Читать книгу Lias und der Herr der Wellen - Akram El-Bahay - Страница 9

DER SCHLÜSSEL

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Sehr viel später riss seine Mutter Lias aus der Geschichte heraus und scheuchte ihn erst in sein Zimmer und dann in seinen Schlafsack. Das Buch nahm er mit. Selten hatte ihm eine Erzählung so gut gefallen wie diese. Besonders angetan hatte es ihm der Junge, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wurde. Sila. Vielleicht mochte ihn Lias, weil der Junge so war, wie er selbst gerne wäre. Mutig und abenteuerlustig. Lias war nicht nur ein wenig ängstlich, sondern auch schnell außer Puste. Außerdem hatte Sila braune Haare wie Lias. Und ihre Namen waren einander so unerklärlich ähnlich. Dieselben Buchstaben. Ob seine Tante diesen Jungen für ihn …? Mach dich nicht lächerlich, sagte sich Lias sofort. Sie kannte dich nicht. Hat nie ein Wort mit dir gewechselt. Wie sollte sie da auf die Idee kommen, ihn nach dir zu beschreiben?

Seite um Seite las Lias in seinem Schlafsack weiter und folgte dem Schiff des Herrn der Wellen in einen Sturm hinein, der die Segel zerriss und in dessen Herzen eine furchtbare Gefahr lauerte. Lias fieberte so sehr mit, dass er wieder glaubte, das Rauschen des Meeres zu hören, während der Herr der Wellen nach einem Weg suchte, dem, was er im Herzen des Sturms gefunden hatte, zu entkommen.

Es dauerte einige Augenblicke, bis Lias begriff, dass er in der Tat etwas hörte. Ein Rauschen und Heulen. War draußen ein Unwetter aufgezogen? Er öffnete eines der Fenster und blickte in die sternklare und schläfrig ruhige Nacht hinaus. Auf dem Baum gegenüber saß ein Kauz. Der Vogel stieß einen spitzen Schrei aus und schwang sich in die Luft. Lias warf einen Blick auf seinen Wecker. Vier Uhr. Und er war überhaupt nicht müde. Er griff wieder nach dem Buch, als er merkte, dass das Rauschen noch immer zu hören war. Es kam aus dem Erdgeschoss. Plötzlich erfüllte ein lauter Donner den Raum. Vor Schreck fiel Lias das Buch aus den Händen und landete auf dem Boden. Als er es aufhob, war die Seite verschlagen. Der Herr der Wellen und seine Männer waren wieder an der Stelle, an der sie gerade in das Unwetter und mitten hinein in die Gefahr segelten. Und das Rauschen und Heulen und Donnern um Lias herum waren fort. Wie konnte das sein?

Diesmal unternahm er keinen Versuch, seine Eltern zu wecken, sondern stieg direkt mit klopfendem Herzen die Treppe hinunter. Hörte er da leise Stimmen? Sie klangen, als hätte jemand einen Fernseher eingeschaltet. Doch so etwas gab es in diesem Haus nicht.

Zögerlich folgte Lias der Spur aus Tönen. Das ganze Haus schien in diesem Moment … lebendig. Im Keller rumorte es, und aus den Augenwinkeln glaubte Lias zu sehen, wie sich eine Zimmertür von selbst bewegte. Nein, das war unmöglich. Er musste sich irren. Die Spur aus Geräuschen und Stimmen führte Lias zum Arbeitszimmer. Die Tür war nur angelehnt, und Lias stand unschlüssig vor ihr. Er presste eine Hand gegen das Holz und legte ein Ohr an den Spalt. Ganz deutlich hörte er Worte. Jemand hatte Vorsicht gerufen. Und hatte eine andere Stimme nicht gerade alle dazu aufgerufen, die Kanonen auszurichten? Lias runzelte die Stirn. Er war vermutlich vorhin, ohne es zu merken, über dem Buch eingeschlafen und nun war er noch immer halb in seinen Träumen, erfüllt von Lärm und Stimmen, die er sich nur einbildete. Kein Wunder. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Und … Wieder rief jemand etwas! Diesmal war sich Lias ganz sicher.

