Читать книгу Lias und der Herr der Wellen - Akram El-Bahay - Страница 10

STURMFRESSER

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»Wo kommt er her?« Der Herr der Wellen stand so dicht vor Lias, dass der sich in dem Perlenauge spiegeln konnte. In dem Roman von Tante Hermine hieß es, dass der Pirat mit ihm bis in die Herzen der anderen Menschen blicken und die Lügen von der Wahrheit unterscheiden konnte.

»Er war auf einmal da«, erwiderte der Mann mit der Narbe. »Wir wollten gerade runter in den Laderaum, als …«

»Er ist ein blinder Passagier«, unterbrach ihn der andere eilfertig. Vermutlich wollte er sich bei seinem Kapitän beliebt machen.

»Das bin ich nicht«, sagte Lias, der den Rest seines Mutes zusammennehmen musste angesichts der Piraten. Wo genau war er hier? Der Herr der Wellen war eine Figur aus dem Buch seiner Großtante. Dann steckst du offenbar zwischen den Seiten, Lias, sagte er sich. Aber das war unmöglich. Lias schüttelte den Kopf, als könnte er diesen undenkbaren Gedanken vertreiben wie ein lästiges Insekt. Doch welche Erklärung konnte es sonst für all das hier geben? Und steckte irgendwo der Unsichtbare, dem er in das verschlossene Zimmer gefolgt war?

»Er ist dem Jungen wie aus dem Gesicht geschnitten«, rief einer aus der kleinen Menge, die sich hinter dem Herrn der Wellen gebildet hatte.

»Verdammt«, zischte der Pirat mit der Narbe. »Das stimmt. Das kann nur eines bedeuten.«

Lias verstand nicht. Wie wer sah er aus? Und was bedeutete es? Er hing wenigstens ebenso gespannt an den Lippen des Piraten wie die anderen.

»Er ist ein Maskenschnitzer.«

Ein Raunen ging durch die Menge und einige der Männer blickten Lias mit grimmiger Miene an.

»Ein Maskenschnitzer bringt Unglück über das Schiff, auf dem er sich einnistet«, zischte ein Alter, dessen Haut so braun war, dass sein weißes Haar hell zu leuchten schien. Maskenschnitzer. Lias hatte von ihnen in dem Roman gelesen. Seine Großtante hatte sich die Meeresgeister ausgedacht, die aus besonderen Muscheln die Gesichter von Menschen schnitzten und sich dann als diese ausgaben. Sie waren nicht sehr gefährlich, aber sie brachten alles durcheinander, weil niemand genau wissen konnte, wer echt war und wer nicht.

»Ich bin ein Junge«, rief Lias.

»Seht ihr?« Der Alte zeigte mit dem Finger auf Lias. »Er lügt. Alle Maskenschnitzer lügen.«

»Soll ich etwa behaupten, dass ich ein Maskenschnitzer bin?«, fragte Lias, der vor Ärger über diese Beschuldigung glatt seine Angst vergaß.

»Aha!« Der Alte klang triumphierend. »Er gibt es also zu.«

»Nein«, erwiderte Lias. Das war doch völlig verrückt. »Ich …«

»Junge«, rief der Piratenkapitän, der sich alles ruhig angehört hatte. Er hatte sich umgewandt und winkte jemanden herbei.

Ein Murmeln erhob sich unter den Seeleuten. Es klang, als verberge sich ein Schwarm Bienen zwischen ihnen. Ein einzelner Junge trat mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht aus dem Pulk heraus. Für einen Moment verschlug es Lias die Sprache. Er hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Das dort … war er. Oder eine Art Zwilling? Aber wie konnte das sein?

Weil du zwischen den Seiten des Herrn der Wellen steckst, Lias, sagte er sich. So unglaublich das auch klingen mochte. Wenn das stimmte, dachte er, dann war das dort … »Sila.« Der Name rutschte ihm so selbstverständlich über die Lippen, als hätte er ihn schon sein halbes Leben lang benutzt. So vertraut erschien Lias der Junge, dessen Weg er in einem Schiff aus Buchseiten über ein Meer aus Tinte gefolgt war.

Die wachen Augen in dem dreckigen Gesicht, das seinem unfassbar ähnlich war, blickten ihn erstaunt an. Augen so blau wie seine eigenen. Nur der Zopf, den Sila trug, unterschied sie. Also hatte Tante Hermine den Helden seines Romans doch ihm nachempfunden. Aber das war vor vielen Jahren gewesen. Er sieht so aus wie du, weil du ihn dir so vorgestellt hast, sagte er sich. Ja, so musste es sein.

»Woher kennst du meinen Namen?«

Selbst ihre Stimmen klangen beinahe gleich. Silas wirkte nur ein wenig ernster. Vielleicht hatten die erlebten Abenteuer und das harte Leben auf den Planken der Glücksdame ihn schneller erwachsen werden lassen.

Lias wollte etwas sagen, doch der vernarbte Pirat drückte ihm kurzerhand den nassen Mopp gegen den Mund. »Er darf nichts sagen«, brachte der Mann aufgeregt zwischen den gelben Zähnen hervor. »In seiner Kehle wird der Klang eines Namens zum Fluch für seinen Träger.«

Einige der Piraten zischten böse.

Sila aber sah zweifelnd von dem Mann mit der Narbe zu Lias. Im Gegensatz zu den anderen glaubte Sila offenbar nicht, dass Lias ein Maskenschnitzer war.

Und auch der Herr der Wellen schien wenig überzeugt. »Seltsam«, bemerkte der Kapitän und beugte sich zu Lias hinab. »Ich dachte immer, Maskenschnitzer seien lichtscheu und würden sich vor allem in der Nacht zeigen. Außerdem«, er sah von Lias zu Sila, »ist er viel sauberer als unser Sila hier.«

»Umso gefährlicher ist er, Käpt’n«, behauptete der Pirat mit der gebogenen Nase. »Lasst mich ihm seine Zunge herausschneiden, damit er nicht am Ende noch Euch verfluchen kann. Und dann werfen wir ihn über Bord.«

Bei diesen Worten versuchte sich Lias, aus dem Griff des Piraten zu winden. Die Hände aber hielten ihn fest gepackt, und als er sich verzweifelt mühte, etwas zu sagen, lief ihm das dreckige Wasser aus dem Mopp in die Kehle und ließ ihn husten.

