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Ein ganz normaler Junge

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von Alex Frost

Wie ich zu sein, ist eine Zeit lang für andere vermutlich komplizierter gewesen, als den Sinn des Lebens zu verstehen. Denn letzterer wird sich schon irgendwann selbst klären, weil er für jeden etwas anderes ist – einige sehen das Gründen einer Familie oder ihre berufliche Karriere als die vollkommene Erfüllung an, andere bereisen lieber die Welt und sind einfach losgelöst von Regeln, um in den Tag hinein leben zu können. Doch was ist nun, wenn man sich selbst zu kennen glaubt, aber am Ende doch ein vollkommen Fremder ist, der die ganze Zeit in seinem Inneren gesessen und ständig versucht hat, sich nach außen zu graben?

Genau so fühlte ich mich damals – gespalten, als würde ich ständig zwischen der realen und meiner ganz eigenen Traumwelt existieren und dabei heimgesucht werden von Geistern, die nie eine Gestalt oder Stimme gehabt haben.

Das bin ich – Dorian, ein ganz normaler Junge, der wohl kaum aus einer Menschenmenge herausstechen würde. Schließlich gibt es tausende wie mich, mit meinen braunen Haaren, blauen Augen, meiner doch durchschnittlichen Größe und auch keinen allzu besonderen Talenten, die mich außergewöhnlich machen würden. Trotzdem bin ich besonders, auf meine ganz eigene Art.

Denn ich bin nicht immer dieser halbwegs glückliche Typ gewesen, der heute Neurobiologie studiert, seit viereinhalb Jahren eine wunderbare Freundin hat und sonst ein komplett normales Leben führt.

Noch vor ein paar Jahren hieß ich Vanessa und war genau das Gegenteil von dem, was ich heute bin. Jeden einzelnen Tag habe ich gehasst, ich existierte in einem Vakuum, in dem es nur mich und meine Leiden gab. Alles schmerzte, als würde mit jedem neuen Schritt vorwärts eine glühend heiße Nadel in meine Haut gerammt werden. Dort blieben diese auch die Jahre über, während sich die Schmerzen häuften und ihre bloße Existenz mich an allem abprallen ließ, was mich hätte heilen können.

Potenzielle Freunde hielt ich von mir fern, indem ich mich weitestgehend von der Menschheit distanzierte. Bis auf meine Mitschüler kannte mich niemand, ich fühlte mich der Welt gegenüber zu wenig, als dass ich andere Menschen davon überzeugen könnte, mich zu mögen. Meine Eltern wussten kaum mehr über mich, als Fremde, denen ich das ein oder andere Mal auf der Straße begegnete. Doch wie sollte meine Familie etwas über mich wissen, wo ich doch für mich selbst ein Buch mit sieben Siegeln war?

Meine Tage verliefen leer und ehrlich gesagt hatte ich schon öfter darüber nachgedacht, einfach zu verschwinden. Allein schon, weil ich mich so fehl am Platz fühlte, wofür ich aber keinen wirklichen Grund sah. Schließlich war ich in der Schule jemand, dessen unregelmäßige Beiträge gern gehört wurden, ich wuchs behütet und umsorgt in einer Familie mit zwei Kindern auf und bis darauf, dass meine Katze Urmel (ich war als Kind ein riesiger Fan vom Film ‚Urmel aus dem Eis‘ gewesen und musste diese Liebe natürlich auch an meinem Haustier ausleben) von einem Auto überfahren wurde, als sie vermutlich gerade auf Spatzenjagd war, ist mir noch nichts passiert, was man als traumatisch bezeichnen könnte. Vielleicht kam das aber auch nur dadurch, dass ich mich nach Urmels Tod geweigert habe, eine neue Familienkatze zu akzeptieren, damit ich nie wieder einen solchen Schmerz fühlen musste, wenn sie verschwand.

Alles begann langsam Sinn zu ergeben, als ich meinen ersten Kuss bekam. Also, Felix aus der 4b, wenn du dieses kleine „Geständnis” jemals lesen solltest: Es war echt nicht deine Schuld. Wir waren schließlich nur zwei Kinder, die es lustig und aufregend fanden, so zu tun, als wären sie schon erwachsen. Ich erinnere mich daran, wie du mich angesehen hast, als du mich da so zusammengekauert in dem vermutlich für Zwerge gedachten, quietschroten Spielhäuschen auf dem Schulhof hast sitzen sehen, als wir damals Verstecken spielten. Anstatt laut zu verkünden, dass du mich gefunden hattest, bist du einfach zu mir in diesen eh schon viel zu beengten Raum gekrochen und hast es vermutlich genossen, dass ich gezwungen war, dir so nahe zu sein. Du hast nur einen winzigen Moment gebraucht, um mich mit dem kleinen, echt kindischen Kuss, den du mir auf die Lippen gedrückt hast, zu überrumpeln, ehe du dich verhalten kichernd wieder verzogen hast.

