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Cristan - Jahr II

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Jeder hat einen geheimen Wunsch, diesen einen, brennenden Wunsch tief im Inneren. Manche Wünsche sind einfach, andere kompliziert und wieder andere düster, grausam oder abartig. Aber sie alle haben eines gemeinsam: Sie machen uns zu dem, was wir sind.

Dank meiner Gabe hatte ich schon viele Wünsche gesehen und zu meinem Vorteil genutzt. Was für eine Ironie, dass es mir gerade bei meinem eigenen Wunsch nie gelungen war. Lange Zeit hatte ich versucht, ihn mir zu erfüllen. Inzwischen legte ich keinen Wert mehr darauf.

Stattdessen wollte ich Katis Wunsch endlich wecken. Anfangs war ich überzeugt, dass es genügen würde, wenn sie einmal die roten Schuhe trug, aber mittlerweile war es ein Jahr her, dass ich ihr die Schuhe gegeben hatte, und in diesem einen Jahr hatte Kati sie trotz all meiner Bemühungen nur ein einziges Mal getragen.

Zum Anprobieren.

Mit ihren inzwischen 16 Jahren kämpfte Kati wie eine Wildkatze gegen mich, ohne es überhaupt zu wissen. Sie versetzte mir eine Niederlage nach der anderen, und ich brannte darauf, zu sehen, was sie schließlich zum Aufgeben bewegen würde. Dass sie aufgeben würde, daran zweifelte ich keine Sekunde. Sie alle ergaben sich früher oder später, weil ihre Seelen verdorben waren, von Grund auf. Ich wusste es, ich hatte es oft genug gesehen.

Im letzten Jahr hatte ich meinen Spaß gehabt, aber er wurde langsam ungeduldig. Jedes Mal, wenn ich ihm Bericht erstattete, lechzte er mehr nach Katis Seele, wollte sie endlich in seiner Gewalt. Es war an der Zeit, die Sache etwas voran zu treiben. Genau deswegen war ich jetzt hier.

„Ach, der neue Pianist?”, fragte der Herr am Empfang der Akademie für Ballett und Tanz.

Ich nickte und hob die Mappe mit den Noten. Er lächelte mir zu und winkte mich durch. Langsam stieg ich die breite Metalltreppe in den ersten Stock hinauf, wo die Trainingsräume der höheren Klassen lagen. Helles Holz, Stahl und Glas bestimmten das Erscheinungsbild des Gebäudes. Ich ging zielstrebig zu dem Raum, in dem ich Kati schon einige Male zuvor beobachtet hatte. Aber heute war es anders. Heute konnte sie mich ebenfalls sehen.

Die Schüler der Ballettklasse waren schon anwesend. Es waren alles junge Mädchen in Katis Alter. Nicht, weil es keine Jungen gab, sondern weil diese in einigen Stunden getrennt von den Mädchen unterrichtet wurden. Die Mädchen waren ausnahmslos damit beschäftigt, sich aufzuwärmen. Auf dem Weg zum Klavier suchte ich die Stangen an den Wänden nach Kati ab, und als ich sie schließlich fand, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Nicht wegen Kati, die ganz schlicht in rosa und schwarz gekleidet war, wie es der Vorschrift entsprach.

Es war das Mädchen neben ihr, das meinen Blick gefangen hielt. Sie trug eine Art Latzhose, die entfernt an die Wathose eines Fischers erinnerte. Fehlten nur noch die Gummistiefel. Stattdessen steckten ihre Beine in verschiedenfarbigen Beinwärmern, von denen einer hochgezogen war, während der andere auf dem Knöchel hing. Über der Latzhose trug sie eine dicke, orange Strickjacke die halb offen stand. Merkwürdige Kleidungskombinationen trugen die anderen Schülerinnen ja auch, vor allem zum Aufwärmen, aber Katis Freundin übertraf sie wirklich alle.

Ich legte die Mappe mit den Noten auf das Klavier und begann ebenfalls damit, mich etwas aufzuwärmen. Ich spiele nicht gern mit kalten Fingern. Ein paar der Mädchen sahen auf, als ich die ersten Töne anschlug, aber nicht Kati. Ihr Blick folgte ihrer Hand, während sie ihre Arme kurz aufwärmte, nur der Spiegel erhielt gelegentlich ihre Aufmerksamkeit, wenn sie ihre Haltung kontrollieren wollte. Entdeckte sie einen Fehler, kräuselte sie die Nase, um dann das Bein weiter nach außen zu drehen oder die Ferse weiter nach vorne zu schieben.