Hol Hilfe, sagte er sich. Es wäre klug. Das Sicherste, was er tun könnte. Aber er tat es nicht. Er war nun seit Dutzenden Seiten Sila gefolgt und hatte den Jungen, auch wenn er natürlich nur eine Figur in einer Geschichte war, für dessen Mut bewundert. Er selbst würde sicher nicht zu seinen Eltern rennen, weil er ein paar Geräusche hinter einer Tür gehört hatte. Ganz egal, wie unerklärlich sie auch waren. Lias atmete tief durch.

Und öffnete die Tür ins Arbeitszimmer mit einem kräftigen Stoß.

Sofort erstarben die Geräusche, und einzig der Kauz war von draußen zu hören. Dafür schien sich eine gespannte Stille in dem Zimmer auszubreiten. Wie Wasser sickerte sie in alle Ritzen des Raums, glitt an Lias empor und füllte ihm das Herz und den Verstand.

Er ging zögerlich in das Zimmer hinein und lauschte so angestrengt, dass der eigene Herzschlag in seinen Ohren laut wie die Schritte eines Riesen klang. Er sah sich um. Nichts als schläfrige Stille. Der Mond schien durch das Fenster, vor dem der Schreibtisch seiner Großtante stand, und färbte alles silbern.

Lias wollte schon wieder umdrehen und das eben Gehörte doch den Nachwirkungen eines kuriosen Traums zuschreiben. In diesem Moment aber erklang ein Klappern. Ganz regelmäßig. Er ging auf die Suche nach dem Ursprung des Geräuschs und fand ihn vor einem der Bücherregale. Es war besonders vollgestopft. Nicht nur Bücher drängten sich eng in ihm zusammen. Auch kleine Holzfiguren, Bilder und Postkarten, ein paar Bierdeckel und anderer Krimskrams füllten die Bretter. Doch Lias konnte nicht erkennen, was das Geräusch verursachte.

Als wollte jemand seine Aufmerksamkeit erregen, wurde das Klappern lauter und drängender.

»Was ist hier los?«, fragte Lias. Er erwartete selbstverständlich keine Antwort, doch nun kam sein eigentliches Wesen wieder ein wenig zum Vorschein und für diese ängstliche Seite war es beruhigend, die eigene Stimme zu hören.

Das Klappern wurde lauter und noch schneller und nun konnte Lias auch endlich dessen Ursprung ausmachen. Das Regal wackelte. Zuerst fiel eine der Holzfiguren, dann folgten rasch zwei weitere. Und das Regal wackelte immer heftiger. Lias wich erschrocken einen Schritt zurück, aber er rannte nicht weg. Er zwang sich mit aller Kraft, die er in seinem Inneren fand, stehen zu bleiben. Kein Feigling zu sein.

»Was ist hier los?«, wiederholte er seine Frage und diesmal rief er die Worte.

Noch einmal verschärfte sich das Tempo des Klapperns. Es hatte beinahe den Anschein, als würde das Regal jeden Moment loslaufen wollen.

Dann ruckte es nach vorne.

Lias stolperte zur Seite, aus Angst, es könnte auf ihn fallen. Doch es kippte nicht. Nur eines der vielen Dinge auf den Brettern rutschte über die Kante, fiel auf den Boden und blieb direkt vor Lias’ Füßen liegen. Schwer atmend stand er da und starrte abwechselnd auf das Regal, das nun wieder völlig leblos schien, und auf das Ding.

Es war ein Schlüssel. Ein ziemlich seltsamer Schlüssel. Ein ziemlich seltsamer Schlüssel mit einem Griff, der wie ein Schiff geformt war.

Lias konnte nicht sagen, weshalb, doch er hatte das Gefühl, dass dies kein Zufall war. Dass dieser Schlüssel hatte hinunterfallen sollen. Dass er diesen Schlüssel bekommen sollte.

»Danke schön«, sagte er in den menschenleeren Raum hinein, wobei er sich einigermaßen töricht vorkam.

Und wie zur Antwort wackelte das Regal noch einmal, ehe es dann ganz und gar still stand.

Lias zögerte, sich zu bücken und den Schlüssel zu nehmen. Er kam sich ohnehin schon wie ein Idiot vor, also würde es nichts machen, wenn er eine Frage stellte. Ihn hörte ja sowieso keiner. »Ist er für mich?«

Einen Moment war es ganz still. Dann quietschte die Tür. Lias’ Herz setzte vor Aufregung fast einen Schlag aus. Das musste keine Antwort gewesen sein, sagte er zu sich selbst. Immerhin knarrte und quietschte der alte Kasten ständig. Er wollte es noch mal versuchen. »Soll ich ihn nehmen?«

Diesmal quietschte die Tür sogar zweimal.