»Nun«, der Herr der Wellen fuhr sich über die raue Haut, auf der sein Bart wie wildes Gras wuchs, »das erscheint mir arg blutig für dieses Schiff. Nein, wir werden ihn in Eisen legen. Wir laufen in ein paar Stunden Marina Bay an. Dort werde ich sehen, was ich mit ihm mache. Ein Maskenschnitzer, hm?« Das Perlenauge des Piraten blieb an Lias’ Kopf hängen, als könnte er ihm die Gedanken von der Stirn lesen. »Wir werden ihn ihr zeigen. Sie wird wissen, was er ist.«


Wäre die Lage nicht so gefährlich gewesen, hätte Lias lachen müssen, als er hinab unter Deck gebracht und an einen der drei Maste gebunden wurde. Die beiden Piraten, die ihn entdeckt hatten, waren bemüht, ihn vor sich herzuschieben, ihm dabei den Mund mit dem Mopp zu verschließen und gleichzeitig sich selbst die Hände auf die Ohren zu pressen. Er hatte erwartet, dass sie ihn durch die Tür bringen würden, durch die er in diese Geschichte gestolpert war. Die Hoffnung war in ihm aufgekommen, dass er so auch wieder nach Hause gelangen würde. Stattdessen hatten sie ihn durch eine andere Tür getrieben, verfolgt von den ebenso angsterfüllten wie feindseligen Blicken der Piraten. Nur der Herr der Wellen und Sila hatten ihn mit anderen Augen angesehen. Der Pirat nachdenklich, der Junge … voller Fragen und Mitgefühl.

Wenigstens waren die Eisenschellen, die Lias’ Handgelenke umschlossen, nicht zu eng. Und immerhin hatte man ihn in den Laderaum gebracht und nicht irgendwo an Deck gekettet. In der Sonne konnte es sicher schnell zu heiß werden.

Dennoch saß er entmutigt gegen den Mast gelehnt, die gebundenen Hände hinter dem Rücken, und blickte auf die Kisten und Fässer, die mit groben Tauen in dem Laderaum festgebunden waren. Wie um alles in der Welt sollte er wieder nach Hause kommen? Und konnte er das überhaupt? Lias begriff nicht einmal, wie er hier hergelangt war. Er war bloß im Haus seiner Großtante durch die Tür gefallen, die in den Flur führte. Und doch hatte er sich auf der Glücksdame wiedergefunden, in das Perlenauge des Herrn der Wellen gesehen und war Sila begegnet. Dem Jungen, den er so sehr für seinen Mut bewunderte. Einem Impuls folgend bäumte er sich in seinen Fesseln auf und zog mit aller Kraft. Doch die Eisenschellen schnitten Lias nur ins Fleisch und ließen ihn vor Schmerzen aufkeuchen.

»Das würde ich lieber sein lassen.« Die Stimme war neben Lias erklungen. »Du siehst ja aus wie unser Sila.«

Er drehte den Kopf so weit, bis er erkennen konnte, wer da gesprochen hatte. Er merkte, wie sein Mund aufklappte, als er den lässig gegen eine Holzkiste gelehnten Mann anstarrte. Einen Mann, der eben noch nicht da gewesen war. Einen Mann, der lediglich eine kurze blaue Hose trug. Und der nur etwa doppelt so groß wie Lias’ Hand war.

»Du … du … du bist ein Perlentaucher«, wisperte er verblüfft. Wieso überrascht dich das, Lias?, fragte er sich. Du bist an Bord der Glücksdame. Und du hast von den Perlentauchern gelesen. Lias hatte sie sich fast genauso vorgestellt wie die kleine Gestalt, die er vor sich stehen sah. Nur die Haare, die ihr grün wie Algenfäden vom Kopf hingen, waren noch wilder als in Lias’ Fantasie. Perlentaucher waren geradezu winzig. Doch sie waren kräftiger als ein ausgewachsener Mann. Viel kräftiger.

»Schlaues Bürschchen«, meinte der Perlentaucher und deutete auf Lias’ Fesseln. »Und was hast du ausgefressen? Kommt nicht oft vor, dass das Perlenauge jemanden in Eisen legen lässt. Hat eigentlich ein butterweiches Herz, der Mensch.«

Lias nickte. Er wusste, dass der Perlentaucher am eigenen Leib erfahren hatte, wie weich es war. In dem Roman seiner Großtante wurde erzählt, wie der Herr der Wellen während seiner Flucht vor königlichen Soldaten die Meeresbewohner aus einer tödlichen Gefahr gerettet und sich selbst dabei in Lebensgefahr begeben hatte. Aus Dank hatten die Perlentaucher dem Piraten einen besonderen Schatz geschenkt und sich in seinen Dienst gestellt. Seither überließen sie ihm einen Teil der Perlen, die sie aus dem Meer holten. Und derjenige, der dem Herrn der Wellen die lebenslange Treue geschworen hatte, stand nun direkt und leibhaftig vor Lias. Sein Name rutschte ihm wie von selbst auf die Zunge.

»Ich bin übrigens …«, fing der Perlentaucher an, doch Lias fiel ihm ins Wort.

