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Erster Teil
VII

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Den folgenden Tag reiste Tom nach Williamhouse zurück, nachdem er die Haupttheile meiner Ausbildung, nemlich Turnen, Fechten und Boten, dem Director dringend ans Herz gelegt hatte. Ich befand mich zum ersten Male in meinem Leben allein unter wildfremden Menschen, wie in einem Walde mit unbekannten Blumen und Früchten, die ich nicht zu kosten wagte, weil ich fürchtete, sie könnten bitter schmecken. Die Folge davon war, daß ich in den Lehrstunden nicht von meinem Papier aufschaute und mich in den ersten zwei bis drei Tagen in einem Winkel auf der Treppe versteckte, statt mit den Anderen im Hofe zu spielen.

In diesen Stunden unfreiwilligen Nachdenkens trat das freundlich ruhige Leben in Williamhouse, wo ich immer bei meinen guten Eltern und bei meinem lieben Tom gewesen war, vor meine Seele ; ich dachte mit Sehnsucht an den See, an die Brigg, an das Scheibenschießen, an die Reisebeschreibungen, an die Spazierfahrten mit meiner Mutter zu den Kranken und Nothleidenden der Nachbarschaft, es war mir sehr traurig zu Muthe. – Am dritten Tage fing ich an zu weinen.

Während ich in meinem Winkel saß und mein in Thränen gebadetes Gesicht mit beiden Händen verhüllte, fühlte ich einen leisen Schlag aus meiner Schulter. Ich machte, ohne mich aufzurichten, eine ungeduldige Bewegung; aber der Camerad, der mich ausgesucht hatte, ließ nicht nach und sagte ernst, aber theilnehmend:

»Wie kommt es, John, daß der Sohn eines so braven Seemannes wie Sir Edward Davys wie ein Kind weint?«

Ich war ganz beschämt, ich sah ein, daß das Weinen eine Schwäche sei.

»Ich weine nicht mehr,« sagte ich, mich ausrichtend.

Der theilnehmende Camerad war etwa fünfzehn Jahre alt; er gehörte noch nicht zu den »Seniors«, aber auch nicht mehr zu den »Fags«. Er sah ernster und gesetzter aus, als in seinem Alter zu ersparten war, und ich brauchte ihn nur anzusehen, um sogleich Vertrauen zu ihm zu bekommen.

»Gut,« sagte er; »Du mußt nicht kindisch sein. Wenn etwa Einer Streit mit Dir anfängt und Du meines Beistandes bedarfst, so komm nur zu mir. Ich heiße Robert Peel.«

»Ich danke,« erwiederte ich.

Robert Peel reichte mir die Hand und ging in sein Zimmer. Ich mochte ihm nicht folgen; aber da ich mich schämte in meinem Versteck zu bleiben, so ging ich in den Hof. Die Schüler belustigten sich mit verschiedenen Spielen. Ein »Großer« kam auf mich zu.

»Hat Dich noch keiner zum »Fag« genommen?« fragte er mich.

»Ich weiß nicht was Du meinst,« antwortete ich.

»Dann nehme ich Dich,« setzte er hinzu.

»Von dieser Stunde an gehörst Du mir; ich heiße Paul Wingfield. Merke Dir den Namen deines Herrn und komm.«

Ich ging willig mit ihm, denn ich wußte nicht was er meinte, und doch wollte ich mir das Ansehen geben, als ob ich ihn verstünde, um nicht lächerlich zu erscheinen. Ich glaubte, es sei ein Spiel. Paul Wingfield nahm wieder Theil am Ballspiel; ich dachte, daß ich sein Partner sei, und stellte mich neben ihn.

Aus sein Geheiß ging ich zurück. In diesem Augenblicke wurde der Ball geworfen; ich wollte ihn aufnehmen und zurückschleudern, aber Paul rief mir zu:

»Rühre den Ball nicht an, kleiner Knips; ich verbiete es Dir!«

Der Ball war sein, er hatte das Recht mich zurückzuhalten und meine Begriffe von Recht und Unrecht stimmten mit seinem Verbot überein. Aber ich fand, daß er mir sein Besitzrecht höflich hätte ausdrücken können, so entfernte ich mich.

»Wohin?« fragte Paul.

»Ich gehe fort,« antwortete ich.