Es ist ein Kuss von vielen gewesen. Und doch hat es bereits da Klick gemacht, dass ich keine Jungs mag – damals hätte ich mich vermutlich sofort als Lesbe geoutet, hätte ich schon das passende Wort dafür gekannt. Tut mir übrigens echt leid, dass ich dir damals dein Herz gebrochen habe, Felix. Und dass ich deine Liebesbriefe, die du mir nach unserem kleinen Abenteuer immer wieder in den Schulranzen gesteckt hast und wo ich Mühe hatte, deine krakelige Schrift zu entziffern, nie beantwortet habe. Den einen, in dem du mich gefragt hast, ob ich dich heiraten will, wenn wir groß sind, habe ich heute noch irgendwo in meinem alten Hausaufgabenheft zu liegen. Ich fand es einfach zu schade, den Brief meines ersten Verehrers wegzuwerfen.

Weniger kompliziert lief die Sache ab, als ich die Liebe meines Lebens traf, nachdem ich noch dem ein oder anderen Jungen das Herz gebrochen hatte. Gina Larsson. Entgegen ihres Namens hatte sie dunkles Haar und sah eher asiatisch als skandinavisch aus. Deshalb mochte ich sie vermutlich auch vom ersten Moment an. Es war nicht das typische Klischee der Liebe auf den ersten Blick, aber irgendwie wusste ich schon, als Gina am ersten Tag der neunten Klasse zu spät in den Klassenraum gestürmt kam – ohne anzuklopfen natürlich, sie wollte immer mit dem Kopf durch die Wand – und so Herrn Rüders, unseren durchschnittlich langweiligen Klassenlehrer, mitten im Satz unterbrach, dass sie ebenso ein kleines Paradoxon war, wie ich selbst.

Dieses Mädchen war einfach eine Person, die sofort alle Blicke auf sich zog, wenn sie den Raum betrat. Das nicht einmal, weil Gina so überirdisch schön war, nein, das war sie nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick. Doch für mich war sie vom ersten Moment an perfekt, allein weil ich mir einredete, die Fähigkeit zu besitzen, jede Fassade zu durchschauen und den wahren Menschen unter all den Schutzmauern freilegen zu können.

Äußerlich war Gina höchstens durchschnittlich, wenn auch mit einem kleinen Hauch von Außergewöhnlichkeit durch ihre asiatischen Züge. Doch wenn man die Menschen in einem Raum als Sterne im Universum sehen würde, zufällig zusammengewürfelt und sich kaum einander wahrnehmend, wäre dieses Mädchen die Sonne gewesen, die uns alle mit ihrem Licht übertraf und die Welt einfach zu einem besseren Ort machte.

Ich hatte wirklich Glück, dass sich so ein Mädchen auch für mich interessierte, auch wenn das eine Weile gedauert hatte, da wir uns eher langsam annäherten. Schließlich hatte ich noch immer die Sozialkompetenz eines labbrigen Toastbrots.

Gina war es auch, die bei mir einige Konflikte gelöst hat. Nicht nur hat sie das schwarze Loch in meinem Herzen geschlossen und die Dunkelheit vertrieben, die mich fast vollständig verschlungen hätte – sie hat auch aus Versehen den Grund für meine grundlose Depression gefunden.

Ich glaube nämlich bis heute nicht, dass meine Freundin mich damals absichtlich dazu überredet hat, dass wir zu Halloween ein bisschen Cross-Dressing betreiben, weil sie ahnte, was mir fehlte. Schon als ich die viel zu großen Klamotten meines jüngeren Bruders anzog und mich im Spiegel betrachtete, fühlte ich mich seltsam. Leichter irgendwie. Ich gefiel mir selbst, mein Spiegelbild war plötzlich nichts mehr, was ich abgrundtief hasste, obwohl doch bis auf die Kleidung und ein wenig Make-up, das mein Gesicht maskuliner wirken lassen sollte, nichts anders war als sonst.

