Читать книгу Die blutroten Schuhe - Alana Falk - Страница 5
Kati - Jahr VII
ОглавлениеIch mochte meine Füße. Die viele Hornhaut und die Schwielen, die roten Flecken nach dem Training und das Blut in den Schuhen. Wenn es nicht blutete, hatte ich nicht lang genug trainiert. Auf die Schmerzen hätte ich allerdings verzichten können. Meist war es nur ein Brennen an der offenen Stelle oder ein Ziehen im Ballen, aber manchmal wurde das Ziehen zu einem heißen Pochen, das bei jedem Schritt in die Zehen stach und schließlich bis in die Unterschenkel ausstrahlte. In solchen Momenten hätte ich am liebsten eine Axt genommen und mir die Füße abgehackt.
Ich schlüpfte in meine Spitzenschuhe, schlang die Satinbänder um mein Fußgelenk, verknotete sie, so dass der Knoten in der kleinen Kuhle hinter dem Knöchel lag, und steckte die Enden von oben darunter. Ich spürte schon, dass sie nicht ganz richtig saßen, aber die Hoffnung, ein Modell zu finden, das mir gut passte, hatte ich inzwischen aufgegeben. Nach ein paar lockeren Dehnübungen auf dem Boden stand ich auf.
Die endlosen Meter Stange vor den Spiegeln, die nahezu die ganze Wand einnahmen, waren noch verwaist. Die anderen Tänzer der Ballettkompanie, an der ich arbeitete, würden erst nach und nach zum morgendlichen Training eintrudeln, aber ich war gern allein, wenn ich mit dem Aufwärmen anfing.
Ich machte ein paar Aufwärmübungen und legte dann mein rechtes Bein auf die Stange, um es in verschiedenen Positionen zu dehnen, bevor ich es nach rechts ausstreckte und mit dem Fuß auf der Stange in den Spagat rutschte. Ich ließ meinen Fuß so lange auf dem Holz nach rechts gleiten, bis der Schmerz einsetzte. Im Gegensatz zu dem Pochen in meinen Füßen war es ein guter Schmerz. Einer, mit dem ich arbeiten konnte.
Ich versuchte, noch ein wenig tiefer zu gleiten. Auch wenn es nach außen hin perfekt aussah, vielleicht sogar viel zu weit gedehnt für jemanden, für den Spagat nur eine gerade Linie der Beine bedeutete, an der Beweglichkeit konnte man nie genug arbeiten. Zuerst fühlte es sich so an, als ginge es kein Stück weiter, als würde die Sehne reißen, als würde das Ziehen unerträglich. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, direkt in die Sehne hinein. Es geht immer weiter. Es geht immer etwas mehr. Es ist der Kopf, der dich aufhält. Irgendwann merkte ich, wie meine Muskeln sich entspannten und der Druck auf die Sehne nachließ. Ich schob weiter, nur ein kleines Stück. Winzig. Aber trotzdem unglaublich wichtig. Ein kleiner Sieg in meinem stetigen Kampf gegen meinen Körper. Schließlich konnte ich nicht zulassen, dass er mich davon abhielt, perfekt zu tanzen.
Ich arbeitete mich durch meine üblichen Dehn- und Aufwärmübungen, während der Saal sich langsam füllte. Auch mein restlicher Körper war heute widerspenstig, dennoch war ich einige Minuten vor Trainingsbeginn warm.
Als ich mich von der Stange abwandte, sah ich Yuki in der Nähe mit ein paar der anderen Tänzerinnen reden. Die meisten Gruppentänzer kannte ich, konnte sie zumindest dem Sehen nach einordnen, aber ein paar Gesichter waren mir neu. Wahrscheinlich gehörten sie zu Davids frischer Ausbeute. Das jährliche Vortanzen war gerade vorbei und die Kompanie hatte ein paar neue Mitglieder bekommen. Ich machte einen Schritt in Yukis Richtung, überlegte, ob ich zu ihr hinüber gehen sollte. Dann entschied ich mich dagegen. Es war nicht so, dass ich mich für etwas Besseres hielt, auch wenn das einige der Gruppentänzer sicher glaubten, aber es war hier nicht üblich, sich zu mischen. Es war so eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass man sich nach dem Aufwärmen für das Training zu der Gruppe gesellte, zu der man gehörte, und es widerstrebte mir, mich nicht daran zu halten. Außerdem verstummten die Mädchen aus dem Corps und beäugten mich kritisch, wenn ich mich doch mal zu ihnen gesellte. Also wandte ich mich mit einem letzten Blick auf Yuki ab, um zu den Ersten Solisten hinüber zu gehen. Nicht, dass ich mich bei denen so viel wohler gefühlt hätte, aber immerhin gehörte ich nach außen hin dazu.