Das ist unglaublich, dachte Lias bei sich. Er sah zu der Tür hinüber, doch da stand niemand, der sie hätte bewegen können. Und niemand hatte das Regal anstoßen können. Und hier war auch niemand, dessen Stimme er zuvor hätte hören können. Was also war hier los?

Mit zitternden Fingern hob er den Schlüssel auf und wog ihn in der Hand. So ein Ding hatte er noch nie gesehen. »Und was soll ich damit tun?«, fragte er in den Raum hinein. Meine Güte, dachte er noch im selben Moment. Ich rede mit der Luft.

Als wollte ihm jemand eine Antwort geben, knarrte der Boden. Wie Schritte klang das Geräusch. Gab es hier etwa … Geister?, fragte sich Lias. Nun, das wäre wohl genauso wenig zu glauben wie körperlose Stimmen und Regale, die sich bewegten.

Das Knarren hatte aufgehört. Lias machte einen Schritt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und als würde er damit ein Echo erzeugen, knarrte der Boden erneut. Wieder ein Tapsen. Jemand oder etwas wollte, dass Lias ihm nachging.

Mit klopfendem Herzen folgte er der unsichtbaren Spur, die ihn aus dem Arbeitszimmer hinausführte. Für einen Augenblick hatte er Angst, dass er geradewegs in eine Falle lief. Doch wenn es hier wirklich einen Geist gab, dann könnte er ihn wohl einfach angreifen, ohne ihn erst mühsam irgendwohin zu locken. Nein, sagte er sich. Er würde nicht ängstlich sein. Sondern mutig. Wie die Figur aus dem Roman seiner Großtante. Sila wäre der Spur gefolgt. Und das würde Lias nun auch tun.

Der Flur lag in völliger Stille vor Lias, nur die Schritte füllten das Haus, obwohl es keine Füße gab, die sie erzeugten. Lias wurde zu einer verschlossenen Tür geführt. Als er genau vor ihr stand, erstarben die Schritte abrupt. Sein körperloser Führer war vermutlich stehen geblieben. Lias fuhr prüfend mit den Fingern durch die Luft, doch sie ertasteten nichts. Natürlich nicht. Geister haben keinen Körper.

Lias stand vor der Tür, über der das Schild mit dem Namen des Buchs angebracht war, in dem Lias gerade las. Der Herr der Wellen. Ein lustiger Zufall. Oder doch kein Zufall?

»Soll ich die Tür aufschließen?« Es war mehr als offensichtlich, dass er dies tun sollte. Doch Lias wollte eine weitere Reaktion von dem vermeintlichen Geist haben. Er brauchte sie, um fester an ihn glauben zu können.

Ein Knarren in der Stille war die Antwort.

Lias atmete tief durch und steckte den Schlüssel in das Schloss. Er passte perfekt und ließ sich ohne Mühe drehen.

Mit einem Knarren schwang die Tür auf.


Der Raum vor Lias atmete Anspannung. Sie lag so schwer in der Luft, als würde sich gleich ein Gewitter entladen. Natürlich wäre es schlauer gewesen, spätestens jetzt die Eltern zu holen. Doch vielleicht würde dies dem Unsichtbaren nicht gefallen. Und womöglich würde er dann einfach verschwinden. Das wollte Lias um alles in der Welt vermeiden. Er war wie berauscht vom eigenen ungewohnten Mut und der Erkenntnis, dass es anscheinend Geister gab.

Warum wohl wollte der Geist in das Zimmer? Lias stand einen Moment unschlüssig auf der Türschwelle, dann betrat er den Raum und sah sich um. Es war stockdunkel. Die Läden des Fensters waren verschlossen. Lias hatte am Tag bereits erfolglos versucht, vom Garten aus in die geheimnisvollen Zimmer zu spähen, doch die Läden hatten sich nicht bewegt und sich standhaft geweigert, ihm einen Einblick zu gewähren. Nun tastete er nach einem Lichtschalter an der Wand neben der Tür. Als er ihn gefunden und betätigt hatte, goss eine viel zu kleine Lampe fahles Licht von der Decke.

