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Erster Teil
III

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Im Schlosse herrschte große Bestürzung. Der Verwalter und der Pfarrer, welche noch Tags zuvor ihre Partie Whist mit Sir Edward gemacht hatten, konnten sich diese plötzliche Unpäßlichkeit nicht erklären ; aber Tom gab ihnen die nöthigen Erklärungen über die Ursache und Bedeutung der Krankheit. Es wurde also beschlossen, den Arzt zu Rathe zu ziehen und um Sir Edward nicht merken zu lassen, wie besorgt man um ihn war, sollte der Doktor am folgenden Tage wie zufällig zum Essen kommen.

So verging der Tag in gewohnter Weise. Mit Hilfe seiner großen Willenskraft hatte der Capitän seine Schwäche überwunden; aber er aß sehr wenig, setzte sich auf seinem Spaziergange sehr oft nieder, schlief beim Lesen ein und machte beim Whist einen Fehler um den andern.

Am folgenden Tage kam der Arzt.

Der Besuch bot dem Capitän anfangs eine willkommene Zerstreuung und entriß ihn seiner Erschlaffung; aber bald stellte sich die Abspannung und Gedankenlosigkeit wieder ein.

Der Arzt erkannte die Merkmale des Spleen, jener bedenklichen Gemüthskrankheit, gegen welche die Heilkunst nichts vermag. Er verordnete indeß eine Diät, welche in magenstärkenden Getränken und gebratenem Fleische bestand; dabei sollte der Kranke sich möglichst viele Zerstreuungen verschaffen.

Der erste Theil der ärztlichen Verordnungen war leicht zu befolgen; man findet ja überall Kräutersaft, Bordeaux und Beefsteak; aber an Zerstreuung fehlte es in Williamhouse. Tom hatte bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt; man war auf Lectüre, Promenade und Whist beschränkt, und es ließ sich höchstens in der Zeit und Reihenfolge dieser Unterhaltungen eine Veränderung vornehmen; sonst wußte der brave Seemann nichts zu erfinden, was seinen Commandanten der immer mehr überhand nehmenden Erstarrung hätte entreißen können.

Er schlug eine Reise nach London vor; aber Sir Edward erklärte, daß er sich zu schwach fühle eine so weite Reise zu unternehmen, und da es ihm einmal nicht vergönnt sei in einer Hängematte am Bord seiner Fregatte zu sterben, so wolle er doch lieber im Bette als im Wagen den Geist aufgeben.

Ein bedenkliches Symptom fand Tom darin, daß Sir Edward anfing die Gesellschaft seiner Freunde zu meiden. Tom selbst schien ihm jetzt zur Last zu sein. Der Capitän ging wohl noch im Parke spazieren, aber allein; und Abends machte er nicht mehr wie sonst seine Partie, sondern zog sich in sein Zimmer zurück und verbot Jedermann, sogar seinem getreuen Tom, ihm zu folgen. Er aß nicht mehr, als zur Erhaltung des Lebens nothwendig war, die Lectüre hatte keinen Reiz mehr für ihn; Kräutersaft wollte er gar nicht mehr nehmen, und seitdem er seinem Kammerdiener, der ihm in der besten Absicht einige Gewalt anthat, eine Tasse ins Gesicht geworfen hatte, getraute sich Niemand mehr von bitterer Medicin zu sprechen. Tom reichte ihm Thee mit etwas Rum.

Diese Auflehnungen gegen die ärztlichen Vorschriften verschlimmerten das Uebel indeß mit jedem Tage. Sir Edward war nur noch der Schatten von dem, was er früher gewesen; er war menschenscheu und düster; jedes Wort, das ihm mit Mühe entlockt wurde, war von deutlichen Zeichen der Ungeduld begleitet.

Im Park hatte er eine entlegene Allee gewählt, an deren Ende eine aus verschlungenen Zweigen gebildete Laube oder vielmehr Grotte war. Dort saß er oft Stunden lang, ohne daß ihn Jemand zu stören wagte. Vergebens zeigten sich Tom und Sanders zuweilen absichtlich in der Nähe; er schien sie nicht zu sehen, er wollte nicht mit ihnen sprechen.