Lange konnte ich mich nicht von diesem Anblick lösen und kam beinahe noch zu spät zur Party, die im Haus von einer Klassenkameradin stattfand, mit der ich so wenig zu tun gehabt hatte, dass ich mich nicht mal an ihren Namen erinnern kann. War bestimmt eine von den tausenden Annas, Lisas oder Sarahs auf dieser Welt, die beliebt waren, gerade weil sie immer mal wieder eine, oder zwei Partys pro Jahr veranstalteten, wenn ihre Eltern außer Haus waren und somit ihr kleiner Engel sturmfrei hatte.

Auf besagter Halloweenparty gab es vielleicht keine Erwachsenen, doch sonderlich viel Alkohol war dennoch nicht vorhanden. So hatten wir nur den grauenvoll schmeckenden, alkoholfreien Punsch, wenige Flaschen reingeschmuggelten Bieres und übersprudelnde Hormone, um dieser lauen Herbstnacht den typischen Beigeschmack vom Teenagerleben zu verpassen. Vermutlich wäre ich ohne Gina an meiner Seite sofort wieder umgekehrt, ohne auch nur einen Blick in das überfüllte Haus zu werfen, voller Leute, von denen ich noch immer das Gefühl hatte, dass sie mich nicht leiden konnten. Übrigens hatte sich meine Freundin an diesem Tag einen ziemlich gemeinen Scherz mit mir erlaubt – denn nur ich war als Junge erschienen, sie hatte sich nicht einmal ansatzweise verkleidet, wozu doch eigentlich dieser Feiertag gedacht war.

Im Nachhinein denke ich, dass meine Begleitung sich damals einfach für unsere Beziehung geschämt hat. Sie hatte oft davon gesprochen, dass ihre Eltern niemals billigen würden, dass ihre Tochter bisexuell war und eine Beziehung mit einem Mädchen führte. Auch in der Schule ernteten wir ständig schiefe Blicke, als sei es so ungewöhnlich, dass es Homosexuelle gibt. Gesagt hat aber nur selten jemand etwas; unsere Mitschüler schwiegen lieber, da zumindest Gina immer eine der Beliebten war.

Doch an genau diesem Abend hörten diese Blicke auf – schließlich waren wir dort in der Menschenmenge nur ein Junge und ein Mädchen, die umeinander kreisten, lachten und einfach bedingungslos zusammengehörten. Wir küssten uns, wo alle Welt uns sehen konnte, ernteten sogar Jubel und Anfeuerungsrufe von der beschwingten Masse und das, wo wir uns sonst immer verstecken mussten, um Dinge zu tun, die andere Paare öffentlich taten. Mein winziges Selbstvertrauen wuchs an diesem Abend über sich hinaus, allein weil ich endlich nicht Ich sein musste, sondern mich hinter dem Gesicht eines Fremden versteckte, der mir gleichzeitig so vertraut vorkam. Es machte mich glücklich, diese Sachen zu tragen, die eigentlich nur geliehen waren, die mir um den Körper schlackerten und mich in jemanden verwandelten, mit dem ich zufrieden sein konnte, wenn ich mich anstrengte.

Und dann, gerade als Gina zum tausendsten Mal ihre Lippen auf meine presste und mir dabei der Geruch von diesem seltsamen Schweiß-Deo-Gemisch, das von der Menschenmenge um uns herum ausging, um die Nase strich, verstand ich, was mir all die Jahre gefehlt hatte. Ich war kein hoffnungsloser Fall, sondern nur jemand, der sich selbst noch nicht gefunden hatte. Wie konnte ich sonst so glücklich als Junge sein, wo es mir als Mädchen doch immer unmöglich erschienen war? Es war, als würde sich ein Schalter in meinem Kopf umlegen, wie damals, als Felix mich mit seinem Kuss überrumpelt hatte. Ich war transsexuell. Und es störte mich nicht im Geringsten.

Na gut, das ist eigentlich ziemlich gelogen, aber die Tage, die auf die Party folgten, in denen ich mich in meinem Zimmer verschanzte, meine gesamte Existenz hinterfragte und zwischen dem Lachen und Weinen über diesen kosmischen Witz, der sich mein Leben nannte, immer wieder zusammenbrach, überspringe ich jetzt mal.

Aus irgendeinem Grund hatte ich das dringende Bedürfnis, meine neue Erkenntnis sofort in die Welt hinauszuschreien, um diese wissen zu lassen, dass mit mir überhaupt nichts falsch war, sondern Gott sich einfach bei meiner Erschaffung ziemlich im Geschlecht geirrt hatte.