Sofort fiel mir die neue Tänzerin auf, die zwischen Laura und Alexej stand. Mein Magen zog sich zusammen, als ich ihre perfekt auswärts gedrehten Beine und ihren hohen Spann sah. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich ihre blonden Haare und das hübsche Gesicht. Ich presste die Lippen aufeinander.
„Und wer ist der?”, fragte die Neue gerade. An ihrem Akzent erkannte ich, dass sie aus Russland kam. Na toll. Sicher war ihre Technik genauso perfekt wie ihr Körper. „Der ist doch bestimmt kein Tänzer, oder?” Sie deutete auf einen Mann, der sich gerade durch eine Gruppe männlicher Solisten schob.
„Cristan? Nein.” Laura lachte, als wäre der Gedanke völlig abwegig. „Schau ihn dir doch an, Irina.”
Die Neue, Irina, kicherte. „Stimmt. Seine Arme sehen nicht so aus, als könnte er damit eine Tänzerin einen Abend lang herumheben.”
Ich kräuselte die Nase.
„Er ist nur der Pianist”, erklärte Laura.
Ärger stieg in mir auf und ich wusste nicht einmal genau warum. Es stimmte ja schließlich. Cristan war kein Tänzer und er fiel auf, wenn er zwischen ihnen stand. Trotzdem gefiel es mir nicht, wie sie über ihn redeten. Seine Haltung war tadellos; gerade und aufrecht, aber ohne die leicht arrogant wirkende Kopfhaltung, die den meisten Tänzern eigen war und oft zu Missverständnissen mit Außenstehenden führte. Aber da war noch etwas anderes an ihm, etwas, das die anderen neben ihm verblassen ließ.
„Ist er nicht mit dir zusammen hierher gekommen, Kati?”
Ich nickte. Es war ein ziemlicher Zufall gewesen, dass Cristan im selben Jahr, in dem ich ein Engagement an der Kompanie bekommen hatte, als Pianist eingestellt worden war.
„Er sieht absolut durchschnittlich aus. Auf keinen Fall kann er sich mit Mathias messen.” Laura seufzte und starrte meinen Pas de Deux Partner an, der sich gerade an einer anderen Stange aufwärmte. Ich verdrehte die Augen.
„Ich finde Cristan schon ganz sexy”, sagte Alexej.
„Natürlich, Süßer”, sagte Laura. „Du findest ja jeden sexy, der einen einigermaßen straffen Hintern hat.”
Meine Wangen wurden heiß. Du meine Güte. Sie reden über ihn, als wäre er ein Stück Fleisch.
„Na und du? Immerhin hast du seinen Hintern auch bemerkt”, gab Alexej zurück.
Laura lachte. „Erwischt. Gut, ich gebe es zu. Aber das nutzt sowieso nichts, er ist nämlich nicht zu haben.”
Alexej schaute interessiert. „Ach tatsächlich? Sprichst du aus leidvoller Erfahrung? Wie interessant. Ich hätte ihn gar nicht für einen von uns gehalten.” Er ließ seinen Blick über Cristan wandern, als würde er ihn plötzlich mit ganz anderen Augen sehen.
„Vergiss es. Ich weiß nicht, was er ist, aber er hat bisher alle abblitzen lassen, die es versucht haben. Jungs wie Mädels.” Laura klopfte Alexej tröstend auf die Schulter.
„Vielleicht hat er schon jemanden. Oder er ist unglücklich verliebt”, mutmaßte die Neue.
Mir reichte es. „Oder er breitet sein Privatleben nicht vor solchen Klatschmäulern wie euch aus”, fauchte ich.
Alexej sah mich verwundert an. „Hey, was ist denn mit dir los?”
„Genau”, meinte Laura. „Kein Grund uns so anzufahren.”
Ja, das hätte ich mir wohl besser verkneifen sollen. Es war sowieso schwer genug für mich, mich unter ihnen zu behaupten. Die Neue hingegen schienen sie sofort akzeptiert zu haben. Vielleicht, weil sie als Erste Solistin eingekauft worden war und sich nicht, so wie ich, in sehr kurzer Zeit innerhalb der Kompanie hochgearbeitet hatte. Mit einundzwanzig war ich eine der jüngsten Ersten Solistinnen die die Kompanie je gehabt hatte.