Das Schlimmste dabei war, daß diese Menschenscheu mit jedem Tage größer wurde und daß der Capitän sich immer mehr von den Schloßbewohnern zurückzog. Ueberdies waren die Nebelmonate vor der Thür und man mußte, wenn nicht Wunder geschah, das Aergste fürchten. Dieses Wunder wirkte Gott durch einen seiner Engel.

Eines Tages, als Sir Edward grübelnd in seiner dunkeln Laube faß, hörte er in der Allee das Rauschen des trockenen Laubes unter einem unbekannten Fußtritte.

Er schaute auf und sah eine weibliche Gestalt, die in ihrem weißen Anzuge und bei ihrem leichten schwebenden Gange einer überirdischen Erscheinung glich, aus sich zukommen. Er sah sie erstaunt an und wartete, ohne einen Laut von sich zu geben.

Die Unbekannte schien etwa fünfundzwanzig Jahre alt zu sein, aber sie konnte auch etwas älter sein. Sie war noch schön, obgleich die erste, bei den Engländerinnen so blendende Jugendfrische vorüber war, aber sie stand, so zu sagen, in der zweiten Blüthe, welche sich durch üppigere Fülle auszuzeichnen pflegt.

Ihre blauen Augen hatten einen unbeschreiblich sanften, milden Ausdruck; ihr langes schwarzes Haar wallte in natürlichen Locken unter dem kleinen Strohhute herab; ihr Gesicht hatte die reinen edlen Zuge, die den Frauen im nördlichen Großbritannien eigen sind, und ihr einfacher, aber geschmackvoller Anzug hielt die Mitte zwischen der Mode des Tages und dem Puritanismus des siebzehnten Jahrhunderts.

Sie wollte die wohlbekannte Güte Sir Edwards für eine arme Witwe mit vier Kindern, deren Versorger Tags zuvor gestorben war, in Anspruch nehmen.

Der Eigenthümer des Hauses, in welchem die Witwe wohnte, befand sich aus Reisen, und der Verwalter forderte den seit einem Jahre rückständigen Miethzins. Der harte, auf den Vortheil seines Herrn bedachte Mann drohte Mutter und Kinder zum Hause hinauszuwerfen. Der Winter war vor der Thür; die arme Familie setzte ihre letzte Hoffnung auf den edelmüthigen Capitän und hatte die nun erscheinende junge Dame zur Fürsprecherin gewählt.

Sie schilderte die Noth der Witwe in so rührender Weise, daß Sir Edwards Augen feucht wurden ; er griff in die Tasche, zog eine mit Gold gefüllte Börse hervor und reichte sie der Abgesandten, ohne ein Wort zu sagen; denn wie Dante’s Virgil hatte er im langen Schweigen das Sprechen verlernt.

Die junge Dante ergriff dankend die Hand des Gutsherrn und küßte sie. Dann entfernte sie sich schnell, um der armen Familie diese unerwartet schnelle Hilfe zu bringen.

Sir Edward glaubte geträumt zu haben. Er sah sich nach allen Seiten um – die weiße Erscheinung war verschwunden. Er konnte sich kaum von der Wirklichkeit dieses Vorfalls überzeugen; doch er konnte nicht zweifeln, die Börse war nicht mehr in seiner Tasche und er fühlte noch den sanften Druck des Kusses aus seiner Hand.

In diesem Augenblick kam Sanders zufällig in die Allee. Der Capitän rief ihm. Sanders sah sich erstaunt um, denn er war an eine solche Vertraulichkeit schon längst nicht mehr gewöhnt.

Sir Edward gab ihm einen Wink. Sanders kam. Der Capitän fragte mit einer Lebhaftigkeit, die seiner Stimme schon lange nicht eigen gewesen war, wer die junge Dame sei, die sich so eben entfernt.

