Читать книгу Im goldenen Käfig - Aicha Laoula - Страница 19
In Marokko
ОглавлениеIm Januar fuhren wir mit Markus, einem Freund von Bilal, nach Marokko. Er kam um Mitternacht, um uns abzuholen, mit seinem Wohnmobil, das wie ein kleines Haus war, mit einem großen Bett, einer Dusche, einer Küche, zwei Sitzbänken und einem Tisch in der Mitte. Markus war sehr sympathisch und ein positiver Mensch, er lachte immer. Seine Gesellschaft war sehr angenehm. Drei Tage und drei Nächte fuhr er, während Bilal und ich ihm abwechselnd Gesellschaft leisteten, damit er während der Fahrt nicht einschlief. Er ruhte sich täglich nicht mehr als ein oder zwei Stunden aus, um anschließend weiterzufahren. Er hatte sich für die Nebenstraßen entschieden, die durch die Berge und die ländlichen Dörfer und entlang des Meeres verliefen. Für mich war es die erste Reise meines Lebens, die so wunderbar und schön war. Die Schönheit der Natur raubte mir den Atem. Ich war voller Vorfreude, das erste Mal Frankreich und Spanien zu sehen. Nachdem wir in Gibraltar angekommen waren, überquerten wir das Meer mit der Fähre. Youns, der Wasser liebte, war außer sich vor Freude, als er zum ersten Mal auf einer Fähre in der Mitte des Ozeans war. Obwohl er erst ein Jahr und fünf Monate alt war, verstand er schon vieles und konnte bereits viele Gefühle zeigen. Er war ein intelligentes, aufgewecktes und doch ruhiges Kind. Er beobachtete alles und nahm alles wahr, und wenn er etwas nicht verstand, fragte er mich. Wir waren nicht nur Mutter und Sohn, sondern auch beste Freunde. Noch waren es tausend Kilometer Fahrt von Tanger bis zu unserem Ziel. Wie immer war das Haus meiner Schwiegereltern voller Menschen, die Bilal erwarteten. Alles war wie immer, nur mit dem Unterschied, dass wir dieses Mal weniger Geschenke gekauft hatten. Wir hatten gebrauchte Spielsachen und Kleidung dabei, die wir von Freunden geschenkt bekommen hatten. Bilal hatte nur Uhren und Schokolade für alle gekauft. Er hatte seine Familie daran gewöhnt, jedes Jahr neue Uhren von ihm zu bekommen, für die er Hunderte von Franken ausgab. Den Bus hatten wir mit gebrauchter Kleidung, die jedoch in gutem Zustand war, vollgeladen. So konnten wir viel Geld sparen. Ich hatte entschieden, die Schulden zurückzuzahlen und in ein anständiges Haus zu ziehen, das mehr kostete, so bat ich Bilal, in Marokko einzusparen. Für ihn war dies sehr schwierig. Er hatte Angst, die Zuneigung und Liebe seiner Familie zu verlieren, die er im Austausch gegen die Geschenke, die er ihnen machte, erhielt. Ich hielt es für richtig, die Schwiegereltern finanziell zu unterstützen, die jungen Leute hingegen konnten arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. So hatten sie nie die Möglichkeit gehabt zu lernen, allein zurechtzukommen. Die Brüder und Schwestern von Bilal waren stets mit seinem Geld aufgewachsen und hatten nichts anderes gelernt, als zu essen und zu faulenzen. Mittlerweile waren einige davon verheiratet und gaben vor, dass wir auch ihre Familien unterstützen müssten, die ständig größer wurden.