»Wohin denn?«

»Wohin es mir gefällt.«

»Wie, wohin es dir gefällt?«

»Allerdings, ich spiele ja nicht mit und kann gehen wohin mir’s beliebt. Ich glaubte, daß ich mitspielen sollte; ich sehe, daß ich mich geirrt habe. Adieu!«

»Hole nur den Ball dort,« sagte Paul und zeigte ans das andere Ende des Hofes.

»Hole ihn selbst,« antwortete ich; »ich bin kein Bedienter.«

»Warte nur,« sagte Paul Wingfield, »ich will Dich Gehorsam lehren!«

Ich erwartete ihn festen Fußes. Er hatte wohl geglaubt, daß ich die Flucht nehmen würde, denn er war etwas betroffen über meine entschlossene Haltung. Er zögerte; seine Cameraden fingen an zu lachen; die Röthe der Beschämung stieg ihm in’s Gesicht und er kam auf mich zu.

»Hole mir den Ball!« sagte er noch einmal.

»Und weint ich ihn nicht hole?«—

»So bekommst Du Prügel, bis Du ihn holst.«

»Mein Vater hat mir immer gesagt,« antwortete ich ganz ruhig, »daß nur ein erbärmlicher Wicht einen Schwächern schlägt. Du bist also ein erbärmlicher Wicht, wenn Du mich schlägst.«

Paul kam in Wuth und schlug mich mit der Faust lass Gesicht. Des Schlag war so heftig, daß ich wankte und fast zu Boden stürzte. Ich griff nach meinem Messer, aber ich glaubte die warnende Stimme meiner Mutter zu hören. Ich zog die Hand wieder aus der Tasche, und da ich’s mit meinem Gegner nicht aufnehmen konnte, so rief ich ihm noch einmal zu:

»Du bist ein erbärmlicher Wicht, Paul Wingfield!«

Diese Worte würden mir vielleicht eine noch stärkere Züchtigung zugezogen haben; aber zwei Freunde Pauls, Namens Hurzer und Dorset, hielten ihn zurück. Ich ging fort.

Ich war, wie dieser Austritt zeigt, nicht wie andere Knaben. Ich hatte immer unter Männern gelebt. Die Folge davon war, daß mein Charakter meinen Jahren weit vorausgeeilt war. Paul hatte also, ohne es zu ahnen, einen Jüngling geschlagen, als er nur einen Knaben zu schlagen glaubte. Kaum hatte ich den Schlag bekommen, so erinnerte ich mich an viele von meinem Vater und von Tom erzählte Geschichten, wo der Beleidigte mit den Waffen in der Hand Genugthuung von dem Beleidiger gefordert hatte.

»Ja solchen Fällen,« hatte mein Vater oft gesagt, »sei man es seiner Ehre schuldig ; wer eine Ohrfeige geduldig hinnehme, ohne Genugthuung zu fordern, sei entehrt. Da es nun meinem Vater und mir nie in den Sinn gekommen war, vor mir eine Demarcationslinie zwischen Mann und Knabe zu ziehen, oder mir zu sagen, in welchem Alter dieses Ehrgefühl entstehen müsse, so dachte ich, daß ich entehrt sei, wenn ich von Paul Wingfield keine Genugthuung forderte.

Ich ging also langsam in meinen Schlafsaal. Ich hatte meine kleinen Pistolen vor meiner Abreise in meinen Koffer gepackt, denn ich hoffte Gelegenheit zum Scheibenschießen zu haben. Ich zog meinen Koffer unter dem Bette hervor, steckte Pistolen, Pulver und Kugeln in die Taschen und ging zu Robert Peel.

Als ich in sein Zimmer trat, las er; aber als die Thüre aufging, sah er sich um.

»Mein Gott!« sagte er, »was ist denn geschehen, John? Du blutest ja!«

»Paul Wingfield hat mich ins Gesicht geschlagen, antwortete ich; »Du sagtest mir, ich möge nur zu Dir kommen, wenn Jemand Streit mit mir anfinge – und da bin ich.«

»Sei nur ruhig, John,« erwiederte Robert Peel aufstehend; »er soll’s mit mir zu thun haben.«

»Wie, mit Dir?«

»Allerdings; wünschest Du denn nicht, daß ich Dich räche?«

»Nein, ich will Dich bitten mir beizustehen – ich will mich selbst rächen,« antwortete ich und legte meine kleinen Pistolen auf den Tisch.