Die Neue musterte mich. „Oder vielleicht weißt du sehr genau, warum er kein Interesse hat.” Obwohl mir klar war, dass sie es nicht böse meinte, ging es mir gegen den Strich. Gewaltig. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, das meiner sozialen Stellung in der Kompanie wahrscheinlich endgültig den Todesstoß versetzt hätte, aber in dem Moment hörte ich jemanden in die Hände klatschen. David. Ich sah auf die Uhr. Halb zehn, auf die Minute. David nahm es mit dem Trainingsplan immer sehr genau. Er ließ keine Entschuldigungen gelten, auch nicht im Training. Ich mochte es, wenn er das morgendliche Training leitete.
„Guten Morgen. Bitte nehmt eure Plätze an der Stange ein, wir beginnen.”
Jeder Tänzer hatte einen Lieblingsplatz. Ein Stück Stange, das sich besonders gut anfühlte, ein Stück Boden, das besonders gut federte, ein Stück Spiegel, das einen besonders vorteilhaft reflektierte. Ich stellte mich ganz vorne an die Stange. Dieser Platz direkt unter Davids Nase bedeutete viel Kritik und harte Arbeit, aber er bedeutete auch stetige Verbesserung. Es war der Platz zum Erfolg. Mein Platz.
„Sicher habt ihr unsere neuen Mitglieder schon bemerkt”, sagte David gerade. Er zeigte auf die Neuen und zählte ihre Namen auf. Hauptsächlich waren es Tänzer für die Gruppe. „Und das hier ist unsere neue Erste Solistin Irina.” Er wandte sich ihr zu. War das tatsächlich ein Lächeln auf seinen Lippen? Ein winziger, steinharter Klumpen bildete sich in meinem Magen.
„Kati, mach bitte etwas Platz.” Ich starrte ihn an. Meinte er das etwa ernst? Offensichtlich, denn er schob Irina auf mich zu und wartete, dass ich ein wenig nach hinten rückte. Ich zögerte. Auf keinen Fall wollte ich diesen Platz aufgeben. Andererseits war eine Szene für meine Karriere sicher noch schädlicher, als etwas weiter hinten zu stehen.
Ich neigte den Kopf, zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und sagte: „Natürlich, gern.” Ich konnte nur hoffen, dass David bald einsah, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Die Hoffnung war vergeblich, zumindest was dieses Training betraf. Die ganzen eineinhalb Stunden lang zerpflückte er Irina, trieb sie bis zum Äußersten, verlangte Perfektion. Der Klumpen in meinem Magen wuchs mit jedem Satz, den er zu ihr sagte. Andere, unerfahrene Tänzerinnen wären unter dieser Behandlung vielleicht in Tränen ausgebrochen, aber nicht Irina. Sie wusste, was das bedeutete. David setzte große Hoffnungen in sie.
Am Ende der Stunde war meine Laune auf dem Tiefpunkt angekommen. Als David den Saal verlassen hatte, ging ich, ohne Irina eines Blickes zu würdigen, zu dem Regal, in dem wir während des Trainings unsere Sachen aufbewahrten, packte meine Tasche und drehte mich um. Vor mir stand meine beste Freundin.
„Hallo Yuki.” Ich bemühte mich um einen freundlichen Tonfall, schließlich war es nicht ihre Schuld.
Sie lächelte mich an. „Hey, Schwesterchen!”
Mein Herz zog sich zusammen. So hatte sie mich schon länger nicht mehr genannt. Seit unserer Zeit auf der Akademie nicht. Ich musste daran denken, wie sie damals ganz zerbrechlich, mit riesigen Augen und Haaren bis zum Po, zu uns gekommen war. Ich hatte ihr alles gezeigt, sie zu den richtigen Kursen gebracht und versucht, mit Händen und Füßen zwischen ihr und den Anderen zu vermitteln, obwohl ich genauso wenig Japanisch konnte wie sie.
Yuki hatte sich schnell eingelebt, was nicht zuletzt an ihrem Sprachtalent lag. Sie hatte unglaublich schnell Deutsch gelernt und sprach es jetzt nahezu akzentfrei. Früher hatte ich sie oft damit aufgezogen, dass sie ja Dolmetscherin werden könnte, wenn es mit dem Tanzen nicht klappte, aber in letzter Zeit hatte ihr das kein Lachen mehr entlockt, sondern nur noch ein feuchtes Schimmern in den Augen, und ich hatte damit aufgehört.