»Nakao. Du bist Nakao. Ich habe schon so viel von dir gehört.«

Nun war es der Perlentaucher, der verblüfft dreinblickte. »Offenbar bist du mehr als nur schlau«, meinte er mit plötzlichem Misstrauen in der Stimme. »Ich wusste nicht, dass mir mein Ruf vorausgeeilt ist.«

»Ich weiß alles von dir«, sagte Lias, froh darüber, dass er in seinem Gefängnis jemanden getroffen hatte, den er kannte. Irgendwie zumindest. »Also fast alles. Du … du bist der Prinz der Perlentaucher. Aber du hast dich mit deinem Vater zerstritten, weil du nicht auf eurer Insel bleiben, sondern die Welt sehen wolltest. Also bist du mit einigen deiner besten Freunde auf einem Floß losgefahren. Aber schon nach ein paar Tagen seid ihr in einen tödlichen Sturm geraten. Und weil ihr keine Ahnung vom Segeln hattet, seid ihr gekentert.«

Mit offenem Mund hatte Nakao zugehört, doch nun runzelte er verärgert die Stirn. »Was meinst du mit keine Ahnung?«, fragte er hörbar beleidigt.

»Ohne Schuld in eine ausweglose Situation geraten, wollte ich sagen«, erwiderte Lias schnell, der ganz vergessen hatte, wie stolz die Perlentaucher waren.

Das schien Nakao zufriedenzustellen. Er reckte sich in die Höhe, was ihn nur unwesentlich größer machte. »Es war eine sehr gefährliche Fahrt«, sagte er und betonte jedes Wort, als wollte er verhindern, dass auch nur der Hauch eines Zweifels an ihnen haften blieb. »Und es war hilfreich, dass der Mensch zufällig vorbeikam. Also haben wir uns entschlossen, ihm ein wenig zur Hand zu gehen, denn er wirkte sehr …«

»… hilfsbedürftig?«, bot Lias an.

Der Perlentaucher nickte. »Könnte man so sagen. Gut, du weißt einiges. Aber gerade das macht dich reichlich verdächtig. Und ist vermutlich auch der Grund dafür, dass du in Eisen gelegt wurdest. Wofür halten dich die Riesen da oben?« Nakao deutete mit dem Daumen zur Decke des Laderaums. »Einen Spion oder so?«

»Für einen Maskenschnitzer«, antwortete Lias.

Nakao gab sich keine Mühe, sein Lachen zu unterdrücken. »Ein Maskenschnitzer? Himmel. Den Kerlen fällt doch ständig das Gesicht herunter. Selbst ein Blinder sieht ihnen die falsche Haut auf den Knochen an. Typisch Menschen. Du bist ein Junge. Ich erkenne das sofort. Allerdings …« Nakao kniff die Augen zusammen, und Lias fühlte sich unangenehm gemustert. »Da ist etwas, das mir irgendwie seltsam erscheint. Du trägst ein Geheimnis in dir.«

Lias war einen Moment lang unsicher, wie offen er dem Perlentaucher gegenüber sein konnte, doch dann nickte er. Vielleicht war Nakao seine einzige Chance, die Figuren dieser Geschichte davon zu überzeugen, dass er kein Maskenschnitzer war. Wer konnte schon sagen, was sie mit ihm machen würden, wenn sie ihn erst zu ihr gebracht hatten?

»Ich …«, begann er, doch weiter kam er nicht. Ein Krachen ließ ihn die Worte verschlucken und ein Stoß erschütterte das Schiff so sehr, dass Lias kurz in die Höhe gerissen wurde. Der Perlentaucher konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Das Schiff begann mit einem Mal zu schaukeln, als würde es wild über das Meer tanzen.

»Verdammt«, zischte Nakao. »Was war das denn?«

Lias konnte nichts darauf sagen. Die Eisenfesseln schnitten in seine Haut, und er biss sich auf die Lippen, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken. Ohnehin hätte er die Antwort nicht gekannt. Diese Welt hier war ihm fremd. Er wusste nicht, was geschah. Oder doch?

Nakao stolperte schon auf die Treppe zu, die hinauf zum Deck führte. Die Abstände zwischen den Stufen waren für ein solch kleines Wesen viel zu groß. Trotzdem sprang er sie scheinbar mühelos empor, als hätte er die Beine eines Frosches.

In Lias’ Kopf überschlugen sich die Gedanken. Auch im Roman hatte etwas das Schiff des Herrn der Wellen erschüttert. Etwas, das mit einem Sturm gekommen war. Spielten sich alle Ereignisse nun so ab wie in den Worten seiner Tante Hermine? Von oben drangen die aufgeregten Rufe der Piraten herab. Dumpfe Schritte. Lautes Poltern. Jemand rief: »Vorsicht!« Und eine andere Stimme befahl, die Kanonen auszurichten. Genau wie in der Geschichte, dachte Lias. Er ahnte, was er als Nächstes hören würde. Und da war es. Ein lang gezogenes, sirenenhaftes Brüllen legte sich über den Lärm und schien den ganzen Laderaum zu erfüllen.

Lias vergaß kurzzeitig zu atmen. Der Perlentaucher war die Treppe schon zur Hälfte hinaufgesprungen, als Lias ihm, so laut er konnte, zurief: »Sieh nach, ob dort ein Sturm aufkommt!«

Nakao warf ihm einen fragenden Blick zu, doch dann nickte er und war im nächsten Moment verschwunden.

Lias aber blieb dort zurück, alleine und voller Angst. Quälend lange Augenblicke verstrichen, in denen Lias nichts als den Lärm von oben hörte.

Endlich erschien Nakao wieder. Doch er war nicht alleine. An seiner Seite erkannte Lias den Jungen, der ihm so sehr ähnelte, als würde er in einen Spiegel blicken.

»Sila«, rief er.

Die Augen des anderen waren dunkel vor Misstrauen. Kein Wunder, dachte Lias bei sich. Wie hätte er reagiert, wenn ein Zwilling unversehens durch das Haus seiner Großtante laufen und ihn beim Namen nennen würde?

»Was ist das da draußen?«, fragte der Schiffsjunge.

»Ich bin nicht sicher«, erwiderte Lias und musste sich anstrengen, seine Angst wie etwas Ungenießbares hinunterzuschlucken.