»Es ist Anna Mary,« antwortete der Verwalter, als ob es sich von selbst verstände, daß der Capitän die bezeichnete Person kenne.

»Wer ist denn Anna Mary?« fragte Sir Edward.

»Wie, Ew. Herrlichkeit kennen sie nicht?« fragte Sanders erstaunt.

»Nein« erwiederte der Capitän mit einer Ungeduld, die in seinem apathischen Zustande ein gutes Zeichen war; »nein, ich kenne sie nicht, sonst würde ich nicht fragen wer sie ist.«

»Wer sie ist? Der Himmel hat sie den Armen und Bedrängten als rettenden und tröstenden Engel gesandt. Sie hat vermuthlich um eine Beisteuer zu einem guten Werke gebeten?«

»Ja, ich glaube, sie hat von Nothleidenden gesprochen, denen man helfen müsse.«

»Ganz recht, sie erscheint bei reichen Leuten nur als Bittende, bei armen als Wohlthäterin.»

»Wer ist die Frau?«

»Sie ist noch ein Fräulein, und ein sehr gutes, braves Fräulein.«

»Aber wer ist sie?«

»Das weiß Niemand genau, obgleich man’s wohl vermuthet. Es mögen etwa dreißig Jahre sein, im Jahre 1766 oder 1767, kamen ihre Eltern nach Derbyshire; sie kamen aus Frankreich, wohin sie sich als Anhänger des Prätendenten [Edward, Enkel Jakobs II., der letzte Sprößling des Hauses Stuart.]) begeben haben sollen; ihr Vermögen war confiscirt, und sie ließen sich, da sie mindestens sechzig Miles von London entfernt bleiben mußten, in Derbyshire nieder. – Vier Monate nach der Ansiedlung der Familie wurde die kleine Anna Mary geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren verlor sie ihre Eltern und stand mit einer kleinen Rente von vierzig Pfund Sterling allein in der Welt. Es war zu wenig, um einen vornehmen Herrn zu heiraten, und für einen Bauer schickte sich ein so fein erzogenes Fräulein auch nicht; sie blieb also ledig und entschloß sich ihr Leben der Wohlthätigkeit zu widmete. Seitdem hat sie ihren Entschluß mit großem Eifer ausgeführt. Einige medicinische Kenntnisse, welche sie sich erworben, haben ihr die Thüren der armen Kranken geöffnet, und wo die Heilkunst nichts mehr vermag, soll ihr Gebet Alles vermögen. Denn Anna Mary wird von allen Leuten als eine Heilige betrachtet. Es ist daher nicht zu verwundern, daß sie sich die Erlaubniß genommen Ew. Herrlichkeit zu stören; sie hat überall Zutritt und kein Diener getraut sich sie abzuweisen.«

»Das ist recht,« sagte Sir Edward aufstehend; »denn es ist eine brave ehrenwerthe Person. – Geben Sie mir Ihren Arm, lieber Sanders; ich glaube, es ist Essenszeit.«

Er war seit mehr als einem Monate das erste Mal, daß der Appetit des Capitäns der Tischglocke vorauseilte Sanders mußte zum Essen dableiben, der Gutsherr wollte ihn nicht fortlassen. Der Verwalter war sehr erfreut über diese Rückkehr zur Geselligkeit und benutzte die ganz ungewohnte Gesprächigkeit des Capitäns, um von einigen Geschäftssachen zu sprechen, die er wegen der Krankheit aufgeschoben hatte. Aber diese Anwandlung von Gesprächigkeit ging bald vorüber, der Kranke gab dem Verwalter keine Antwort, – Vielleicht hielt er die zur Sprache gebrachten Angelegenheiten keiner Beachtung werth. Kurz, Sir Edward versank wieder in seine gewohnte Schweigsamkeit, und alle Bemühungen ihn zu zerstreuen blieben erfolglos.

John Davys Abenteuer eines Midshipman

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