Читать книгу Lias und der Herr der Wellen - Akram El-Bahay - Страница 7

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»Ist es nicht wundervoll?« Lias’ Mutter stand mit ausgebreiteten Armen auf der Schwelle des alten Hauses, das sie so unverhofft geschenkt bekommen hatte, und strahlte über das ganze Gesicht.

»Absolut«, pflichtete sein Vater ihr bei und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hoffe nur, dass niemand eingebrochen ist. Immerhin stand die Tür offen.«

»Ach was, eingebrochen«, lachte seine Mutter. »Das Haus freut sich auf seine neuen Besitzer.«

Genervt rollte Lias mit den Augen. Die beiden schienen so glücklich wie Gewinner im Lotto. Dabei sah das riesige Haus mit dem Garten so alt und heruntergekommen aus, als wäre es hundert Jahre alt. Ach was, tausend.

Lias blickte an der betagten Fassade hoch. Halb verwelkte Efeutriebe rankten an dem brüchigen Stein entlang. Vorbei an Dutzenden ungeputzten Fenstern, die sich über zwei Etagen unter dem spitzen Dach verteilten und von deren Läden die grüne Farbe abblätterte. Wie müde Augen blickten sie hinaus in den Garten, der so groß wie ein Park war und sogar einen dunklen See beherbergte. Hohe Kastanienbäume säumten das Grundstück, als wollten sie das heruntergekommene Haus verbergen. Dafür zogen sie hierher? Für diesen Kasten? Fort aus der Stadt, in der Lias aufgewachsen war und in der er jedes einzelne der bisher dreizehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Fort von den wenigen Freunden, die er hatte. Und fort von allem, was ihm vertraut war.

»Ich will dort nicht wohnen«, wisperte Lias zu sich selbst. Niemand interessierte sich für seine Worte. Niemand hörte sie. Seine Eltern waren viel zu glücklich, um auf ihn zu achten.

Seit Lias denken konnte, träumten sie von einem eigenen Haus. Und nun, nach dem unerwarteten Verschwinden von Lias’ Großtante und dem Anruf des Notars, der ihnen von der eilig verfassten Schenkung erzählt hatte, war es endlich so weit.

Widerwillig setzte Lias einen Fuß auf die unterste der drei steinernen Stufen, die hinauf zur Eingangstür führten. Eine seltsame Spannung lag auf einmal in der Luft. Ein Prickeln. Es fühlte sich an, als wäre ein Gewitter im Anflug. Lias blickte in den Himmel. Die Wolken zogen schneeweiß und träge über ihn hinweg. Es war ein friedlicher Tag. Nicht mal ein Windhauch fuhr durch die Kronen der mächtigen Kastanienbäume.

Lias nahm die letzten beiden Stufen und stand dann unschlüssig in der Tür. Seine Mutter und sein Vater waren bereits hineingegangen und sahen sich mit einer Mischung aus Aufregung und Bedrückung um. Lias konnte ein wenig nachvollziehen, wie sich seine Mutter fühlen musste. Lias wusste von seinem Vater, dass sie schon seit Jahren nicht mehr mit ihrer Tante Hermine geredet hatte. Sicher war es ziemlich seltsam für sie, nun wieder das Haus zu betreten, in dem sie als Kind viele Male die Ferien verbracht hatte.

Er selbst hatte seine Großtante noch nie zu Gesicht bekommen. Er hatte noch nicht einmal ein Bild von ihr gesehen. Seine Großtante hatte im Grunde nie für ihn existiert. Nur ein gesichtsloser Name, der gelegentlich in alten Geschichten vorgekommen war.

Lias blieb auf der Schwelle stehen und lugte in die großzügige Eingangshalle. Das Licht fiel grau durch dreckige Fenster, floss träge über den Mosaikboden und erreichte mit Mühe eine breite Treppe, die nach oben führte. Es schien, dass sich die Tage, Wochen und Monate, die das Haus seit dem Verschwinden von Tante Hermine leer stand, wie Staub auf allem niedergelegt hatten. Dem schweren Geruch nach, der aus dem Flur drang, musste sich im Keller eine alte Ölheizung befinden. Lias konnte sich nicht recht überwinden, das Haus zu betreten. Er wusste selbst nicht warum. Plötzlich, als würde das Haus sein Zögern bemerken, schlug die Tür ruckartig zu und gab Lias dabei einen Stoß, der ihn über die Schwelle stolpern ließ. Ein Stapel alter Zeitungen, der auf einem Tischchen neben der Tür lag, wurde aufgewirbelt. Eines der Blätter schwebte direkt vor Lias’ Füßen zu Boden. Über einem Foto in der Mitte der Seite las er nur ein einzelnes Wort: Willkommen.

Wie passend, dachte Lias, als er langsam seinen Eltern folgte, die aufgeregt tuschelnd durch das Haus liefen.


Lias bemerkte nicht, dass die Haustür plötzlich wieder einen Spalt offen stand und die Sonne den Flur ein klein wenig erhellte, sodass er sehen konnte, wo er hintrat. Er bemerkte auch nicht, dass die Läden des Hauses aufgeregt klapperten, obwohl es draußen noch immer völlig windstill war. Und er sah nicht, dass sich die Tür zum Arbeitszimmer seiner Großtante selbst öffnete. Ganz so, als wollte das Haus ihn auf diesen Raum aufmerksam machen.

Lias und der Herr der Wellen

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