»Du weißt von dem Sturm, der aufzieht.« Nakao richtete einen seiner Finger auf ihn, während er die letzten Stufen heruntersprang und an Silas Seite auf Lias zuging.

»Er ist da?« Lias stöhnte. »Dann sind wir in größter Gefahr.«

»So plötzlich kommt kein Sturm auf«, sagte Sila. »Das Meer war bis eben so ruhig, als wäre es in einen tiefen Schlaf gefallen. Was hast du damit gemacht?«

»Ich?« Lias’ Mund klappte auf. Dachten sie etwa, er habe etwas mit dem Sturm zu tun? Offenbar schon. Zeit, alles zu erzählen, was er wusste. Und zu hoffen, dass ihm die beiden glaubten. »Manche nennen ihn den Sturmfresser, weil er immer dort erscheint, wo Stürme sind, als würde er sie jagen. Aber er ist es selbst, der die Stürme mit sich bringt. Andere sagen, es sei das Meer. Es würde seine Gestalt annehmen, wenn es zornig auf die Menschen wäre. Aber auch das stimmt nicht.« Sila und Nakao hingen sprachlos an Lias’ Lippen. »Er ist ein Lebewesen. Einzigartig. Er ähnelt einer gewaltigen Seeschlange mit einem Maul, das groß genug ist, um ein Schiff zu verschlingen. Hörner wachsen ihm aus dem Kopf und sie sind ebenso weiß wie seine Zähne. Seine Haut aber ist so durchscheinend, als bestünde er aus dem Wasser des Ozeans.« Lias runzelte die Stirn, als er sich die Worte aus dem Buch seiner Tante Hermine in Erinnerung rief. »Es gibt keine von Menschenhand gefertigte Waffe, die den Sturmfresser töten kann.«

»Spannend«, kommentierte Sila und musste sich an einer angebundenen Kiste festhalten, als ein weiterer Stoß das Schiff erzittern ließ. »Aber das klingt wie ein Märchen.«

Lias deutete auf den Perlentaucher. »Er weiß, dass es stimmt. Er hat so etwas schon mal gesehen.«

Sila blickte zu Nakao. »Wovon redet er?«

Der Perlentaucher kniff die Augen zusammen, als müsste er in eine weit entfernte Vergangenheit blicken. Dann zeigte sich ein Ausdruck des Verstehens auf seinem kleinen Gesicht. »Lange Geschichte«, murmelte er nachdenklich. Das Schiff schwankte immer heftiger. »Und nicht genug Zeit für sie. Aber der Riesenjunge hat recht. Ich habe so etwas schon mal zu Gesicht bekommen. Sturmfresser also heißt dieses Ding? Entzückend. Wie besiegt man es?«

»Keine Ahnung. Nicht mit Waffen zumindest«, erwiderte Lias. Er erinnerte sich noch ganz gut an die Seiten, in denen Tante Hermine die Konfrontation mit dem Sturmfresser beschrieben hatte. Seiten voller Worte, die ihn schneller vor Aufregung hatten atmen lassen. »Ich sage euch, was ich weiß, wenn ihr mich freilasst.« Lias blickte von dem Perlentaucher auffordernd zu Sila.

»Und warum?«, fragte der Schiffsjunge und sah Lias weiter misstrauisch an.

»Weil ich ebenso wenig sterben will wie du. Du kannst mir vertrauen. Wir sind uns … ganz schön ähnlich.«

Es war Sila vom Gesicht abzulesen, wie schwer er sich damit tat, Lias zu glauben.

Wieder wurde das Schiff durch einen harten Stoß erschüttert. Etwas war gegen die Glücksdame geprallt.

»Kein Sturm kann ein Schiff rammen«, versuchte es Lias. Er konnte seine Stimme kaum ruhig klingen lassen.

»Vielleicht sollten wir ihn nach oben bringen, damit er dem Käpt’n von diesem Sturmfresser erzählt«, meinte der Perlentaucher. Er wirkte so ruhig, als säßen sie gerade beim Nachmittagstee und plauderten über das Wetter. Kein Wunder. Nach dem, was Lias von den Perlentauchern wusste, fürchteten sie sich vor nichts.

Sila rang mit sich, während die Stimmen an Deck immer lauter und aufgeregter wurden. Die ganze Besatzung musste auf den Beinen sein. Es waren etwa dreißig Mann, wenn sich Lias richtig erinnerte. Dreißig Mann und ein Dutzend Perlentaucher.

»Was geschieht, wenn …«

»… der Sturmfresser das Schiff erwischt?«, beendete Lias die Frage des Jungen. Was hatte seine Großtante noch geschrieben? Der Sturmfresser hungerte nach Leben. Doch noch mehr hungerte er nach etwas ganz Bestimmtem. Etwas, das er auf dem Schiff des Herrn der Wellen witterte. Etwas, das er unbedingt wollte. Und er würde sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. »Dann kommt der Tod.« Lias flüsterte die Worte. Als könnten sie nur grausame Wirklichkeit werden, wenn man sie laut aussprach. Ihm war gerade wieder eingefallen, welches Besatzungsmitglied die Fahrt nicht überleben würde. »Ich weiß, was er will«, sagte Lias. Er musste sich anstrengen, um seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Und ich weiß, wo es ist. Wenn wir uns beeilen und es ihm aushändigen, muss vielleicht keiner sein Leben verlieren.« Konnte er tatsächlich die Geschichte verändern? Hoffentlich.

»Ach, und woher weißt du das alles? Hast du es irgendwo gelesen?«, wollte Nakao wissen. Er hatte sich nun lässig mit verschränkten Armen auf Lias’ Fuß gesetzt und schwankte dort im Takt des Wellengangs von links nach rechts.

»Verdammt«, rief Lias aufgebracht. »Wir müssen uns beeilen. Wenn ihr mich nicht losmacht, erfährst du es nie.«

»Weil wir alle sterben, ich weiß«, erwiderte Nakao ungerührt.