Ein lautes Klatschen beendete das geordnete Chaos an der Stange, als die Lehrerin für klassischen Tanz den Raum betrat. Die Mädchen liefen zu einem Regal in der Ecke des Raumes, in dessen Fächer sie eilig ihre illustren Kleidungsstücke stopften, um dann, nun alle in schwarzem Trikot und rosa Strumpfhose, ihre Positionen an der Stange einzunehmen. Sie sahen jetzt alle gleich aus und selbst Katis Freundin war nicht mehr eindeutig auszumachen. Kati allerdings schon. Sie hob sich immer von den anderen ab. Selbst wenn alle Mädchen völlig gleich ausgesehen hätten, hätte Kati herausgestochen. Es war nicht ihr Lächeln, denn sie lächelte kaum. Es war die Art, wie sie sich bewegte. Gerade führte sie die linke Fußspitze am Bein entlang zum Knie, streckte das Bein dann seitlich aus und hoch bis in den Spagat. Nicht höher als die anderen, nicht perfekter ausgeführt, zumindest nicht, dass ich es hätte erkennen können. Aber es wirkte so mühelos und leicht, als hätte ihr Bein gar kein Gewicht.

Als die Lehrerin die Klasse nach ungefähr einer Stunde in die Mitte bat, kräuselte sich Katis Nase, als wären die Übungen in der Mitte für sie ein einziger großer Fehler. Mit den ersten Übungen fern der Stange schlich sich ein besorgter Ausdruck in ihr Gesicht.

„Pirouettes en pointe. Drei Stück, ohne abzusetzen.” Die Lehrerin klatschte in die Hände und die Schülerinnen stellten sich in der Ecke gegenüber dem Klavier auf. Sie begannen, in endlosen Wiederholungen Pirouetten zu drehen. Ich fragte mich, ob ihnen nicht schwindelig wurde, aber wahrscheinlich gab es irgendeine Technik, um das zu verhindern. Als Kati an der Reihe war, sah ich auf, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen. Sie stellte sich in Position, ging auf Spitze, hob gleichzeitig das linke Bein ans rechte Knie und drehte sich, wieder und wieder. Mit jeder Drehung kräuselte sich ihre Nase mehr und sogar ich konnte sehen, warum. Es sah nicht leicht und unbeschwert aus. Es sah irgendwie nach gar nichts aus. Mit jeder Drehung verlor sie mehr die Balance, und wenn sie am Ende wieder stand, wackelten ihre Knie.

Auf genau so etwas hatte ich gehofft.

„Kati, seit Wochen wird das nicht besser. Was ist los mit dir? Du weißt doch, dass das in der Prüfung verlangt wird.”

Katis Mund wurde zu einem Strich. „Ja, Madame.”

„Achte besonders auf die zweite Pirouette, da verlierst du die Balance.”

Sie gab Kati noch ein paar Hinweise, worauf sie achten sollte, und dann ging alles wieder von vorne los. Kati hob sich auf die Spitze, drehte, drehte, drehte und strauchelte. Mit jeder Runde wurde ihr Gesichtsausdruck verbissener und ihre Leistung schlechter.

Die Lehrerin schüttelte nur noch resigniert den Kopf. Schließlich klatschte sie in die Hände. „Lassen wir es für heute gut sein.” Sie arbeitete mit den Mädchen noch eine Weile an ein paar Tänzen, ermahnte sie dann, sich gut zu dehnen, und verließ den Saal.

Ruhig blieb ich am Klavier sitzen, bis alle gegangen waren. Alle außer Kati. Sie hatte sich nicht gedehnt und dachte offensichtlich noch gar nicht daran, aufzuhören.

„Hey, Kati!” Ihre Freundin war noch einmal zurückgekommen. „Kommst du nicht mit?”

Kati schüttelte den Kopf. „Heute nicht, Yuki.”

Die Freundin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, seufzte dann aber nur, schüttelte den Kopf und ließ die Tür ins Schloss fallen, während Kati vor dem Spiegel immer wieder einzelne Pirouetten trainierte.

„Die sehen ziemlich gut aus.”

Kati stolperte aus der Pirouette und blieb stehen, um mich anzusehen. „Was … ?” Ihre Augen weiteten sich, als sie mich erkannte. „Sie! Was tun Sie hier?”