Und zu seiner maßlosen Enttäuschung erkannte Lias: nichts. In dem Zimmer gab es keine Möbel oder sonst etwas. Allerdings roch es hier, als wäre das Meer nicht weit. Salzig und nach Freiheit. Der Holzboden schien aus den Planken eines Seglers gemacht zu sein. Den Schiffsschlüssel, den Lias aus dem Schloss der Tür zog, ließ er in seine Hosentasche gleiten und sah sich noch einmal gründlich um. Und diesmal entdeckte er doch etwas. Er hätte es fast übersehen. Auf der Fensterbank ruhte eine Glasflasche auf einem Ständer. Und in ihr befand sich ein Schiff. Lias ging hinüber und nahm die Flasche in die Hand. Das Schiff sah genauso aus, wie er sich das des Herrn der Wellen, die Glücksdame, in der Geschichte seiner Großtante vorgestellt hatte. Irgendwie hatte er das Gefühl, selbst mitten in einer Geschichte zu stecken. Das hier würde ihm niemals jemand glauben. Wie auch?

Das Schiff war etwa so lang wie Lias’ Unterarm. Drei mächtige Segel waren gehisst. Und zuoberst erkannte er die Piratenflagge. Wie aufwendig alles gearbeitet war! Lias entdeckte sogar einige Piraten, die sich … nein, er musste sich geirrt haben. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er durch das Glas auf das Deck. Hatten sich die Menschen auf den Planken gerade bewegt? Er betrachtete das Schiff eine Weile, doch keine der kleinen Figuren rührte sich. Dann ließ er die Flasche sinken und blickte sich um. Was hatte es mit diesem Raum auf sich? Vermutlich gar nichts, gab sich Lias selbst die Antwort. Er war leer. Und dennoch hatte ihn der Unsichtbare hergeführt.

»Und jetzt?«, wisperte Lias. Seine eigene Stimme erschien ihm irgendwie verändert. Es lag nicht daran, dass er aufgeregt war. Sie hatte so … lebendig geklungen. Er hatte kein besseres Wort dafür. Einen Moment später schüttelte er den Kopf, als müsste er sich über sich selbst wundern. Dies war wohl kaum der richtige Augenblick, sich Gedanken über den Klang seiner Stimme zu machen. »Und jetzt?«, wisperte er noch einmal.

Keine Antwort. Dafür begann der Boden zu vibrieren. Fast so, als würde ein Erdbeben das Haus erschüttern. Die Lampe an der Decke aber blieb ganz ruhig hängen. Nur der Boden bewegte sich. Allem ungewohnten Mut zum Trotz beschloss Lias, die Flucht zu ergreifen. Doch kaum hatte er ein paar Schritte zur Tür gemacht, wurde diese von Geisterhand zugeschlagen.

»Hey«, rief er. »Was soll das?« Offenbar wollte der Unsichtbare verhindern, dass Lias hier herauskam. Das Schwanken des Bodens wurde stärker. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Und dann fiel ihm die Flasche aus den Händen. Das Glas zersprang in tausendundeine Scherbe. Das Schiff aber wurde seltsamerweise nicht beschädigt. Es lag auf dem Boden, und die Segel blähten sich mit einem Mal auf, als würde ein Wind durch das Zimmer fahren.

Lias musste raus. Vielleicht war der Unsichtbare wütend auf ihn, weil er die Flasche kaputt gemacht hatte.

Der Boden schwankte nun wie das Deck eines Schiffs, das auf stürmischen Wellen ritt. Lias fiel einmal, zweimal, ehe er die Tür erreichte und seine Finger um die Türklinke schloss. Mit aller Kraft zog er, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Hatte jemand abgeschlossen? Nein, den Schlüssel hatte doch er bei sich. Also hielt wohl jemand die Tür zu.

»Hallo«, rief er. »Lassen Sie mich raus!« Mit beiden Fäusten schlug er gegen die Tür. Wenn sie sich schon nicht öffnete, würde der Krach hoffentlich seine Eltern anlocken.

Seine Schläge wurden vom Fauchen des Windes übertönt.