»Eigentlich nicht alle.« Ihn schauderte es, als er die nächsten Worte über die Zunge zwang. »Nur du.«

Diesmal war der Perlentaucher sprachlos. Für einen Moment sagte keiner auch nur ein Wort. Dann erschütterte wieder etwas das Schiff, so hart, dass sich das Geräusch von zersplitterndem Holz in den Krach mischte.

»Du musst mich befreien«, drängte Lias den Perlentaucher. »Wenn du es nicht tust, wirst du vom Sturmfresser verschlungen. Du wirst dich dazu entscheiden, ihn vom Schiff fortzulocken, um deine Lebensschuld beim Herrn der Wellen zu erfüllen. Und dabei erwischt er dich.«

Im Buch waren die Glücksdame und ihre Besatzung nur mit Mühe dem Geschöpf entkommen. Doch ob ihnen das diesmal auch gelang, wusste Lias nicht. Die Angst vor dem Tod saß ihm wie Frost auf der Haut.

Nakao nickte. Bei aller Furchtlosigkeit war ihm deutlich anzusehen, dass ihn Lias’ Worte getroffen hatten. »Das klingt ganz nach mir. Ich bin eben ein echter Teufelskerl«, meinte er mit rauer Stimme. Er sah zu Sila. »Ich bin ein wenig unsicher. Was meinst du? Soll ich ihn befreien? Nur zur … Sicherheit?«

Sila starrte Lias an. Und dann endlich gab er sein Misstrauen auf. Auf sein Nicken hin sprang Nakao vor. Seine Finger passten gerade in das Schloss hinein, das an Lias’ Kette hing. Und sie waren stark genug, um den Mechanismus mit Gewalt zu öffnen.

Lias streifte sich die Fesseln rasch ab. »Wir müssen zum Herrn der Wellen«, sagte er hastig.

»Wozu?«, wollte Nakao wissen. »Was kann er gegen diesen Sturmfresser ausrichten, was ich nicht könnte?«

»Wahrscheinlich fast alles. Du bist nicht mal einen halben Meter groß«, meinte Sila trocken.

»Aber dafür bin ich viel schlauer als ihr dämlichen Riesen«, bemerkte der Perlentaucher beleidigt.

»Er kann auch fast gar nichts tun«, meinte Lias.

»Aha«, rief Nakao. Und fiel um, als das Schiff erneut von einem Stoß erschüttert wurde.

»Außer dem Sturmfresser etwas zurückzugeben.«

»Der perlenäugige Dummkopf hat ihm etwas gestohlen?«, fragte Nakao.

»Nein«, erwiderte Lias. »Das warst du. Und du hast es dem Herrn der Wellen geschenkt.«


An Deck war Chaos ausgebrochen. Einige der Männer mühten sich, die Kanonen des Schiffs auszurichten. Über ihnen blähten sich die Segel im Sturm, in dem sich das Meer wild wie ein Raubtier gebärdete. Der Rest der Mannschaft war damit beschäftigt, sich mit langen Speeren und Harpunen auszustatten. Befehle wurden gebrüllt. Und in all der Aufregung stand der Herr der Wellen am Steuerrad und starrte angestrengt über die aufgewühlte See. Rauschen und Heulen erfüllte den Ozean.

Lias wusste genau, wo er war. Nicht an welchem Ort. Aber an welcher Stelle im Buch. Immerhin hatte er diese Szene gerade gelesen, ehe ihn die Geräusche in das Erdgeschoss des Hauses gelockt hatten. »Ihr trefft zum ersten Mal auf den Sturmfresser«, schrie Lias. »Wir müssen uns beeilen, sonst geschieht ein Unglück.« So schnell er konnte, lief er los.

»Warte«, rief ihm Sila hinterher.

Aber Lias wartete nicht. Er wusste, dass jeder Augenblick, jede Sekunde zählte. Der Herr der Wellen blickte ihn überrascht an.

»Steuern Sie das Schiff fort!«, rief Lias, noch während er lief. Der Wind pfiff ihm hart ins Gesicht, als wollte er ihm die Worte zurück in den Mund drücken.

Der Herr der Wellen legte den Kopf schief und strich sich über die Bartstoppeln. Er schien abzuwägen, ob er den so unverhofft auf seinem Deck erschienenen Lias für eine Gefahr hielt oder nicht.

»Sonst muss jemand sterben.« Endlich erreichte Lias die Treppe, die hinauf zum Steuerrad führte. Mit einem Satz nahm er zwei Stufen, stolperte und rannte weiter. Bis er vor dem Herrn der Wellen stand. »Es ist keine Lüge.« Lias blickte genau in das Auge, das nur die Wahrheit erkannte.

Der Pirat deutete auf das aufgewühlte Meer. »Kein Sturm kann mich bezwingen«, behauptete er. »Und auch kein Wal oder was immer uns da gerammt hat.«

»Bitte«, wisperte Lias atemlos. »Ich kann es erklären. Aber nicht jetzt. Da ist kein Wal. Dieser Sturm, er ist wie damals, nicht?«

»Hör auf ihn, Käpt’n«, sagte Nakao japsend, als er zusammen mit Sila ebenfalls das Steuerrad erreichte.

»Wovon spricht der Junge?«, fragte der Herr der Wellen.

»Der Sturm. Damals. Du weißt schon«, sagte Nakao, ganz die Ruhe selbst. »Wie es scheint, werde ich sterben, wenn wir nicht umkehren. Oder du etwas herausrückst, was ich dir einmal gegeben habe.«

Einen Augenblick lang starrte der Herr der Wellen erst Nakao und anschließend Lias fragend an. Dann gab er sich einen Ruck und fing an, den Kurs zu ändern. Schwerfällig wie ein Greis bewegte sich das Schiff.