Sie erinnerte sich also an mich.

„Ich spiele Klavier”, antwortete ich und lächelte schief.

Ihre Wangen nahmen diesen reizenden rosa Schimmer an. „Natürlich, der neue Pianist. Ich … ich habe …”

„Du hast mich nicht bemerkt”, vollendete ich ihren Satz. „Das macht doch nichts. Das zeigt nur, wie konzentriert du bist.”

Sofort war der rosa Schimmer verschwunden und ihre Nase wieder kraus. „Nur nutzt mir alle Konzentration jetzt auch nichts mehr. Es klappt einfach nicht.”

Ich fand eigentlich, dass alles hervorragend klappte. „Soll ich noch ein bisschen für dich spielen?”, bot ich an.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut, das kann ich wirklich nicht verlangen. Ich komme schon zurecht.” Sie drehte sich um, stellte sich wieder in die Mitte des Raumes und hatte mich schon fast vergessen. Aber so einfach würde ich es ihr nicht machen. Ich durchsuchte kurz mein lückenhaftes Ballettwissen.

„Ist ein deutlicher Takt nicht hilfreich, wenn man Mehrfach-Pirouetten übt?”

Sie drehte den Kopf und ihre Augen fokussierten mich wieder. „Ja, das stimmt.”

Ich zuckte mit den Achseln. „Ich habe sowieso Zeit totzuschlagen, es macht mir nichts aus.”

„Dann nehme ich das Angebot gerne an.” Sie lächelte dankbar und stellte sich in Position. „Ich hoffe, es klappt.” Das hoffte ich natürlich nicht.

Ich wurde nicht enttäuscht.

Etwa eine Stunde später war der Himmel hinter der großen Glasfront zu schwarzer Nacht verglüht und Kati hatte noch immer keine Fortschritte gemacht. Mit grimmigem Gesicht ging sie zu ihrer Tasche, zog ein Handtuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich mache eine kleine Pause. Sie müssen nicht hier bleiben.”

Ich lachte leise. Natürlich machte sie nur eine Pause. Sie würde nicht aufgeben. „Ich kann jetzt unmöglich gehen. Sonst werde ich mich immer fragen, ob du die Pirouetten noch gemeistert hast. Nein, wir sitzen jetzt beide hier fest.” Langsam ging ich auf sie zu.

Sie verzog das Gesicht. „Tut mir leid, dass ich Sie mit ins Verderben gerissen habe.”

Ihre Wortwahl amüsierte mich. „Es scheint, als teilten wir dasselbe Schicksal. Gefangen in der Pirouetten-Hölle. Ich finde, du solltest mich duzen.” Ich reichte ihr meine Hand. „Cristan.”

„Kati.” Sie legte ihre kleine Hand mit den langen, zarten Fingern in meine, fest und viel stärker, als es den Anschein hatte. Ich sah auf sie herunter und zog einen Mundwinkel hoch. „Guter Händedruck.”

„Interessanter Name”, sagte sie.

„Dänisch.” Das behauptete ich immer, wenn jemand mich darauf ansprach, dabei war ich mir gar nicht sicher, ob das stimmte. Vielleicht hätte ich meinen Namen einfach wechseln sollen, irgendwann im Laufe der Jahre hätte ich auf die modernere Form umsteigen können, aber er gefiel mir. Er gehörte von Anfang an zu mir, war eines der wenigen Dinge, die ich wirklich und wahrhaftig mein Eigen nennen konnte.

Kati lehnte noch eine Weile an der Stange. Dann ging sie etwas trinken und stellte sich wieder in die Mitte des Raumes. Aber schon fünf Minuten später ließ sie sich auf den Boden sinken.

„Ich versteh das einfach nicht. Ich habe das Gefühl, es wird immer schlimmer.”

Ich ging zu ihr und hielt ihr meine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Manchmal ist das auch so. Dann muss man es einfach ruhen lassen.” Ich musste es vorschlagen, damit es nicht zu auffällig war, aber ich wollte natürlich nicht, dass sie den Vorschlag annahm. Und sie wäre nicht Kati gewesen, wenn sie das auch nur in Erwägung gezogen hätte.

