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a) Die Unmöglichkeit einer Privatsprache
ОглавлениеRegelfolgen als soziale Praxis
Einer Regel folgen ist eine Praxis, die gemäß Wittgenstein begrifflich voraussetzt, dass es eine Gemeinschaft, also eine Vielzahl von Personen, gibt, nicht nur eine einzelne Person. Eine bestimmte Handlungsweise kann nur als regelfolgendes Verhalten aufgefasst werden, wenn der Handelnde als Teil einer Gemeinschaft betrachtet wird, in der diese Handlungsweise üblich und selbstverständlich ist. So ist es unmöglich, dass ein einzelner Mensch nur einmal einer Regel gefolgt wäre (Wittgenstein 1952/1984a, §199). Demgemäß ist es auch ausgeschlossen, dass jemand privat, d.h. in Gedanken und nur für sich, ein Regelsystem aufbaut und diesen Regeln folgt, denn es fehlt dann an einer Kontroll- und Sanktionsinstanz:
„Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“ (Wittgenstein 1952/1984a, §202)
Privatsprachenargumentation
Diese Unmöglichkeit erläutert Wittgenstein auch insbesondere im Fall der Empfindungssprache, d.h. im Falle von Ausdrücken für unsere Empfindungen, z.B. Schmerzäußerungen („Ich habe Zahnschmerzen“), Farbempfindungsäußerungen („Ich habe eine Rotempfindung“). In der subjektivistischen Bedeutungstheorie ist die Bedeutung meiner sprachlichen Schmerzäußerung („Ich habe Zahnschmerzen“) meine Empfindung, also mein Zahnschmerz. Da jedoch nur ich diese Empfindung habe, bleibt es im Rahmen dieses Modells unverständlich, wie andere Personen die Bedeutung meiner Äußerung verstehen können, denn sie haben meinen Zahnschmerz nicht. Hier scheint die naheliegende Entgegnung zu sein, dass sie doch ähnliche Schmerzen erlebt haben und kennen. Doch dies wirft das Problem auf, dass ich nur Empfindungsausdrücke von Empfindungen verstehen könnte, die ich selbst erfahren habe. Selbst wenn man diese Folgerung als unproblematisch ansieht, so ist doch das dahinter stehende Modell der Privatsprache problematisch: Eine Privatsprache ist eine Sprache, die Ausdrücke enthält, deren Bedeutung ich dadurch festlege, dass ich sie in Gedanken als Ausdrücke für eine bestimmte Empfindung einführe. Dass eine solche Privatsprache unmöglich ist, versucht Wittgenstein durch sein Käferbeispiel zu belegen: Angenommen jeder hätte eine Schachtel und darin wäre etwas, das wir „Käfer“ nennen. Es könne jedoch niemand in die Schachtel des anderen schauen und jeder wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. Der Ausdruck kann in einer solchen Sprachgemeinschaft eine klare Verwendungsweise haben, selbst wenn jeder einen anderen Käfer in seiner Schachtel hat, ja sogar wenn die Schachteln alle leer wären.
„Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. […] Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein.“ (Wittgenstein 1952/1984a, §293)
Diese Überlegung zeigt, dass die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, mit dem wir über eine Empfindung sprechen, nicht dadurch festgelegt wird, dass wir die Empfindung haben und in einem bestimmten Augenblick für die Empfindung diesen Ausdruck einführen, sondern dadurch, dass sich eine Verwendungsweise des Ausdrucks, eine Praxis in einer Sprachgemeinschaft etabliert. Wittgensteins Argumentation zur Unmöglichkeit einer Privatsprache lässt sich grob wie folgt rekonstruieren:
(1) Die Bedeutung von Ausdrücken wird durch Gepflogenheiten konstituiert.
(2) Gepflogenheiten können nur in einer Gruppe von Personen etabliert werden.
(3) Also kann eine Person allein Ausdrücken keine Bedeutung verleihen.