Peel sah mich erstaunt an.

»Wie alt bist Du?« fragte er.

»Bald dreizehn,« antwortete ich.

»Wem gehören diese Pistolen?«

»Sie gehören mir.«

»Seit wann hast Du schießen gelernt?«

»Seit zwei Jahren.«

»Wer hat Dich’s gelehrt?«

»Mein Vater.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Für Fälle, wo ich mich meiner Haut wehren muß.«

»Würdest Du die Wetterfahne treffen?« fragte Paul weiter, öffnete das Fenster und zeigte mir einen Drachenkopf, der sich in einer Entfernung von etwa fünfundzwanzig Schritten knarrend drehte.

»Ich glaube wohl,« antwortete ich.

»So zeige was Du kannst,« setzte Paul hinzu.

Ich lud ein Pistol, zielte sorgfältig und schoß mitten durch den Drachenkopf.

»Bravo!« rief Peel; »seine Hand hat nicht gezittert; er hat Muth.«

Er nahm die Pistolen, legte sie in eine Schublade seiner Commode und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Jetzt komm mit mir, John,« sagte er.

Ich hatte ein so großes Vertrauen zu Robert, daß ich ihm ohne Zögern folgte. Er ging in den Hof. Die Schüler waren in einer Gruppe versammelt; sie hatten den Schuß gehört, und sahen sich erstaunt um. – Robert Peel ging auf Paul Wingfield zu.

»Paul,« sagte er, »weißt Du, wo der Pistolenschuß abgefeuert worden ist?«

»Nein,« antwortete Paul.

»Aus meinem Fenster. Und weißt Du, wer geschossen hat?«

»Nein.«

»John Davys. Und sieh, er hat mitten durch die Wetterfahne geschossen.«

Aller Augen richteten sich auf die Wetterfahne, und Jeder konnte sich überzeugen, daß Robert Peel die Wahrheit gesagt hatte.

»Du hast John geschlagen,« setzte Robert hinzu; »er ist zu mir gekommen, weil er Genugthuung von Dir fordern will; und um mir zu beweisen, daß er im Stande ist, Dir eine Kugel durch die Brust zu jagen, that er den Probeschuß.

Paul erblaßte.

»Du bist stärker als John,« fuhr Robert fort; »aber John ist gewandter als Du ; Du hast einen Knaben geschlagen, der das Herz eines Mannes bat; für diesen Irrthum mußt Du büßen. Du mußt Dich entweder mit ihm schlagen, oder ihn um Verzeihung bitten.«

»Ein Kind um Verzeihung bitten!« fuhr Paul auf.

»Höre,« sagte Robert näher tretend. »Ich will Dir einen Ausweg vorschlagen. Wir sind ziemlich von gleichem Alter, ich führe das Rapier mit derselben Geschicklichkeit wie Du. Wir stecken Jeder einen Zirkel auf einen Stock und machen einen Gang hinter der Mauer. Du hast bis diesen Abend Bedenkzeit.«

In diesem Augenblicke wurde geläutet, und wir gingen wieder in die Schulzimmer.

»Um fünf Uhr,« sagte Robert Peel zu mir, als er mich verließ.

Ich arbeitete mit einer Ruhe, welche alle meine Cameraden in Erstaunen setzte. Der Lehrer merkte nichts. Die abendlichen Freistunden kamen; wir gingen wieder in den Hof. Robert kam auf mich zu.

»Hier,« sagte er und gab mir einen Brief. »Paul schreibt Dir, daß es ihm leid thue, Dich geschlagen zu haben. Mehr kannst Du von ihm nicht verlangen.«

Ich nahm den Brief. Der Inhalt war so wie Robert sagte.

»Jetzt, lieber John,« setzte Peel hinzu und nahm meinen Arm, »sehr

will ich Dir etwas sagen.