Bevor wir dieses Mal nach Marokko reisten, entschied ich, Bilal davon zu erzählen, was mir seine Familie angetan hatte. Schluchzend und unter Tränen erzählte ich, dass seine Mutter mir mit dem Tod gedroht hatte, dass sie schwarze Magie angewendet hatte, um ihn und mich zu trennen und dafür zu sorgen, dass ich krank wurde und dass ich, während ich bei ihnen gewohnt hatte, von seinen Schwestern und Brüdern verprügelt worden war. Ich erzählte, dass mir seine Mutter ins Gesicht gespuckt und mich ohne Ende beleidigt und gedemütigt hatte, dass seine Eltern mir nicht erlaubt hatten, meine Familie zu besuchen, dass ich sie in dem ganzen Jahr, in dem ich bei ihnen wohnte, nicht gesehen hatte. Außerdem erzählte ich ihm, dass seine Familie ihn betrog, um sein Geld zu bekommen, dass seine Eltern planten, das Haus, dass er ihnen gebaut hatte und die Grundstücke, die er gekauft hatte, auf den Namen seiner Brüder und Schwestern eintragen zu lassen, und nicht auf den seinen. Bilal vertraute seiner Familie blind und dachte, dass sie alles in seinem Namen eintragen lassen hatten, was er in Marokko gebaut hatte, doch so war es nicht. Bilal war schockiert und enttäuscht. Offensichtlich, so sagt er selbst, kannte er seine Familie nicht gut. »Jetzt sind sie aber zu weit gegangen!«, rief er aus. »Ich überlasse ihnen meine Frau und sie behandeln sie wie eine Sklavin? Bastarde! Haben sie vergessen, was ich ihnen alles Gutes tue? Hör zu, Aicha, ich werde ihnen das heimzahlen. Ich werde sie alle verprügeln und aufhören, ihnen Geld zu geben.« »Nein, ich bitte dich! Sag deiner Mutter nichts. Sie hat geschworen, mich umzubringen, wenn ich dir etwas erzähle. Vielleicht kennst du sie nicht, aber sie ist zu allem fähig.« »Ich hatte ständig ein seltsames Gefühl, hätte aber nicht gedacht, dass es so kommt. Ich glaubte, sie zu kennen, doch ich habe mich getäuscht. Seit meiner Jugend wohnte ich nicht mehr bei ihnen, da ich mein Zuhause früh verlassen habe. Ich kam ab und an zu Besuch oder wenn ich ihnen das Geld brachte, das ich verdient hatte. Doch jetzt ist mir alles klar und ich werde sie dafür bezahlen lassen, wenn du mich nicht davon abhalten würdest.« Doch wie ich Bilal kannte, hätte er sie alle verprügelt und am nächsten Tag hätte er sich wieder mit ihnen versöhnt. So hätte sich für mich nichts geändert, höchstens verschlechtert.
Angesichts dessen, dass er vor Wut über seine Schwestern und seine Mutter kochte, dachte ich, es wäre besser, ihm nichts von den sexuellen Übergriffen zu erzählen, die ich durch seine Brüder erlebt hatte. Bilal hätte diese schwere Demütigung nicht ertragen. Ich hatte Angst, dass er sie schwer verprügeln würde. Außerdem schämte ich mich viel zu sehr, um darüber zu sprechen. Ich fühlte mich schmutzig und schuldig. Was mir am meisten Angst einjagte, war, dass Bilal mich hätte verstoßen können, weil mich sein Bruder vergewaltigt hatte und dass dies ein wirklicher Grund für ihn hätte sein können, sich von mir scheiden zu lassen, sobald wir in Marokko ankamen, und so hätte er mir meinen Sohn genommen. Zur damaligen Zeit war es bei uns üblich, dass der Vater das Sorgerecht für die Kinder hatte. Eine Frau ging aus einer Scheidung mit leeren Händen hervor, ohne Kinder und ohne finanzielle Unterstützung. Zum Glück änderten sich diese Dinge für die Frauen auch in Marokko zum Positiven. Von Gesetzes wegen ist es nun verboten, Minderjährige gegen ihren Willen zu verheiraten, doch ich musste leider feststellen, dass sich viele Eltern darüber hinwegsetzen, so wie es damals bei mir war. Wie bei mir wird das Geburtsdatum gefälscht oder das Mädchen gezwungen, vor dem Notar zu bestätigen, dass es heiraten will. Ich habe gehört, dass es in Casablanca sogar Auffangzentren für Mädchen gibt, die ein uneheliches Kind erwarten. Diese Mädchen werden oft aus der Familie und der Gesellschaft ausgestoßen, weil sie diese unverzeihliche Schande über die Familie gebracht haben. In diesen Zentren wird ihnen und ihren Kindern Unterstützung angeboten und sie haben die Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen, um finanziell unabhängig zu sein. Außerdem haben die Frauen jetzt von Gesetzes wegen nach einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder, haben Anspruch auf Unterhalt für die Kinder und auf die Hälfte dessen, was sie gemeinsam mit ihrem Ehemann besessen haben. Darüber hinaus verbietet das Gesetz dem Ehemann, seine Ehefrau zu schlagen. Doch wie aus einer Dokumentation im marokkanischen Fernsehen hervorging, halten sich nur wenige Männer an diese Gesetze. Die Frauen und ihre Familien werden auf schlimmste Weise bedroht, wenn die Frau auf ihre gesetzlichen Rechte besteht. Die Frau hat noch nicht all ihre Rechte in unserer Gesellschaft, die so stark von der Tradition beeinflusst wird, erobert. Vielleicht gelingt dies erst dann, wenn die älteren Generationen gemeinsam mit den alten frauenfeindlichen Konventionen sterben.