Laut um Hilfe schreiend, hieb Lias gegen die Tür. »Lassen Sie mich raus! Hören Sie, Herr der Wellen?« Der Name sprang ihm wie von selbst auf die Zunge. Und er klang so … lebendig. Die Worte ließen Lias’ Haut kribbeln. Sie schienen wie eine Zauberformel. Ganz und gar unerwartet öffnete sich die Tür, und Lias fiel überrascht nach vorne.

Er konnte einen Sturz nicht verhindern und schlug hart auf den Boden. Die Tür fiel hinter ihm zu. Sein Kopf knallte gegen die Dielenbretter und für einen Moment war Lias benommen. Das Rauschen des Sturms war plötzlich kaum noch wahrzunehmen. Stattdessen drangen die Stimmen von Männern an seine Ohren. Hatte er sich den Kopf so hart angestoßen, dass er etwas hörte, das es nicht gab?

Mühsam drückte sich Lias wieder auf die Beine.

Und erstarrte.

Vor ihm standen zwei Männer und sahen ihn an wie einen Geist. Doch es war nicht ihr plötzliches und völlig unerwartetes Auftauchen, das Lias so fassungslos machte. Es war auch nicht die seltsame Kleidung der beiden, die aussahen, als hätten sie sich Piratenkostüme übergezogen. Was Lias mehr als alles andere sprachlos machte, war die Tatsache, dass er sich nicht mehr im Haus seiner Großtante aufhielt. Er war durch die Tür auf das Deck eines prächtigen Segelschiffs gefallen. Über ihm spannte sich ein Himmel, der so blau war, dass es beinahe wehtat, ihn anzusehen. Einige Wolken trieben dort gemächlich entlang. Der Duft des Meeres hing in der Luft, und drei gewaltige Segel blähten sich vor ihm im Wind. Und ganz zuoberst erkannte er die Piratenflagge.

»Bei allen Namen des Teufels«, wisperte einer der beiden Männer, »das ist ein Geist.« Eine gebogene Nase wuchs ihm wie ein Schnabel über die Lippen. Der Mann war so blass, als hätten ihm Wolken das Gesicht gefärbt.

»Unsinn«, meinte der andere. Ihm verzierte eine lange Narbe die linke Wange. »Geister kann man nur bei Vollmond sehen. Und auch nur, wenn man eine Jungfrau ist. Das da«, er deutete auf Lias, »ist ein blinder Passagier.«

Die Aussicht, vielleicht doch keinem Geist gegenüberzustehen, schien dem ersten Mann neue Zuversicht zu schenken. Er griff eine Art Wischmopp, der in einem Fass mit Putzwasser neben ihm steckte, und richtete ihn drohend auf Lias. »So, so«, raunte er grimmig. »Dann stiehlst du uns am Ende noch heimlich unsere Vorräte, was? Das mögen wir nicht«, zischte er. »Das mögen wir gar nicht.«

Lias brachte kein Wort heraus. Das alles war zu unglaublich. Er bemerkte weitere Männer, die ebenfalls wie Seeleute gekleidet waren. Sie warfen ihm erstaunte Blicke zu. Lias erkannte auch einen Jungen unter ihnen.

Er wollte sich umwenden und zurücklaufen. Wieder durch die Tür, um hoffentlich nach Hause zu gelangen. Doch der Pirat mit der Narbe griff zu und hielt ihn mit eiserner Kraft fest. Vergeblich versuchte Lias sich zu befreien.

Dann teilte sich die Menge mit einem Mal, und noch ein Mann erschien. Er trug einen langen nachtblauen Mantel, den ein goldenes Muster zierte. Das Haar, das er zum Zopf gebunden hatte, war so rot wie Feuer und sein linkes Auge war durch eine Perle ersetzt worden.

Und plötzlich wusste Lias, wo er war. Und wie der Mann vor ihm hieß. Er hatte von ihm und diesem Schiff gelesen. Es gab nur einen Piraten mit einem Perlenauge. Aber das konnte nicht sein.

Lias wollte sich losmachen und fliehen, doch die Arme hielten ihn gepackt.

Er sah den Mann mit dem Perlenauge so nah vor sich, dass er dessen Narben auf der Haut zählen konnte.

»Der Herr der Wellen«, wisperte Lias.

Lias und der Herr der Wellen

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