„Auf keinen Fall. Ich finde noch heraus, woran es liegt. Heute. Aber wenn du gehen willst …”

Aber nein, wo es doch gerade anfängt, Spaß zu machen. Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich hätte einen Vorschlag, wenn du ihn hören willst.”

Sie nickte. „Natürlich. Ich bin so verzweifelt, dass ich fast alles ausprobieren würde.”

„Wenn ich beim Klavier spielen an einer Stelle hänge, hilft es mir manchmal, etwas zu verändern. Irgendetwas. Manchmal reicht es, wenn ich den Stuhl anders hinstelle oder meine Jacke ausziehe. Ich schätze, damit überlistet man das Gehirn.”

Ihre grauen Augen fixierten mein Gesicht. Wahrscheinlich versuchte sie, herauszufinden, ob ich nur scherzte. „Wirklich?”, fragte sie schließlich.

Ich nickte. Ich hatte mir das nicht einmal ausgedacht. Ich wusste nur nicht, ob es auch bei anderen Menschen funktionierte. Bei Kati allerdings würde es funktionieren. Dank der Schuhe.

„Aber was soll ich ändern? Ich glaube kaum, dass es etwas bringt, das Trikot zu wechseln, ich habe zwar noch andere, aber sie sehen alle genau gleich aus. Schultrikots eben.”

Typisch Kati. Wahrscheinlich war sie die einzige hier, die nur die vorgeschriebenen Schultrikots besaß und nicht zum Vergnügen gelegentlich auch noch ein paar hübschere kaufte. Ich betrachtete sie von oben bis unten. Ja, viele Möglichkeiten gab es zum Glück nicht. „Wie wäre es mit den Schuhen?”

„Geht leider nicht. Ich habe nur noch dieses eine Paar.” Sie lächelte schief. „Normalerweise habe ich zwei, aber das eine ist schon vor ein paar Tagen kaputt gegangen.”

„Hast du denn die roten Schuhe nicht mehr?” Ich fühlte mich wie ein lauerndes Raubtier.

Sofort verspannte sie sich. „Doch. Sie hängen an der Wand in meinem Zimmer.”

„Dann hol sie doch. Du wohnst doch im Internat.”

„Nein, das kommt nicht in Frage. Ich trage sie nicht.” Allein der Gedanke schien sie zu erschrecken.

Als ob ich das nicht wüsste. „Wirklich? Du warst doch so begeistert davon.”

Sie schüttelte den Kopf. „Rosa Schuhe sind vorgeschrieben.”

„Das gilt doch sicher nur für den Unterricht. Jetzt sieht es ja keiner.”

Sie starrte mich unbewegt an. Trotzdem konnte ich an ihren Augen sehen, wie es in ihr arbeitete. Sie wollte es. „Ich will lieber nichts riskieren. Auf keinen Fall so kurz vor der Prüfung.”

Ihr Blick sank zu ihren Füßen. Ich wusste genau, woran sie dachte. An das Gefühl der roten Schuhe an ihren Füßen, die sich so ganz anders anfühlten, als die rosanen und dass sie es gerne noch mal spüren würde. Es war unglaublich, dass sie das ganze Jahr lang nicht nachgegeben hatte. Was für eine Willenskraft.

Ich sah ein, dass über Vernunft nichts zu gewinnen war. Ihr Wunsch war noch zu tief in ihr verborgen. Ich musste einen anderen Weg gehen, wenn ich ihn herauskitzeln wollte. „Ja, das verstehe ich. Sicherlich wird es nichts ausmachen, dass du die drei Pirouetten am Stück nicht schaffst. Andere haben damit ja auch Probleme. Und da du sowieso nicht sicher bist, ob du wirklich Tänzerin werden möchtest ...” Ich drehte mich um und ging zum Klavier, um meine Notenmappe zu holen.

„Warte.”

Ich blieb stehen und unterdrückte ein Lächeln. Dann drehe ich mich zu ihr um.

„Du hast Recht. Ich kann nicht riskieren, bei der Prüfung schlecht abzuschneiden.” Sie senkte den Kopf und zupfte an ihrem Trikot herum. „Wenn ich die Schuhe anziehe, bleibst du dann noch hier und achtest ein wenig darauf, dass niemand kommt?”

„Natürlich.”

„Danke.” Sie sah erleichtert aus. „Aber zuerst muss ich die hier loswerden.”