Sobald Bilal seine Familie sah, umarmte und küsste er sie und schien alles vergessen zu haben, was ich über sie erzählt hatte. Er verhielt sich weiterhin, als wäre nichts geschehen. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es nichts ändern würde, wenn ich es ihm erzählt hätte.
Markus brachte mich in seinem Wohnmobil zu meiner Familie. Als er die Natur und die Ruhe meines Landes sah, das ihm sehr gefiel, entschied er sich, einige Tage zu bleiben. Als er wieder fahren wollte, funktionierte der Motor des Wohnmobils nicht mehr, so musste der arme Markus einige Wochen dort verbringen, bis ein Ersatzteil aus der Schweiz und eine Fachkraft ankamen und es einbauten.
Dieses Mal machte ich Bilal deutlich, dass ich mehr Tage mit meiner Familie verbringen wollte, allerdings ohne dass mir seine Mutter und seine Schwestern hinterherschlichen. Auch er begleitete uns, schlief aber bei Markus im Wohnmobil mitten in der Landschaft. Dies demütigte mich und machte mich traurig. Ich hätte ihn gern bei meiner Familie gehabt, aber ich wusste auch, dass seine Mutter nicht zuließ, dass ihr Sohn bei meiner Familie blieb. Im Großen und Ganzen war ich sehr glücklich, Zeit mit meiner Familie zu verbringen und ihr endlich über mein Leben in der Schweiz erzählen zu können. Am Abend nach dem Essen saßen wir zusammen auf den Teppichen in einem Zimmer, während das schwache Licht einer Kerze, die auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte stand, das Zimmer erhellte. Alle sahen mich voller Interesse an, während ich von meinem Leben in der Schweiz erzählte: vom Wetter, vom üppigen Gras und den reichen Ernten, und von dem majestätischen Fluss, der die Stadt durchzog, von den Leuten und ihren Sitten und von ihrer Art sich zu kleiden. Ich erzählte auch von Dingen, die meine Familie noch nie gesehen und von denen sie noch nie gehört hatte. Wie zum Beispiel von den Rolltreppen in den Geschäften, der Waschmaschine, der Spülmaschine, vom Staubsauger und anderen Dingen. »Was? Maschinen, die Kleidung und sogar Geschirr waschen?«, sagte Rabiha, und Fadma staunte mit offenem Mund und großen Augen. »Und was machen die Frauen den ganzen Tag, wenn diese Maschinen die Hausarbeit erledigen?«
Ich erklärte, dass der Rhythmus des Lebens in Europa viel schneller und ganz anders als der unseres Dorfes war. Dass die Mehrheit der Frauen zur Arbeit ging, dass die Leute mehr materielle Dinge besaßen und daher auch mehr Bedürfnisse hatten. Die Leute verwendeten mehr Teller und Gläser und Bestecke beim Essen. Nicht wie wir auf dem Land, die mit der Hand von nur einem Teller aßen und alle Wasser aus derselben Tasse tranken, die aus Aluminium oder Terrakotta gemacht war. Außerdem berichtete ich, dass die Menschen in Europa mehr Kleider besaßen, täglich duschten und sich oft umzogen und sie daher Kleidung und Geschirr oft waschen mussten. Daher mussten sie Maschinen erfinden, die ihnen die Arbeit erleichterten. Des Weiteren mussten ihre Häuser geputzt werden, bis sie glänzten. Darum sind die Leute dort ständig unterwegs und haben weniger Zeit als wir auf dem Land.
Sie hörten mir voller Interesse und Neugier zu. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie versuchten, sich alles vor ihrem geistigen Auge vorzustellen, um es besser zu verstehen. Auch mein Stiefvater bombardierte mich mit Fragen zur Politik und zur Landwirtschaft. Er fragte mich, ob es in diesem Jahr in der Schweiz geregnet habe und ob die Leute bereits ihr Land gepflügt hätten, ob die Ernte im vergangenen Jahr gut gewesen sei und so weiter. Voller Erstaunen hörte er, dass es in der Schweiz das ganze Jahr über ausreichend Regen gab, sogar im Hochsommer. Dass der Sommer nicht so warm war wie der in Marokko. Dass das Getreide, vor allem der Mais, so hoch wuchs, wie ich groß war oder gar höher. Dass einige Früchte, wie Äpfel oder Birnen, reif von den Bäumen fielen und dass nicht einmal die Kühe Lust hatten, diese zu essen, da sie vom Gras im Überfluss satt waren. Ich erzählte, dass das ganze Land wie ein grüner Teppich war, von Frühlingsanfang bis zum Einbruch des Winters, dass das Land im Winter vollständig von Schnee bedeckt war und so weiter. Die ganze Familie war verblüfft, von diesem Land erzählt zu bekommen, dass für sie nach einem Paradies auf Erden klang.