Ich habe deinen Wunsch erfüllt, weil Paul Wingfield ein schlechter Camerad ist und weil es mir lieb war, daß er von einem jüngeren einen Denkzettel bekam. Aber wir sind noch keine Männer, wir sind Knaben. Unsere Handlungen haben kein Gewicht, unsere Worte keine Geltung; ich habe noch fünf bis sechs, Du hast noch neun bis zehn Jahre Zeit, ehe wir wirklich eine Stellung in der Welt einnehmen werden. Wir dürfen unseren Jahren nicht vorauseilen. Was für einen Bürger oder Soldaten eine Schmach ist, kann einem Schüler gleichgültig sein. In der großen Welt duellirt man sich, aber auf der Schule klopft man sich. Kannst Du boxen?«

»Nein.«

»Nun, ich will Dich’s lehren; und wenn Dich Einer angreift, ehe Du im Stande bist Dich zu wehren, so werde ich ihn tüchtig durchbläuen.«

»Ich danke, Robert. Wann wirst Du mir die erste Lection geben?«

»Morgen um elf Uhr.«

Robert hielt Wort. – Als der Vormittagsunterricht beendet war, ging ich in sein Zimmer. Das Boxen wurde nach den Regeln der Kunst betrieben und regelmäßig fortgesetzt. Ich besaß eine weit größere Kraft und Gewandtheit als andere Knaben meines Alters, und nach einem Monate konnte ich’s mit den größten meiner Mitschüler aufnehmen. Uebrigens hatte mein Raufhandel mit Paul großes Aufsehen gemacht, und keiner trat mir zu nahe.

Dieses Abenteuer zeigt, wie verschieden ich von anderen Knaben meines Alters war. Ich hatte eine ganz ungewöhnliche Erziehung genossen, die mich körperlich und geistig abgehärtet hatte. Mein Vater und Tom hatten bei jeder Gelegenheit eine so große Verachtung der Gefahr gezeigt, daß ich letztere später nie als ein Hinderniß betrachtete. Diese Unerschrockenheit war bei mir nicht Naturanlage, sondern ein Ergebniß des Unterrichtes.

Uebrigens wurden die in dem Briefe meines Vaters an den Doctor Butler ertheilten Weisungen genau befolgt. Man gab mir, wie mehren größern Schülern, einen Fechtmeister und ich machte sehr rasche Fortschritte in der Fechtkunst. Die schwierigsten Turnübungen waren nichts im Vergleiche mit dem Matrosendienst, den ich auf meiner Brigg versehen hatte, und schon am ersten Tage gab ich Beweise von meiner Kraft und Gewandtheit, welche mir die Anderen nicht nachthun konnten.

Die Zeit Verstrich mir also schneller, als ich erwartet hatte. Ich war aufmerksam und fleißig, und außer meinem hartnäckigen, unbeugsamen Charakter hatte man mir nichts vorzuwerfen. Aus den Briefen meiner guten Mutter ersah ich, daß zu Williamhouse die günstigsten Berichte über mich eingelaufen waren. Ich sah indeß den Ferien mit großer Freude entgegen. Je näher die Abreise von Harrow kam, desto lebendiger wurden meine Erinnerungen an das Vaterhaus. Von Tag zu Tag erwartete ich Tom. Eines Morgens sah ich unsern Reisewagen vor dem Hause halten. Tom stieg aus und hob meinen Vater und meine Mutter aus dem Wagen.

Meine Freude war unaussprechlich. Es gibt im Leben drei oder vier solcher Augenblicke, wo der Mensch ganz glücklich ist; und wie kurz diese Augenblicke auch sind, so genügen sie doch, um das Leben lieb und werth zu machen. Meine Eltern begaben sich mit mir zu dem Doctor Butler. Man lobte mich in meiner Gegenwart nicht allzusehr, aber man gab meiner Mutter deutlich zu verstehen, daß man mit mir zufrieden sei. Meine guten Eltern freuten sich herzlich.

Als wir den Doktor Butler verließen, fand ich Robert Peel, der mit Tom sprach. Tom schien entzückt über das was ihm Robert erzählte. Der Letztere hatte bereits Abschied von mir genommen, weil er den Ferienmonat ebenfalls bei seinen Eltern zubringen wollte. Er hatte sich seit meinem Abenteuer mit Paul Wingfield immer als mein Freund bewährt. Sobald sich eine schickliche Gelegenheit darbot, ging Paul mit meinem Vater auf die Seite und sprach leise mit ihm. Mein Vater kam auf mich zu, küßte mich und sagte für sich hin: »Ja, ja, es wird ein ganzer Mann aus ihm.« Meine Mutter wollte wissen, was es gebe; Sir Edward gab ihr durch einen Wink zu verstehen, sie möge sich gedulden, sie solle es schon erfahren. Die Zärtlichkeit, mit der sie mir gute Nacht wünschte, bewies, daß er im Laufe des Tages Wort gehalten hatte.