„Alles in Ordnung?”, fragte sie jetzt.
Ich nickte.
Sie lächelte ironisch. „Warum quälst du dann deine Tasche?”
Ich sah auf meine Hände, die sich so fest in den Stoff der Tasche verkrallt hatten, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Ich … ich bin wahrscheinlich nur angespannt.”
„Wegen was angespannt?”, fragte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum. Cristan hatte sich zu uns gesellt.
„Wahrscheinlich wegen der Aufführung heute Abend”, sagte Yuki. „Ich bin auch total aufgeregt.”
Cristan warf mir einen fragenden Blick zu.
Schon unglaublich oft hatte ich versucht, herauszufinden, welche Farbe seine Augen nun wirklich hatten. Eigentlich waren sie braun. Aber wenn man genauer hinsah, zerfiel das Braun in unzählige Farbfragmente. So, als wollte die Iris jede Farbe widerspiegeln, die ihr je untergekommen war.
„Heute führen wir das erste Mal die neue Choreografie von David auf”, erklärte ich. Vielleicht täuschte ich mich, aber ich fand, dass Cristans Blick plötzlich wachsam aussah. Er wandte sich an mich. „Richtig. Das ist sicher viel zusätzliche Arbeit.”
Yuki kicherte. „Na ja, du kennst das ja. Sie trainiert, bis die Schuhe durchgeblutet sind, dann zieht sie andere an und trainiert weiter. Und vor der Aufführung zieht sie dann …”
Ich riss die Augen auf und deutete ein winziges Kopfschütteln an. Yuki schloss abrupt den Mund.
Cristans Augen verengten sich.
„Vor der Aufführung ziehe ich dann natürlich noch mal neue Schuhe an, sofern unsere Spitzenschuhbeauftragte mir welche gibt. In letzter Zeit reagiert sie ein bisschen allergisch, wenn sie mich sieht. Ich glaube, mein Fach im Lager ist ständig leer.” Mir war bewusst, dass ich plapperte. Das wäre an sich nichts Schlimmes, aber ich war normalerweise nicht der Plappertyp und Cristan wusste das genau. Er musterte mich prüfend.
Yuki bemerkte es wie üblich nicht. „Woran erkennt man, dass man zu viel trainiert? Wenn das Theater pleite macht, weil die Rechnung für Spitzenschuhe zu hoch geworden ist. Aber wenn alle Stricke reißen, hast du ja immer noch deine roten Spitzenschuhe. Die scheinen unkaputtbar zu sein.”
Cristan machte ein finsteres Gesicht. In letzter Zeit schien ihn allein die Erwähnung der roten Schuhe zu verärgern.
Verdammt, Yuki. Ich warf ihr verstohlen einen bösen Blick zu. Sie presste erschrocken die Lippen aufeinander.
Viel zu gleichgültig winkte ich ab. „Ach was. Die hab ich nur schon ewig nicht mehr benutzt. Deswegen sehen die noch aus wie neu.” Aus irgendeinem Grund wurde Cristans Blick noch finsterer.
Erst die Sache mit Irina und jetzt auch noch das? Heute war anscheinend nicht mein Tag.
„Ähm … Yuki, müssen wir nicht noch unsere Kostüme anprobieren, bevor die Probe losgeht?”
Sie öffnete den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, packte ich sie am Arm, lächelte Cristan entschuldigend zu und zog sie mit mir aus dem Saal.
„Yuki, Mensch!”, fuhr ich sie an, sobald wir weit genug entfernt waren.
Sie machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Tut mir leid. Ich weiß, dass niemand wissen soll, dass die Schuhe deine Glücksbringer sind, ich hab mich verplappert.”
Ich verzog das Gesicht. Jahrelang hatte ich darauf beharrt, keinen Glücksbringer zu brauchen, hatte mich im Stillen sogar über die kleinen Rituale der anderen lustig gemacht. Wenn ich jetzt daran dachte, dass Cristan mitbekam, dass ich die Schuhe vor jedem wichtigen Auftritt anzog, dann sträubte sich in mir alles. Und auf gar keinen Fall wollte ich, dass er erfuhr, was ich jeden morgen vor dem Training tat. Davon wusste nicht einmal Yuki etwas.