Zum ersten Mal hätte ich auch die Möglichkeit gehabt, die schrecklichen Dinge zu erzählen, die ich bei meinen Schwiegereltern während des Jahres, in dem ich bei ihnen leben musste, erlitten hatte, ohne die Vergewaltigung natürlich. Alles, was die Torturen betraf, die ich bei meinen ehemaligen Herrschaften in der Vergangenheit erlebt hatte, wusste ebenfalls keiner in meiner Familie. Es war zu schmerzhaft für mich, mit ihnen darüber zu reden, daher erzählte ich weder von dem einen noch von dem anderen. Es blieb mein Geheimnis, das ich viele Jahre mit mir herumtrug, bis ich endlich teilweise darüber sprechen konnte, doch niemals ganz. Nur dank des Schreibens kann diese Geschichte mein Herz verlassen, doch auch nur zum Teil.
Meiner Familie brachte ich ein Radio mit, sodass sie zumindest die Nachrichten über Marokko hören konnten. Ich kaufte ihnen Kassetten mit Konzertaufzeichnungen berberischer Musik. Auch über die gebrauchte Kleidung, die ich aus der Schweiz mitbrachte, waren sie sehr glücklich. Ich besuchte die Leute im Dorf, die mich abwechselnd einluden. Als Geschenk gab ich ihnen Schokolade und ebenfalls gebrauchte Kleider, sie waren sehr dankbar dafür. Jeder ermunterte mich und sagte: »Iss, Mädchen iss. Du bist viel zu dünn, iss!« Doch nach ein paar Happen bekam ich nichts mehr hinunter. Die Leute dachten sogar, dass mein Mann das Essen vor mir wegsperrte. Ich musste ihnen erklären, dass wir Essen im Überfluss hatten, ich jedoch keinen Appetit verspürte. Tatsächlich ist es bei uns so, dass eine dünne Person nicht dem Schönheitsideal entspricht. Insbesondere die Frauen müssen gut genährt sein, mit breiten Hüften, heller Haut und glattem Haar. Ich entsprach diesem Schönheitsideal überhaupt nicht und ich schämte mich sehr für meinen körperlichen Zustand. Als wir gerade im Urlaub angekommen waren, wollte meine Schwiegermutter eines Morgens, dass ich sie zum Einkaufen auf den Markt begleitete. Da es ein wunderschöner, sonniger Tag war, zog ich mir ein Sommerkleid an, das bis unter die Knie reichte und kurze Ärmeln hatte. Als sie mich so sah, befahl sie mir, meinen Wintermantel anzuziehen, den ich während der Reise getragen hatte, da es in der Schweiz tiefster Winter war. Sie sagte, ich dürfe nicht einmal einen Gürtel anlegen, damit man nicht sähe, wie dünn ich war. Sie sagte, dass sie sich schämte, mit einer Schwiegertochter in die Nachbarschaft zu gehen, die dünn wie die Wirbelgräte einer Sardine war. Es ist eine sehr beleidigende Redensart, da dünn zu sein, in unserer Kultur als Affront gegen die Schönheit gilt. So musste ich für mehrere Stunden in meinem Wintermantel schwitzen, der im Inneren mit Wolle gefüttert war, um meine Schwiegermutter nicht zu beschämen. Als ich zum ersten Mal in die Schweiz kam, war ich sehr überrascht zu hören, dass hier eine schlanke Figur und leicht gebräunte Haut als schön galt. Ich verstand die Welt nicht mehr und wusste nicht, welches der beiden Ideale das richtige für mich sein sollte: das marokkanische oder das europäische. Hier in Europa machten mir die Leute für meine Figur Komplimente, etwas, was mir nie in den Kopf wollte, da ich, wenn ich nach Marokko ging, das Gegenteil zu erwarten hatte, was mir sehr peinlich war. Dort galt: Wer mager war, der war nicht attraktiv oder sogar hässlich.