Meine Eltern erboten sich, eine Woche mit mir in London zuzubringen; aber meine Sehnsucht nach Williamhouse war so groß, daß ich lieber sogleich nach Derbyshire abreisen wollte. Mein Wunsch wurde erfüllt. Am andern Morgen fuhren wir ab.

Das Wiedersehen meiner Heimat nach dieser ersten Abwesenheit machte einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich. Die Hügelkette, welche Chester von Liverpool trennt; die zum Schlosse führende Pappelallee, in welcher mich jeder Baum zu begrüßen schien; der Hofhund, der ans seiner Hütte sprang und fast die Kette zerriß, um mich zu bewillkommnen; Mistreß Denison, die mich in ihrem irischen Kauderwelsch fragte, ob ich sie nicht Vergessen; mein mit freiwilligen Gefangenen angefülltes Vogelhaus; der gute Sanders, der pflichtschuldigst seinen jungen Herrn begrüßte – kurz Alles machte mir Freude, sogar der Doktor und Mr. Robinson, obgleich ich diesen beiden Herren nicht sehr gewogen gewesen war, weil ihre Ankunft fast immer das Signal zum Schlafengehen war.

Ich fand Alles unverändert. Jedes Hausgeräth war an seinem gewohnten Platze. Der Lehnstuhl meines Vaters stand am Camin, der Arbeitstisch meiner Mutter am Fenster, der Spieltisch indem Winkel hinter der Thür.

Alle Bewohner des Schlosses hatten in meiner Abwesenheit ihr ruhiges, zufriedenes Leben fortgesetzt; ich allein hatte einen neuen Weg betreten und fing an mit freudigen, vertrauenvollen Blicken in die Ferne zu schauen.

Mein erster Besuch galt dem See. Ich eilte meinem Vater und Tom voraus, um meine Brigg einen Augenblick früher wiederzusehen. Sie wiegte sich noch immer anmuthig auf derselben Stelle; ihre Wimpel flatterten im Winde; das Boot lag in der Bucht. Ich legte mich in das hohe Gras und weinte vor Freude. Mein Vater und Tom holten mich ein. Wir stiegen in das Boot und begaben uns an Bord.

Das Verdeck war Tags zuvor gescheuert und gebohnt worden: man sah, daß ich in meinem schwimmenden Palast erwartet wurde. Tom feuerte eine Kanone ab. Es war der Signalschuß für die Schiffsmannschaft. Zehn Minuten nachher waren unsere sechs Matrosen am Bord.

Ich hatte von der Theorie nichts vergessen, und meine gymnastischen Uebungen hatten meine Kraft und Gewandtheit vermehrt. Ich führte jedes Manöver so rasch und sicher aus wie der geschickteste Matrose. Mein Vater war überglücklich und sah mich gleichwohl mit Besorgniß im Takelwerk herumklettern. Tom klatschte in die Hände; meine Mutter, die uns nachgekommen war und vorn Ufer zusah, wendete sich oft ab, um meine halsbrechenden Künste nicht zu sehen.

Die Tischglocke rief uns ins Schloß zurück. Es waren viele Gäste geladen, um meine Rückkehr zu feiern.

Der Doktor und Mr. Robinson erwarteten uns vor der Thür. Beide befragten mich über meine Studien und Beide schienen mit meinen Kenntnissen sehr zufrieden.

Nach Tische ging ich mit Tom zum Scheibenschießen. Abends wurde ich, wie vormals, das ausschließliche Eigenthum meiner Mutter.