Sie setzte sich auf den Boden, die langen Beine überkreuzt, und löste langsam die Bänder ihrer Schuhe. Sie schälte sich den linken Schuh vom Fuß. Den großen, frischen Blutfleck, der durch ihre Strumpfhose bis auf das Satin der Schuhe durchgedrungen war, kommentierte sie gar nicht. Unfassbar, dass sie jeden Tag damit trainierte.

Dann stand sie auf und lief aus dem Saal, um die roten Schuhe zu holen.

Wenige Minuten später kam sie mit einem zusammengerollten Handtuch in den Händen zurück. Bevor sie die Tür zum Ballettsaal schloss, sah sie sich noch einmal um, ob ihr jemand folgte.

„Zum Glück hab ich damals die Bänder an die Schuhe genäht.”

Sie schlug das Handtuch auseinander und roter Satin strahlte mir entgegen. Mit einem Lächeln im Gesicht streichelte Kati über den glatten, makellosen Stoff. Ein Gefühl der Erregung durchfuhr mich. Sie zog die Schuhe an, schnürte konzentriert die Bänder und stand dann auf, sah nach unten, stellte einen Fuß auf die Spitze und dehnte das Bein.

„Und, wie fühlt es sich an?” Erstaunt stellte ich fest, dass mein Herz schneller klopfte. Ich lauerte darauf, dass ihr Wunsch endlich erwachte. Aber nichts tat sich. Ich konnte ihn immer noch nicht spüren.

Durch die blasse Haut an Katis Hals sah ich eine dunkelblaue Vene pulsieren.

„So schlimm?”, fragte ich.

„Nein … nur … es fühlt sich irgendwie verboten an.”

Vorsichtig, so als könnten schon die Geräusche der Schuhe auf dem Boden ihre Untat verraten, bewegte sie sich zur Stange. Sie ging mehrmals zu einem perfekten Plié in die Knie und streckte dann die Beine mit dem Fuß am Boden nach vorne aus, um ein paar Battements zu machen. Sie hoffte wohl, sich dadurch an die Schuhe zu gewöhnen. Nach ziemlich kurzer Zeit stellte sie sich wieder in die Mitte. „Unglaublich, dass völlig neue, völlig unbearbeitete Schuhe sich so anfühlen können.” Sie flüsterte immer noch, aber ihr Puls hatte sich beruhigt.

Als ich die ersten Töne anspielte, begann sie mit den Pirouetten. Zuerst sah ich keinen deutlichen Unterschied. Sie verlor immer noch bei der zweiten Drehung die Balance und schummelte sich irgendwie durch die dritte. Nur dass ihr Gesicht jetzt entspannt und konzentriert wirkte, nicht mehr so verbissen.

„Wie läuft es?”, fragte ich schließlich, als ich immer noch keine Veränderung erkennen konnte.

„Hervorragend!”, antwortete Kati.

Zuerst war ich verwirrt, aber natürlich konnte es an der Art liegen, wie die Schuhe funktionierten. Sie schenkten einem den Erfolg nicht, sie weckten die Fähigkeiten, die man brauchte, um ihn sich zu erarbeiten.

„Am Anfang habe ich keinen Unterschied gemerkt. Aber dann habe ich plötzlich gespürt, woran es liegt. Ich knicke mit der einen Schulter ein, nur ganz wenig, man sieht es kaum, aber das bringt mich aus dem Gleichgewicht. Jetzt kann ich es plötzlich spüren und es richtig trainieren.” Sie lächelte, stellte sich wieder in Position und drehte weiter. Es war klar, dass sie jetzt erst recht nicht aufgeben würde, bis es klappte. Ich fragte mich, woher sie diese Energie nahm.

Sie stellte sich auf, holte Schwung, hob sich auf die Spitze und drehte. Einmal, zweimal, dreimal und kam dann in perfekter Balance zum Stehen. Mit leuchtenden Augen sah sie mich an. „Hast du das gesehen?”, rief sie mir zu. „Ich habe es geschafft. Es hat funktioniert!”

Ich zwang mich sie anzulächeln, aber mir war gar nicht froh Zumute. Wo war der Wunsch? Wieso spürte sie es nicht?

Kati machte weiter. Mit der Zeit fing es auch an, besser auszusehen. Es wirkte jetzt leichter, so als müsste sie sich weniger anstrengen. Wie gebannt starrte ich sie an, wartete auf das verräterische Glitzern in ihren Augen, aber nichts geschah. Meine Laune wurde mit jeder Drehung schlechter.