Obwohl ich bei meiner Familie war, hatte ich Angst vor den Gemeinheiten meiner Schwägerinnen und meiner Schwiegermutter. Ich konnte weiterhin nicht schlafen, wegen der Albträume, die mich aus dem Schlaf rissen. Ich hatte Angst, dass Bilal etwas von dem, was ihm erzählt hatte, verraten würde.
Trotzdem zwang ich mich, mein Land, meine Leute, die wunderbare Sonne und den blauen Himmel zu genießen. Ich besuchte Bilal und Markus, die im Wohnmobil wohnten und im Freien kochten. Meine beiden Onkel mütterlicherseits, die nicht weit davon entfernt wohnten, wo das Wohnmobil geparkt war, brachte Markus und Bilal täglich frisch gebackenes Brot, Pfefferminztee, Butter und Honig vorbei. Gelegentlich brachten sie auch Tajin mit Fleisch und Gemüse. Auch fremde Leute wurden vom Wohnmobil angezogen. Sie brachten Essen vorbei und nutzten die Gelegenheit, sich das Innere des Fahrzeugs anzusehen.
Es war wundervoll, auf dem Land und unter den Olivenbäumen mit meinem kleinen Youns spazieren zu gehen. Er lächelte mich an, während er meine Hand nahm und darauf achtete, nicht über die Steine zu stolpern. Oft malte ich mir aus, was wohl aus meinem Kind werden würde, wenn meine Schwiegermutter mich umbrächte und Bilal ihn ihr anvertrauen würde. Ich hatte begonnen, die Familie von Bilal zu hassen. Gleichzeitig kämpfte ich gegen dieses negative Gefühl, weil Gott ja nicht wollte, dass ich meine Nächsten hasste. Doch das überforderte mich, ich glaubte zu explodieren und zu sterben. Zum ersten Mal wurde ich von Panikattacken übermannt – von einer Angst, die meinen Kopf, meine Gefühle und meinen Körper vollständig einnahm. Dieses Grauen ließ mich erzittern und mir förmlich das Blut in den Adern gefrieren, auch wenn es draußen heiß war. Ich hatte solche Angst zu sterben, und ich dachte immer wieder an die Worte meiner Schwiegermutter: »Ich erledige dich, wenn du es wagst, meinem Sohn auch nur ein Wort zu sagen.«
Was meinen Kleidungsstil betraf, so war diese einigen Personen auf dem Land nicht sehr willkommen. Offenes, langes Haar und ein Kleid mit kurzen Ärmeln, das gerade bis unter die Knie reichte. Doch da dies die Angelegenheit meines Mannes war, sagte niemand etwas dazu. Bilal gefiel es nicht, wenn ich mich traditionell kleidete, wie mit der Djellaba. Mir gefiel dies auch nicht und hatte es nie gefallen. Einmal hatte eine alte Frau zu mir gesagt: »Bedecke dein Haar! Du weißt, dass es bei uns eine Schande ist, es offen zu tragen, oder?« Doch meine Mutter hatte eingegriffen und gesagt: »Lass sie in Ruhe, wenn es ihr Ehemann erlaubt, hat sich keiner einzumischen.« Meine Mutter ließ keine Gelegenheit aus, Bilal als meinen Herren und Besitzer in jeder Hinsicht darzustellen, doch sie tat dies zu ihrem eigenen Vorteil, aus finanziellen Gründen. Nach ein paar Tagen kam meine Schwiegermutter wutentbrannt zu uns, ein herrischer Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sagte zu Bilal: »Wie kannst du deine Familie in unserem Haus auf dich warten lassen, während du hier auf dem Land bist?« »Wie du siehst, bin ich hier mit meiner Frau und meinem Sohn.« Dann sagte sie mit nachdrücklicher Stimme: »Mein Sohn, wenn deine Frau bei ihrer Familie bleiben will, dann kann sie da gerne bleiben, aber du gehörst zu deiner Familie, dein Platz ist bei uns, mein Sohn.