Ich hatte vom ersten Tage an meine frühere Lebensweise wieder angenommen: ich hatte überall meinen Platz wieder gefunden, und nach drei Tagen erschien mir das verflossene Schuljahr wie ein Traum. O, wie schnell vergehen die schönen frischen Jugendjahre! Und doch erfüllen sie die ganze übrige Lebenszeit mit Erinnerungen! Viele wichtige Dinge habe ich vergessen, aber die geringsten Vorfälle meiner Schuljahre sind tief in mein Gedächtniß eingegraben. – Die fünf Jahre, welche meinem Eintritt in das College folgten, vergingen mir wie ein Tag ; aber wenn ich zurückblicke, schienen sie mir von einer andern Sonne erleuchtet, als meine übrige Lebenszeit. Wie viel Unglück ich nachher auch ertragen habe, ich danke dem Himmel für meine glückliche Jugend.

So kam das Ende des Jahres 1810. Ich war im siebzehnten Jahre.

Meine Eltern holten mich wie gewöhnlich im Spätherbst ab ; aber dieses Mal zeigtest sie mir an, daß ich nicht wieder nach Harrow gehen würde. Ich fand meinen Vater so ernst und meine Mutter so traurig, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich hatte diese Nachricht so oft herbeigewünscht, aber sie machte mir doch das Herz schwer.

Ich nahm Abschied von dem Doktor Butler und von allen meinen Mitschülern, mit denen ich übrigens keine große Freundschaft geschlossen hatte. Mein einziger vertrauter Freund war Robert Peel gewesen, und er hatte schon vor einem Jahre die Universität Oxford bezogen.

In Williamhouse fing ich meine gewohnten Uebungen wieder an; aber jetzt schienen meine Eltern keinen Gefallen mehr daran zu finden, und selbst Tom, obschon daran theilnehmend, schien etwas von seiner heitern Laune verloren zu haben. Ich wußte mir’s nicht zu erklären, ich war ebenfalls niedergeschlagen, ohne zu wissen warum. Eines Morgens endlich, als wir beim Thee saßen, brachte George einen Brief mit einem großen rothen Siegel. Meine Mutter stellte die Tasse, welche sie eben zum Munde führte, auf den Tisch. Mein Vater nahm das Schreiben und betrachtete es eine Weile, ohne es zu erbrechen.

»Da nimm,« sagte er und reichte es mir; »es geht Dich an.«

Ich erbrach das Siegel und fand meine Ernennung zum Midshipman am Bord des Kriegsschiffes »Trident«, Capitän Stanbow auf der Rhede von Plymonth vor Anker liegend.

Der von mir so sehnlich herbeigewünschte Tag war gekommen; aber als sich meine Mutter abwendete, um ihre Thränen zu verbergen , als mein Vater das »Rule Britannia« pfiff, um seine Fassung zu bewahren, als sogar Tom mit unsicherer Stimme zu mir sagte: »Jetzt haben wir’s erreicht, Herr Offizier!« – da fühlte ich mich so tief ergriffen, daß ich den Brief fallen ließ, meiner Mutter zu Füßen fiel und weinend ihre Hand küßte.

Mein Vater nahm die Depesche auf und las sie drei- bis viermal, um diesen ersten Gefühlserguß vorübergehen zu lassen. Er selbst bekämpfte seine zärtlichen Gefühle, um sich nicht schwach zu zeigen. Endlich stand er auf, räusperte sich, schüttelte den Kopf und ging einige Male im Zimmer auf und ab.

»John,« sagte er dann, vor mir stehen bleibend, »sei ein Mann!«

Meine Mutter schlang die Arme um meinen Hals, als hätte sie sich stillschweigend dieser Trennung widersetzen wollen, und ich blieb in meiner knieenden Stellung. Eine kurze Pause folgte; dann ließen mich die zärtlichen Arme los und ich stand auf.

»Wann muß er abreisen?« fragte meine Mutter.

»Er muß den 30. September am Bord sein und es ist heute der achtzehnte. Er kann noch sechs Tage hier bleiben: am vierundzwanzigsten reisen wir ab.«

»Kann ich mitreisen ?« fragte meine Mutter schüchtern.

»Ja, das versteht sich,« sagte ich. »Wir wollen uns so spät wie möglich trennen.«

»Ich danke Dir, lieber John!« sagte meine Mutter zärtlich.

»Ich danke Dir, mein Sohn – durch dieses einzige Wort hast Du mich für Alles belohnt, was ich um deinetwillen gelitten habe.«

An dem festgesetzten Tage reiste ich mit meinen Eltern und Tom ab.

John Davys Abenteuer eines Midshipman

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