungene Hochzeit, die Drohung, ohne meinen Sohn nach Marokko zurückgeschickt zu werden, meine Vergangenheit als Sklavin und die Schwiegermutter, die mich mit dem Tode bedrohte, und nun auch noch meine Freunde, die mir dazu rieten, mich keinem Psychiater anzuvertrauen. Alles war so kompliziert. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand verstand und mir keiner helfen konnte. Wie hätte ich zum Beispiel einem Psychiater erklären sollen, dass ich im Alter von 15 Jahren gezwungen wurde, mich gegen meinen Willen zu verheiraten, und dass mich meine Familie um fünf Jahre älter gemacht hatte, damit ich nach Europa kommen konnte? Als ich in der Schweiz ankam, war ich 16 Jahre alt und musste behaupten, ich wäre 21 – obwohl natürlich viele bemerkten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Beispielsweise die Busfahrer. Wenn ich mir ein Ticket kaufen musste, boten sie mir eines für Jugendliche an, ich musste jedoch ablehnen und das für Erwachsene nehmen, da ich laut meinen Papieren volljährig war. Die Fahrer sahen mich stets verständnislos an. Ich habe oft darunter gelitten, ein Alter vorzugeben, das ich nicht hatte, heute macht mir dies weniger aus. Als ich beim Psychiater war, war ich 18 Jahre alt, doch alle, auch der Psychiater, hielten mich für 23, wie es in meinen Unterlagen stand. Außerdem, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich gezwungen war, in einer unglücklichen Ehe ohne Liebe und Zärtlichkeit zu leben, hätte er mich vielleicht dazu gedrängt, mich scheiden zu lassen, doch dies war nicht so einfach wie man hätte annehmen können. Meine Kultur und Tradition und selbst meine Freunde hier in der Schweiz hätten dies nicht zugelassen. Auch wenn ich meinen Freunden erklärt hätte, dass ich gegen meinen Willen mit 15 Jahren zur Heirat gezwungen worden war und keine Eheurkunde unterschrieben hatte, sondern dies mein Bruder für mich getan hatte, wäre nichts zu machen gewesen. Für sie hatte meine Ehe Gültigkeit, und wenn ich mich hätte scheiden lassen, hätte ich dadurch das Gesetz Gottes gebrochen. Damals glaubte ich ihnen alles und wollte mich Gott auf keinen Fall widersetzen. Erst 27 Jahre später erfuhr ich, dass ich nach Schweizer Recht nicht legal verheiratet war, angesichts der Tatsache, dass ich minderjährig verheiratet wurde und keine Eheurkunde unterzeichnet hatte, und dass diese Ehe noch nicht einmal vor Gott Bestand hatte. Wie hätte der Psychiater verstehen sollen, dass ich mich seiner Fürsorge nicht anvertraute, weil mir meine Freunde davon abrieten? Wie hätte ich ihm sagen können, dass ich mich nicht scheiden lassen konnte? Und wie hätte er die Bedrohung von Seiten meiner Schwiegermutter verstehen können? Er hätte diese komplexe Situation nicht verstanden, also beendete ich das Thema und ließ es sein. Nicht einmal ich selbst war mir darüber im Klaren, dass ich in der Hölle lebte. Ja, ich hatte mich aus der Sklaverei befreit, jedoch nur, um in einem freien Land wie der Schweiz in einem goldenen Käfig eingesperrt zu sein. Dieser Käfig war meinem Ehemann und seiner Mutter übergeben worden, die mich Tag und Nacht bedrohte, und letztlich war dieser Käfig auch in den Händen meiner Freunde. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben, das von anderen kontrolliert wurde. Ich war gefangen in einem freien Land bis zu dem Tag, an dem ich mich entschied, für immer aus diesem Käfig auszubrechen und den Sprung in die Freiheit zu wagen.

Daher bat ich den Psychiater, mir keine weiteren Fragen zu stellen, doch er verstand nicht warum. Der Arme, er tat nur seine Arbeit. Am Ende musste er aufgeben. Er gab mir Medikamente, doch nachdem ich diese genommen hatte, fühlte ich mich schlecht und torkelte umher wie eine Betrunkene. Als ich beispielsweise in das Zimmer von Youns gehen wollte, ging ich stattdessen zur Haustür hinaus, ehe ich bemerkte, dass das Kinderzimmer ja auf der gegenüberliegenden Seite des Flures lag. Ich hatte Angst, dass ich mein Kind fallen lassen würde. Ich blieb den ganzen Tag mit dem Kleinen im Bett, während er neben mir spielte. Zur Arbeit zu gehen war unmöglich. Nach zwei Tagen hörte ich auf, diese Medikamente einzunehmen. Beim nächsten Mal fragte mich der Psychiater: »Wie ist es Ihnen ergangen? Schlafen Sie besser?« Ich erzählte von meiner Reaktion auf die Medikamente und dass ich sie nicht mehr nahm. »Sie müssen Sie nehmen. Sie zeigen Symptome einer Depression, wissen Sie das? Probieren Sie die halbe Dosis aus und wir werden sehen.« Ich versuchte dies einige Tage, doch ich fühlte mich weiterhin nicht gut, auch nicht mit der halben Dosis. Mir kam es so vor, als sei ich nicht mehr ich – als verlöre ich die Kontrolle über mich. Es wurde schlimmer als zuvor, so hörte ich auf zum Psychiater zu gehen und nahm keine Medikamente mehr. Meine Freunde hatten mir Zweifel eingeredet, indem sie sagten, der Psychiater würde mich nicht heilen, sondern nur noch mehr schaden. Erst einige Jahre später bedauerte ich sehr, die Therapie nicht fortgesetzt und die Medikamente in der niedrigeren Dosis nicht eingenommen zu haben. Am Ende war ich eingeschlossen in meiner Welt voller Schmerz, in der mich niemand verstand.

Im goldenen Käfig

Подняться наверх