« Schließlich gehorchte Bilal seiner Mutter und folgte ihr, und ich musste ihm folgen. Nach ein paar Tage fuhren wir in die Wüste zu seinem Bruder Meshoud. Ich war glücklich, meine Schwägerinnen Hadda und Karima wiederzusehen, die beide die Ehefrauen meines Schwagers Meshoud waren. Karima und Hadda hatten sich gut miteinander verstanden. Sie wohnten im selben Haus, mit zwei Zimmern und einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Bad. In der Mitte des Hofes war ein runder Ofen, in dem sie die Fladenbrote über einem Feuer, dessen Nahrung aus Sträuchern bestand, backten. Auf der ganzen Welt gab es kein besseres Brot als dieses. Hadda und Karima hatten jede ihr eigenes Zimmer. Meshoud verbrachte eine Nacht mit der einen und die nächste Nacht mit der anderen Frau. Doch wenn es vorkam, dass er mit einer von ihnen stritt, wurde der Arme von beiden Frauen weggeschickt und musste in der Küche auf einer Matratze schlafen. Die Frauen hatten dies so vereinbart. Ich bemerkte, dass zwischen Hadda und Karima eine große Verbundenheit bestand. Sie halfen sich gegenseitig wie zwei Schwestern. Es war für mich ein Vergnügen, wie sie sich beide gegen ihren Ehemann verbündeten, wenn es ihnen dieser nicht recht machte. Sie waren sich sogar darüber einig, wie sie mit der Boshaftigkeit unserer Schwiegermutter und Schwägerinnen umzugehen hatten. Hadda hatte unserer Schwiegermutter verboten, auch nur einen Fuß in ihr Haus zu setzen. Sie erzählte, dass, als die Schwiegermutter einmal versucht hatte, sie zu besuchen, sie sie davongejagt hatte. Hadda, die auch von unserer Schwiegermutter gehasst wurde, klärte Bilal über die Boshaftigkeit seiner Mutter mir gegenüber auf und riet ihm, mich von ihr fernzuhalten. Sie erzählte ihm, dass unsere Schwiegermutter ständig versuchte, mich mit schwarzer Magie zu verzaubern, damit ich krank würde und mich von ihm trennte. Hadda schwor bei Gott, dass sie gesehen hatte, wie sie versuchte, mich mit schwarzer Magie zu verfluchen. Während sie sprach, lief ein kalter Schauer meinen Rücken hinab, und ich verspürte Angst. In diesem Augenblick schien Bilal seiner Schwägerin zu glauben, doch sobald wir wieder bei seiner Mutter wären, hätte er alles wieder vergessen. Es war, als ob seine Mutter ihn hypnotisierte, doch ich wusste nicht wie.
Meine Schwägerin Karima hatte ihr erstes Kind bekommen, und Hadda umsorgte es, als wäre es ihr eigenes. Hadda war die erste Frau von Meshoud, doch sie konnte keine Kinder bekommen und war außerdem älter als er. Das war auch der Grund dafür, warum sie von meiner Schwiegermutter gehasst wurde und warum diese seit Jahren versuchte, sie aus dem Leben ihres Sohnes zu vertreiben. Aber Meshoud liebte Hadda und wollte sie daher nicht verlassen. Beide hatten vereinbart, dass er eine jüngere Frau heiraten würde, um Kinder zu bekommen und dass sie als große Familie zusammenleben würden. Und so war es. Karima hatte noch weitere Kinder und alle lebten gemeinsam unter einem Dach. Nach einem Monat kehrten wir in die Schweiz zurück, während Markus in Marokko blieb und durch Nordafrika reiste.
Ab der Rückkehr aus Marokko hatte sich Bilal verändert und wurde mir gegenüber kalt. Alles störte ihn und er wollte allein sein, um nachzudenken. Er hatte keine Lust zu reden, noch war er in Gesellschaft seiner Freunde so fröhlich wie sonst. Er klagte über Kopfschmerzen und wollte nicht gestört werden, die Wochenenden verbrachte er damit, zu schlafen. Er ging immer seltener mit mir und Youns aus, und wenn, dann nur widerwillig. Er lebte in einer Welt wo er seinen Trost im Alkohol gefunden hatte. Dies machte mich fürchterlich traurig und ich fühlte mich allein. Ich verbrachte die Abende und Wochenenden mit Hausarbeit oder Lesen oder traf mich mit meinen Freunden. Ich war überzeugt davon, dass seine Mutter ihn auf irgendeine Weise negativ beeinflusst hatte. Manchmal sprach er mit mir über seine Träume und seine Wünsche, doch unsere finanzielle Situation ließ es nicht zu, seine Träume umzusetzen und dies gab ihm ein Gefühl der Machtlosigkeit. Er war sprichwörtlich gefangen in den Klauen seiner Familie und musste für sie wie ein Esel arbeiten. Gott sei Dank erholte er sich von dieser Krise, die allerdings mehrere Monate andauerte.