»Du bist ein seltsamer Kerl, Maskenschnitzer«, rief der Pirat, um das Tosen des Windes zu übertönen. »Erscheinst aus dem Nichts. Befreist dich aus meinen Ketten. Kannst offenbar in die Zukunft sehen.« Er warf ihm einen Blick zu. »Kommt nicht oft vor, dass jemand auf meinem Schiff mehr weiß als ich.«

»Er … er ist keine Gefahr«, erwiderte Sila. »Glaube ich.«

»Nun, dein Zwilling hat sich befreit. Und ich frage mich, wie er das geschafft hat. Oder weshalb ich das Schiff …«

Ein gewaltiges Schnauben schnitt dem Pirat die Worte von den Lippen. Kaum fünfzig Meter von der Glücksdame entfernt stieg eine Fontäne aus Wasser mit so viel Kraft in die Luft, als säße dort ein Riese unter der Oberfläche, der es ausgespien hatte.

»Deshalb«, erwiderte Lias.

Aus dem Wasser schob sich ein gewaltiges Maul, als seien dem Meer Zähne gewachsen. Der Ozean schien in das Maul zu strömen, und ein Strudel entstand dort.

Lias konnte sehen, wie die Piraten erbleichten. Das Schiff wurde bereits von dem Strudel erfasst. Als würden unsichtbare Finger nach dem Rumpf greifen und ihn gegen den Sturm zu sich ziehen. Die Glücksdame stöhnte wie eine Verwundete.

»Zu spät«, wisperte Lias. »Wir können nicht mehr entkommen. Er muss zurückbekommen, was Nakao ihm gestohlen hat.«

»Ich bevorzuge es, meine Gegner zu kennen, Junge. Also, wärst du so liebenswürdig, mir zu verraten, mit wem oder was ich es gerade zu tun habe?«, fragte der Pirat drängend, während er verzweifelt versuchte, das Schiff aus dem unsichtbaren Griff des Strudels zu befreien.

»Sie haben ihn schon einmal gesehen«, brüllte Lias mit aller Kraft, um den Krach um sie herum zu übertönen. »Ich habe es gelesen. Sie haben die Perlentaucher aus dem Herzen des Sturms gerettet. Ein gewaltiger Strudel war dort. Aber Sie haben nie begriffen, dass es kein echtes Unwetter war. Du«, er sah zu Nakao, »hattest etwas aus dem Meer geholt. Etwas Einzigartiges.«

»Woher weißt du davon?« Das gesunde Auge des Herrn der Wellen weitete sich. »Nur die Winzlinge und ich waren dort.«

»Wer ist hier ein Winzling?«, empörte sich Nakao, doch niemand achtete auf ihn.

»Die Perlentaucher haben den Sturmfresser damals geweckt.« Lias sprach so schnell, dass er beinahe über die Worte stolperte. »Und nun sucht er nach Schiffen, denn der, der ihm seinen größten Schatz gestohlen hat, ist ihm auf einem entkommen. Darum verschlingt euer Gegner jedes Schiff, auf das er trifft. Hofft, dass er bei einem findet, was ihm gestohlen wurde. Und nun hat er es gefunden.« Er packte Nakao, der viel zu verblüfft war, um sich darüber zu beschweren. »Euer größter Schatz war auch sein größter Schatz. Und den habt ihr dem Herrn der Wellen geschenkt.«

»Was können wir tun, wenn das alles stimmt?«, rief Sila in den Lärm hinein. In seinem Blick war unerwartete Achtung für Lias.

»Sie müssen ihm die Perle wiedergeben.« Lias deutete auf das künstliche Auge des Piraten.

»Verflixt, der Maskenschnitzer weiß tatsächlich Bescheid«, zischte Nakao.

»Ich bin ein Junge«, entfuhr es Lias, doch der Perlentaucher winkte ab.

»Wieso will der Sturmfresser das Auge des Käpt’n?«, fragte Sila verständnislos.

»Weil diese Perle etwas Besonderes ist«, sagte Lias hastig. »Sie ist in einer Wunschmuschel gewachsen. Sehr selten. Sie erfüllt den größten Wunsch desjenigen, der sie besitzt. Sie hat dem Sturmfresser am Leib geklebt, als Nakao sie entdeckt hat. Aber er hat nicht begriffen, dass er sie einem schlafenden Ungeheuer von der Haut gezogen hat. Überall am durchsichtigen Leib des Sturmfressers kleben sie. Diese eine aber ist makellos. Die Schönste unter den Schönen. Sein größter Schatz. Und sie will er um jeden Preis zurückhaben.«

Der Sturm peitschte über das Meer, und Lias wehte die Gischt ins Gesicht. »Sie müssen es tun«, drängte er den Piraten. »Es ist die einzige Möglichkeit, uns alle zu retten.«

Der Herr der Wellen legte eine Hand auf sein Perlenauge.

»Ich lüge nicht«, sagte Lias eindringlich.

»Wunschmuschel?« Der Pirat schien nicht überzeugt. »Noch nie von so was gehört. Und du willst mir wohl erzählen, ich könnte mit der Perle Lüge von Wahrheit unterscheiden, weil ich mir das insgeheim gewünscht habe?« Der Herr der Wellen schüttelte den Kopf. »Wenn ich sie diesem Geschöpf dort nicht wiedergebe, stirbt dann der Winzling?«, fragte er.

Lias antwortete nicht. Er atmete tief durch. In dem Buch waren die Piraten etwa jetzt der Gefahr durch den Sturmfresser entkommen. Allerdings war der Perlentaucher da eigentlich schon nicht mehr am Leben. Er hatte sich kurz nach dem Einsetzen des Sturms geopfert und nur weil er den Sturmfresser auf die falsche Spur geführt hatte, war der Besatzung der Glücksdame die Flucht gelungen. Dass Nakao nun noch lebte, hieß, dass ab jetzt nichts so geschehen musste wie auf den Seiten im Buch. Alles war möglich. Ja, Lias, sagte er sich. Nun konnte das Schiff zum Beispiel untergehen. Das Buch hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Etwas hatte die Geschichte verändert. Und Lias wusste auch was. Sein Auftauchen.

Das Schiff bewegte sich langsam von selbst im Kreis. Schon bald würde es unweigerlich in den Schlund hineingezogen.