Als sie mehrmals hintereinander die drei Pirouetten nicht nur perfekt ausbalanciert gedreht hatte, sondern dabei auch den Eindruck erweckte, als gelänge es ihr völlig mühelos, blieb sie schließlich stehen. „Ich glaube, das reicht.” Sie ließ sich auf den Boden sinken.

Ich hörte auf zu spielen, starrte kurz auf meine Hände und atmete tief durch. Von Anfang an hatte ich gewusst, ja sogar gehofft, dass es schwierig werden würde, aber dass sich ihr Wunsch selbst jetzt noch nicht zeigte, kratzte an meinem Stolz. Mich jetzt darüber zu ärgern, war jedoch sinnlos. Ich musste mir eben etwas Neues einfallen lassen.

Irgendwann stand ich auf, ging zu ihr und reichte ihr meine Hand. Sie schüttelte nur schwach den Kopf. Ein paar Haare hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und umrahmten vom Schweiß gekräuselt ihr Gesicht. Ihre Wangen waren rot von der Anstrengung und ihre Haut schimmerte feucht.

„Natürlich muss ich es auch en dehors machen.”

„En dehors?”, fragte ich, während ich mich neben sie auf den Boden setzte.

„Das war vorwärts, en dedans. Aber rückwärts, also en dehors, muss ich es genauso können.”

„Heute noch?” Dann hatte ich ja vielleicht doch noch Hoffnung. Auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie nach so einer Tortur noch weiter machen wollte. Nicht, wenn der Wunsch nicht geweckt worden war.

Sie lachte. Es war das erste Mal, dass ich sie richtig lachen hörte. „Nein, ich glaube, heute nicht mehr.” Sie strich sich die Haare aus der Stirn. „Aber ich trainiere vielleicht noch ein bisschen.” Ich wartete vergeblich auf ein Zwinkern ihrer Augen, irgendein Anzeichen dafür, dass sie es nicht ernst meinte.

„Nach all der Schinderei willst du noch weiter machen?”

Hatten die Schuhe am Ende doch etwas bewirkt? Ich bekam eine leise Ahnung, wozu sie fähig sein würde, wenn ihr Wunsch erst richtig in ihr brannte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Klar. Ich habe gerade Lust dazu. Außerdem muss ich mich sowieso noch etwas abkühlen. Ich kann nicht einfach so aufhören, das schadet den Muskeln.”

Oder war sie einfach nur verantwortungsbewusst? Ich grübelte, wie ich weiter vorgehen sollte.

Kati unterbrach meine Gedanken. „Unglaublich, dass das funktioniert hat, nicht?”

Ich nickte, während ich die Möglichkeiten in meinem Kopf abwägte. „Ja, stimmt. Und alles nur wegen der Schuhe.”

Ernst schüttelte Kati den Kopf. „Dein Tipp war es, der geholfen hat. Etwas verändern. Das ist echt schlau. Das merke ich mir. An den Schuhen lag das bestimmt nicht.”

Ich verzog den Mund zu einem Lächeln. Mein Ärger war schon wieder verflogen und ich beschloss, es für heute aufzugeben. Auch wenn es ihm nicht gefallen würde, immerhin hatte ich meinen Spaß gehabt. „Wer weiß. Vielleicht haben die Schuhe magische Kräfte”, sagte ich.

Sie wurde plötzlich ernst und zog die Augenbrauen zusammen. „Komm mir nicht mit so etwas. Daran glaube ich nicht. Man hat seinen Erfolg selbst in der Hand. Magie oder gar Glücksbringer haben damit nichts zu tun!” Sie verstummte und schüttelte den Kopf. „Aber ich gebe zu, die Schuhe fühlen sich wirklich toll an beim Tanzen.” Dann sah sie mich noch einmal an und lächelte, aber dieses Lächeln wirkte angestrengt. „Vielen Dank für deine Hilfe. Für den Tipp, und dass du mit mir durchgehalten hast.”

„Das habe ich gern gemacht.” Und das war nicht einmal eine Lüge. Auch, wenn es nicht ganz so gelaufen war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich musste nur beharrlich sein und mich in Zukunft mehr in ihrer Nähe aufhalten, um jede Gelegenheit zu nutzen. Irgendwann würde ihr Wunsch erwachen, und mit ihm ihre Verdorbenheit.

Die blutroten Schuhe

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