Bedeutung und Sprachgemeinschaft
Da Ausdrücke für Empfindungen in allen Bedeutungstheorien eine besondere Schwierigkeit mit sich bringen, werden sie zur Diskussion des Arguments zurückgestellt. Wenn wir an Robinson Crusoe denken, so sind gute Beispiele die Ausdrücke „Ananas“, „Zitronen“ etc. Angenommen also, Robinson sieht auf der Insel erstmals Ananas und Zitronen, er besitzt eine normale Sehfähigkeit sowie normale Gedächtnisfähigkeiten und hat bisher noch keine sprachlichen Ausdrücke für diese Früchte kennengelernt. Die kritische Gegenthese gegen Wittgenstein lautet: Robinson kann, obwohl er ganz allein ist, nicht nur eine Gepflogenheit, sondern zufällig sogar dieselbe Gepflogenheit, die in unserer Sprachgemeinschaft etabliert ist, ausbilden. Dies soll nun verdeutlicht werden. Die Prämisse (1) des Arguments ist die Formulierung der konventionalistischen Bedeutungstheorie, die bereits kurz kritisch betrachtet wurde und hier jetzt um des Argumentes willen akzeptiert wird, damit wir uns auf eine Kritik an Prämisse (2) konzentrieren können. Wie ist es möglich, allein eine Gepflogenheit zu entwickeln? Eine Voraussetzung dafür ist, dass Robinson in einer Welt mit Regularitäten lebt. Das ist jedoch erfüllt. Jeden Morgen geht die Sonne auf, Ananas und Zitronen befinden sich immer an gleichartigen Bäumen bzw. Sträuchern, sie haben einen gleichförmigen Reifungsprozess usw. Da Robinson schon gelernt hat, Äpfel und Birnen zu unterscheiden, verfügt er in einer solchen Welt über das Vermögen, Zitronen und Ananas aufgrund ihrer Eigenschaften (Formen, Farben, Härte der äußeren Schale, Geschmack des Fruchtfleisches etc.) von vielen anderen Früchten klar zu unterscheiden. Es spricht alles dafür, dass Robinson auf der Basis von Objekt-Merkmals-Unterscheidungen kognitive Kategorien von Ananas und Zitronen neben den ihm bereits bekannten Kategorien von Äpfeln und Birnen aufbaut. Wenn er diese Kategorien kognitiv stabil aufbaut, dann ist auch kein Grund erkennbar, warum er dafür nicht einen sprachlichen Ausdruck einführen können soll.
Regelfolgen und Abweichungen
Ein auf Wittgenstein zurückgehender Einwand lautet: Robinson kann deswegen keine Gepflogenheit etablieren, weil er nicht bemerken würde, wenn er von einer Regel abweichen würde. Einer Regel zu folgen wäre dann dasselbe wie einer Regel zu folgen glauben (Wittgenstein 1952/1984a, §202). Dieser Einwand ist jedoch nicht tragfähig, denn er stellt letztlich eine radikale Form von Skepsis dar, die auf die Möglichkeit verweist, dass Robinsons Gedächtnis nicht gut funktioniert und er deshalb am Dienstag eine andere Kategorie bildet als am Montag. Solch eine Skepsis würde jedoch auch in einer Sprachgemeinschaft das Etablieren von Gepflogenheiten verhindern, nämlich dann, wenn man annimmt, dass alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft ein schlechtes Gedächtnis haben und somit am Dienstag jeder eine andere Regel im Umgang mit dem Wort „Ananas“ für richtig halten würde, während am Montag noch ein einheitlicher Gebrauch vorgeherrscht hatte. Es handelt sich bei dem Einwand also um eine Form von Skepsis, die allein in der Erkenntnistheorie methodisch ihren Platz hat (vgl. Lewis 1996 und Newen 2003) und hier unangebracht ist, weil sie auch gegen Wittgenstein selbst zu richten wäre.
Ein weiterer Einwand könnte besagen, dass Robinson nur deshalb die Kategorien von Ananas und Zitrone bilden kann, weil er schon in der Sozialgemeinschaft ähnliche Kategorien erlernt hat und somit doch die Sozialgemeinschaft ausschlaggebend wäre. Obwohl der einzelne Mensch für sein Überleben und seine Entwicklung in ausgeprägtem Maße von der Sozialgemeinschaft abhängig ist, so gibt es bisher aus der Entwicklungspsychologie keine Hinweise dafür, dass die kognitiven Fähigkeiten, die für die Objektkategorisierung wesentlich sind, in wesentlicher Weise die Eingebundenheit in eine Sozialgemeinschaft voraussetzen. Vielmehr gibt es empirische Belege dafür, dass wir diese Fähigkeit in einfachen Formen bereits bei Tieren finden (vgl. Newen 2007) und Studien von Tomasello (2008) legen nahe, dass Menschen sich von den Tieren gerade dadurch absetzen, dass Kleinkinder mit 2–3 Jahren – über die Objektkategorisierung hinausgehend – normative Erwartungen und kooperatives Verhalten ausbilden, während Affen dies bei ansonsten vergleichbarer kognitiver Kompetenz nicht tun. Wir können also auch als Einzelperson Gepflogenheiten im Umgang mit der nichtmenschlichen Umwelt entwickeln, wenn diese nur hinreichend Regularitäten enthält und die kognitiven Fähigkeiten vorhanden sind, entsprechende Objektkategorisierungen vorzunehmen. Selbst wenn also die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken durch Gepflogenheiten konstituiert wird, so bleibt hier die entscheidende Beobachtung, dass man auch allein Gepflogenheiten aufbauen kann und die systematische Frage, was wesentlich ist, um bedeutungskonstitutive Gepflogenheiten aufzubauen.