»Ich hänge an meinem Auge«, sagte der Pirat, als Lias nicht antwortete. »Würde es nur ungerne wieder hergeben.« Er sah kurz zu dem Perlentaucher. »Also möchte ich ein wenig mehr erfahren.« Sein Blick fixierte Lias. »Woher weißt du das alles?«, fragte der Herr der Wellen drängend.

Der Sturm heulte nun so laut, dass auch der Pirat aus Leibeskräften schreien musste.

Aus den Augenwinkeln merkte Lias, dass die anderen Männer und einige Perlentaucher innehielten und in ihre Richtung sahen. Sicher verstanden sie keines der gewechselten Worte. Doch sie spürten womöglich, dass hier etwas vor sich ging. Etwas Entscheidendes. Was sollte er dem Piraten sagen? Die Wahrheit? Er hatte sie bereits angedeutet, und sie hörte sich an wie ein Märchen. Aber ihm wollte auch keine Lüge einfallen, die gut genug klang, dass der Pirat sie schluckte.

Das Schiff hatte den ersten Kreis beendet, und Lias fühlte sich wie im Fahrgeschäft einer Kirmes. Langsam nahmen sie Tempo auf.

»Woher?« Der Herr der Wellen starrte Lias mit seinem Perlenauge an.

Sag es ihm, rief sich Lias selbst zu. Sag ihm die Wahrheit und hoffe, dass er sie glaubt. So unglaublich sie auch sein mag. »Na gut«, schrie er, so laut er konnte. »Ich komme aus der echten Welt. Das hier ist nur eine Geschichte. Aufgeschrieben in einem Buch meiner Großtante. Ich habe von euch und diesem Schiff gelesen. Ich weiß, was geschehen wird. Oder … oder was geschehen könnte.« Lias schwirrte ein wenig der Kopf. »Weil ihr nur Figuren in einem Roman seid.«

Für einen Moment war es ganz still. Bis auf den Sturm. Und bis auf ein hässliches Gurgeln, das die Fahrt des Schiffs untermalte.

»Wieso nur?«, meinte Nakao schließlich. »Ich finde das gar nicht schlecht. Außerdem mochte ich die Geschichte bisher. Auch wenn es mir nicht passt, dass ich hier einfach sterben soll.«

Lias klappte der Mund auf. »Ihr … ihr …«

»Wir wissen alles«, meinte der Herr der Wellen. »Es ist die Geschichte der Erzählerin. Wir vergessen jedes Mal, was in ihr geschehen wird, wenn sie von Neuem beginnt. Lästige Sache. Nun, du hättest uns das alles auch direkt sagen können«, rief der Pirat kopfschüttelnd. »Komm, kleiner Perlenprinz. Geben wir diesem Sturmfresser zurück, was wir ihm gestohlen haben.«

»Du meinst wohl, was ich ihm gestohlen habe«, erwiderte der Perlentaucher entspannt. »Wäre schön, wenn ich dann wirklich nicht sterben müsste. Aber was machen wir mit ihm?«

Der Herr der Wellen sah Lias mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. »Wenn wir überleben, musst du etwas erfahren. Etwas, das dir nicht gefallen wird.« Sein Perlenauge blitzte auf. »Etwas über deine Großtante.«

Lias starrte den Piraten wortlos an. Er wunderte sich nicht nur darüber, dass dieser wusste, dass er in einer Geschichte steckte. Mehr noch als alles andere schnitt ihm die Erkenntnis, dass der Herr der Wellen auch etwas von seiner Großtante wusste, die Worte von der Zunge. In diesem Moment wurde das Schiff so hart gerammt, dass sich nicht einmal der Kapitän noch auf den Beinen halten konnte.

»Verflucht, bei allen Geistern der Meere. Er tut der Glücksdame weh«, rief der Herr der Wellen und drückte sich mit Mühe wieder auf die Beine. Das Ruder war außer Kontrolle geraten.

»Wir werden alle sterben«, bemerkte Nakao beiläufig und betrachtete seine Fingernägel, als wollte er sichergehen, dass sie nicht dreckig waren, wenn er ertrinken würde. »Es sei denn …«

»Ja, ja«, brummte der Herr der Wellen. Er griff sich mit einer Hand an sein Perlenauge und wandte sich ab. »Du kleiner Quälgeist. Ich gebe es dir.« Mit der anderen Hand zog er eine Augenklappe aus einer Tasche seines nachtblauen Mantels. Ohne sich ihnen wieder zuzuwenden, hielt er Nakao eine schimmernde Perle hin. Kaum hatte das Geschöpf sie ihm aus den Fingern gezogen, band er sich die Augenklappe um.

Lias konnte nicht anders, als die Perle staunend zu betrachten. Sie schien so makellos und rein. In ihrem Inneren leuchtete ein Licht, das sich dort wie ein lebendes Geschöpf bewegte.

»Nun guck nicht so«, meinte der Perlentaucher leichthin. »Ich suche dir ein neues Auge. Vielleicht ein Zauberding, mit dem du durch Wände sehen kannst.«

»Ich nehme dich beim Wort, du Zwerg«, entgegnete der Herr der Wellen, während das Schiff nun so schnell im Kreis fuhr, dass Lias schwindlig wurde. »Aber erst müssen wir unserem Freund seine Perle wiedergeben.«

Nakao nickte stumm und sprang leichtfüßig auf die Reling. Hoch hielt er die Perle und obwohl der Himmel voller dunkler Wolken hing, als wollte er die Jagd des Sturmfressers verdecken, leuchtete sie hell und klar.

»Wir könnten uns doch wünschen, dass dieses Ungeheuer einfach verschwindet«, rief Sila.

»Es müssen persönliche Wünsche sein. Solche, die sich nur für den Besitzer der Perle erfüllen können und nicht auch noch für andere«, erklärte Lias. Er spürte Silas fragenden Blick wie Finger auf der Haut.