Doch dass das dumm wäre, wenn ich schon als Lesbe als Alien galt, wusste ich selbst. Transsexualität rangiert ja leider in der Liste der „Abscheulichkeiten”, die nur sehr wenige Menschen wirklich tolerieren können, noch sehr weit vor Homosexualität. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass man, wenn man sich als transsexuell outet, seinen Status als menschliches Wesen zu einem Teil verliert, nur weil man sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt. Was ist nur für viele so schlimm daran, ein falsches Ich hinter sich zu lassen, um das echte Selbst nach einer endlosen Reise zu finden?

Gina war die Erste, der ich davon erzählte. Für einen Moment schaute sie drein, als sei sie kurz davor, mich zu verlassen und mir wüste Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, ehe sie mich in die Arme schloss und mir immer wieder versicherte, dass sie immer für mich da wäre und nie aufhören würde, mich zu lieben, egal wer ich war. Den eher peinlichen Fakt, dass ich damals in Tränen ausgebrochen bin, weil erstmals diese Last von meinen Schultern gefallen und ich einfach nur erleichtert war, lasse ich jetzt auch mal weg.

Bei meinen Eltern lief es dann später etwas anders ab. Genauer gesagt setzten sie mich auf die Straße und kündigten mir sozusagen die Verwandtschaft, als ich mich vor ihnen outete. Denn aus irgendwelchen Gründen schien ihnen ihr Ansehen in dieser Kleinstadt wichtiger zu sein als ihr eigenes Kind. Wirklich traurig war ich über ihre Entscheidung jedoch nicht, da ich mir einredete, dass ich so immerhin nicht dauernd mit Gegenwind zu rechnen hätte. Der einzige, der zu mir hielt, war mein Bruder, dem es scheinbar egal war, als was ich mich identifizierte, da ich immer noch ich selbst sei. Doch durch all die ganzen familiären Differenzen brach auch zu ihm bald schon der Kontakt ab.

Überraschend hingegen war, dass Ginas Eltern mich kurz darauf bei sich aufnahmen und sowohl auf mein als auch auf Ginas Geständnis und unsere Beziehung sehr positiv reagierten. Geahnt hätten sie es schon lange, meinten sie, als sie mich zu einem Teil der Familie erklärten. Die beiden waren es auch, die mich bei der Suche nach einem Therapeuten unterstützten, der die Hormontherapie genehmigen konnte und sie drückten meine Hand, kurz bevor ich in den Operationssaal geschoben wurde, um mich auch äußerlich zu dem Menschen zu machen, der schon lange in mir steckte. Diese Eingriffe und mein Studium bezahlten auch meine neuen Eltern. Woher sie das Geld nahmen, weiß ich immer noch nicht und auf jeden meiner Versuche, ihnen für all diese Geschenke etwas zurückzugeben, meinten sie nur, dass ich zur Familie gehören und das im Hause Larsson bedeuten würde, dass man sich für nichts bedanken musste, was die Angehörigen für einen tun. Denn der Zusammenhalt in einer Familie ist selbstverständlich für diese Menschen, denen ich bis heute mehr als nur dankbar bin.

Und hier stehe ich nun als völlig anderer Mensch mit einem neuen Namen und Leben, der aber im Innern noch immer derselbe ist. Das versichert mir Gina zumindest immer wieder. Ich lächle nur sehr viel mehr als früher, sagt sie. Mein altes Ich kenne ich nur noch von Fotos, die wir alle feinsäuberlich in einem Fotoalbum aufbewahren, das wiederum seinen Platz in einer Schublade in Ginas Büro gefunden hat, das sie sich vermutlich öfter mal anschaut und dabei in Erinnerungen schwelgt.

Wenn ich mit dem Studium fertig bin, wollen wir ein Baby adoptieren und eine Familie gründen. Diesem Kind wollen wir dann beide beibringen, dass nichts ist, wie es scheint und man sich nicht für nichts schämen muss, wenn es einen wirklich glücklich macht. Wer weiß, vielleicht wird unser Sohn oder unsere Tochter später mal die Welt verändern und etwas Licht in das Leben von anderen bringen, ebenso wie Gina das damals bei mir getan hat.

Noch heute muss ich über die Ironie schmunzeln, dass ich mich gerade an Halloween, wo man seinen inneren Freak nach außen kehren darf, selbst gefunden habe. Manchmal reichen eben auch kleine Dinge wie eine Vorstadtparty, um ein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. Denn ich glaube wirklich, dass ich ohne diesen Tag nicht einmal halb so glücklich wäre, wie in diesem Moment.

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