»Ein Einfall der Erzählerin, vermute ich«, sagte der Herr der Wellen grimmig. »Du machst dich langsam nützlich, Junge.«

»Er heißt Lias, Käpt’n«, erwiderte Sila und nickte Lias zu. »Weshalb siehst du so aus wie ich? Und heißt fast genauso?«

»Ist das nicht klar?«, fragte Nakao. »Du sollst er sein.«

Sila blickte Lias abschätzig an, als würde er ihn nun zum ersten Mal sehen. Besonders glücklich schien er nicht darüber zu sein. »Ich bin doch kein Feigling.«

Ehe Lias etwas darauf erwidern konnte, rief Nakao: »Hier, du Sturmfresser. Nimm das Ding und verschluck dich daran!« Er schrie so laut, dass er für einen Moment den Sturm übertönte.

Lias hielt die Luft an. Die Geschichte schlug also eine eigene Richtung ein. Eine, die sie vielleicht zu einem anderen Ende führen würde. Einem guten oder einem schlechten?

Wenn der Sturmfresser die Worte gehört hatte, bestand seine Antwort in einem weiteren Stoß.

Die Perle fiel Nakao aus den Fingern.

Und das kleine Geschöpf verlor das Gleichgewicht.


Für einen furchtbaren Moment schien die Zeit ganz langsam zu vergehen. Als wäre dies ein Film, der nur noch mit halber Geschwindigkeit ablief.

Der Herr der Wellen fluchte.

Sila warf sich zu Boden und griff nach der Perle, die auf die Planken gefallen war.

Und Lias stürzte auf die Reling zu. Er wusste selbst nicht, weshalb er mit einem Mal so mutig war. Vielleicht war in seinem vor Aufregung hart schlagenden Herzen in diesem Augenblick einfach kein Platz für Angst. Er bekam Nakao gerade noch zu fassen. Seine Finger schlossen sich um einen Zipfel seines Hosenbeins. Lias fiel getrieben vom eigenen Schwung beinahe selbst über die Reling und starrte auf das Meer. Der Strudel löste sich auf, und es schien, als würde der Ozean einen Körper annehmen, um sich der Besatzung der Glücksdame zu zeigen. Der Sturmfresser, der sich aus dem Wasser drückte, war gigantisch. Hoch wie ein Haus. Die Haut so grau wie die See. Wellen liefen darüber hinweg. Arme besaß er keine. Und auch keine Augen. Doch um das riesige Maul, das sicher ohne Probleme das ganze Schiff verschlingen konnte, klebten die Perlen. Es waren so viele, dass Lias sie nicht zählen konnte. Sie schienen auf der Wasserhaut des Sturmfressers zu schwimmen.

Wo ist mein Schatz? Die Stimme nahm nicht den Weg über die Ohren, sondern erklang direkt in Lias’ Kopf. Und vermutlich auch in den Köpfen der anderen. »Wir geben dir dein Auge zurück«, schrie er mit zitternder Stimme.

»Genau«, fügte Nakao in seinem Griff hinzu.

Die Perlen auf der Wasserhaut glitten aufeinander zu und ballten sich zu beiden Seiten des Mauls zu zwei großen Kugeln zusammen, als wollten sie dem Sturmfresser die fehlenden Augen ersetzen.

Der Dieb.

»Er erkennt dich«, meinte Lias.

»Na, da habe ich ja ein Riesenglück«, erwiderte der Perlentaucher gelassen. »Wer hat das Mistding eigentlich?«

»Ich.« Sila erschien neben Lias und nickte diesem entschlossen zu. In seinen schmutzigen Fingern hielt er die leuchtende Perle.

Gebt zurück, was mir gestohlen wurde. Oder ihr werdet sterben. Alle.

»Jetzt wäre ein guter Moment«, bemerkte Nakao.

Sila holte aus und warf die Perle auf den Leib aus Wasser. Er traf eine Stelle über dem Maul, zwischen den Perlenhaufen, die in dem Kopf aus Gischt und Wellen schwammen. Ein Zittern durchlief das Wesen. Dann bäumte es sich auf. Und stürzte sich wieder ins Meer.

Das Schiff begann daraufhin, wild zu schaukeln.

Und der nasse Stoff von Nakaos Hose glitt Lias aus den Fingern. Er schrie noch den Namen des Perlentauchers, doch dieser fiel bereits in die Fluten. Der Sturmfresser aber war verschwunden, der Sturm löste sich auf und das Meer beruhigte sich einige Augenblicke später.

Lias hing noch immer über der Reling und sah auf die nun wieder völlig glatte Oberfläche des Ozeans. Wie ein stiller See erschien er ihm. Die Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne spiegelte sich so hell, dass Lias geblendet wurde. »Er ist …« Das letzte Wort kam ihm nicht über die Lippen. Es war eine Sache, vom Tod zu lesen. Aber eine andere, ihn zu erleben.

Das Meer kräuselte sich direkt vor dem Schiff. Kam der Sturmfresser zurück?, fragte sich Lias, während er Tränen in sich aufsteigen fühlte.

Ein Schrei erfüllte die Luft, als etwas aus dem Meer in den Himmel schoss. Ein wütender Schrei.

»Nakao!«, rief Lias, als der Perlentaucher mit einem dumpfen Schlag neben ihm auf den Planken landete. »Du lebst.«

»Offensichtlich«, bemerkte der Perlentaucher gequält. »Bin dem Sturmfresser hinterhergesprungen, um ihn zu vertreiben. Wird sich nicht mehr hinter uns her trauen, der Feigling.«

Lias erinnerte sich, dass der Mut und die Furchtlosigkeit der Perlentaucher nur noch von ihrer Großmäuligkeit übertroffen wurden. Und von ihrer Großherzigkeit.

»Du hast jetzt etwas gut bei mir«, murmelte Nakao, während die Mannschaft in Jubel ausbrach. »Also wenn du mal ein hübsches Auge brauchst, dann frag einfach mich.«

Lias und der Herr der Wellen

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