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Rose Violet war die dienstälteste Leiterin der Pariser Kommissariate, Lacroix folgte ihr auf dem Fuß. Immer wenn sie sich begegneten, und das war in den letzten Jahren nicht sehr häufig vorgekommen, verstanden sie sich prächtig. Sie frotzelten miteinander, wie altgediente Beamte das eben taten, aber vor allem war da beiderseits großer Respekt.

Darüber dachte Lacroix nach, während er durch die leeren Straßen ging. Er hatte das Chai de l’Abbaye Richtung Norden verlassen und am Pont Neuf die Seine überquert. Auf dem schmalen Gehweg musste er üblicherweise ständig Haken schlagen, um den vielen Passanten auszuweichen, heute waren ihm vielleicht fünf Menschen begegnet, alle dick eingemummelt, doch auch Schals und Mützen verhüllten nicht die Atemwolken, die durch die Luft waberten. Es war so kalt, dass die, die es sich leisten konnten, Taxi fuhren. Die Touristen hatten sich sicher für den warmen Louvre entschieden, überlegte er, oder es sich in einer der überfüllten Brasserien gemütlich gemacht. Die meisten Pendler waren hingegen in den Untergrund ausgewichen. Lacroix fuhr nie mit der Metro, er war nicht dafür gemacht, elend lange Treppen hinabzusteigen und dann grau gewandeten Menschen mit traurigen Gesichtern im kalten Licht der Schächte zu begegnen. Er nahm regelmäßig den Bus, doch die meiste Zeit lief er zu Fuß durch seine Stadt. So hielt er es auch heute, obwohl er sich tatsächlich nicht erinnern konnte, wann ihm zuletzt so kalt gewesen war. Es roch nach Schnee, keine Frage.

Sein Wintermantel und der dicke Hut schützten ihn. Er wandte sich nach Westen in Richtung der großen Boulevards. Schon hier spürte er, dass er sich dem Berg näherte. Die Straßen wurden ein wenig steiler, je weiter er nach Norden kam. Er sah auf die Uhr und entschied sich dann doch für den 85er-Bus Richtung Saint-Ouen. Jeder Platz war besetzt, die Luft war muffig. Er blieb stehen und beobachtete, wie die Stadt sich veränderte. Je weiter sie fuhren, desto bunter wurden die Leuchtreklamen über den Schaufenstern, desto mehr Schwarze standen in den Straßen rund um Barbès. An der Station Rochechouart stieg er aus, in der Ferne konnte er das Moulin Rouge ausmachen. Pigalle, in seiner Jugend ein Sündenpfuhl, war heute eine Mischung aus purer Kulisse und schäbiger Patina.

Lacroix stapfte die steile Straße empor, die ihn zur Station des funiculaire führte, und stieg in die fast leere Bergbahn. Er hätte ohne Probleme die Treppen hinauf zur Kirche nehmen können, doch er liebte die sonderbare Einrichtung dieser grauen Züge, die auf einem Zahnrad den Montmartre emporsausten. Eine Kabine hinauf, eine herab. Es war keine große Anhöhe, die Fahrt dauerte nur anderthalb Minuten. Doch der Blick war atemberaubend: Dort oben stand Sacré-Cœur, die weiße Kirche mit den drei runden Türmen und den feinen Ornamenten. Am Ende der Fahrt drehte er sich um, und da war: Paris. Die Stadt breitete sich vor ihm aus, erst die verwinkelten Dächer des 18. Arrondissements, dann der Abhang hinunter zum neunten. In der Ferne die Türme von Notre-Dame, rechts davon die lange Linie des Louvre – und ganz rechts, wie eine Verheißung, der Eiffelturm. All das konnte er von hier überblicken, eine Stadtrundfahrt in neunzig Sekunden zum Preis eines Metrotickets. Manchmal musste er sich kneifen, dass das Leben ihn ausgerechnet hierhergeführt hatte.

Er löste sich von dem Anblick, wandte sich direkt nach links und ging an der Panoramaterrasse entlang. Für einen Besuch der Kirche fehlte ihm heute die Zeit. Die Straßen wurden voller, hier oben hielten es also doch noch einige Touristen aus, obwohl es so zog. Eine Kutsche bog um die Ecke, Lacroix musste zweimal hinsehen: Die ganze Holzkonstruktion war mit weißem Kunstschnee beklebt, der Kutscher trug ein Weihnachtsmannkostüm samt Rauschebart, und das braune Pferd hatte ein Elchgeweih auf den Ohren. Hinten saßen lachende Chinesen und machten mehr Fotos von ihrem Gefährt als vom heiligen Berg. Der Commissaire schüttelte den Kopf und ging weiter, noch eine Linkskurve, und dann breitete sie sich vor ihm aus: die Place du Tertre, umgeben von stattlichen Bürgerhäusern, in den Erdgeschossen Restaurants, deren farbige Markisen den grauen Winternachmittag erleuchteten. Und dann, unter dicken Heizstrahlern, die Maler und Porträtisten. Es mussten bestimmt einhundert von ihnen sein, auch heute, bei dieser Kälte. Sie saßen dort Staffelei an Staffelei und sahen ungeduldig zu den Zugängen des Platzes, warteten auf Kundschaft. Aber wer wollte allen Ernstes Modell sitzen bei dieser Hundekälte?, fragte sich Lacroix.

Bevor er in die Bäume schauen konnte, den Ort des Verbrechens, sah er sie schon. Sie schritt den Platz ab, als sei er ihr untertan. Sie trug einen schwarzen Mantel, der sie wie Brigitte Bardot aussehen ließ, eine füllige Ausgabe der Bardot vielleicht, doch er stand ihr ganz ausgezeichnet. Rose Violet musste ein wenig älter sein als er, aber er hatte sie nie gefragt – sie war der Typ Pariser Lady, den man nicht mit solchen Dingen behelligte. Sie rauchte ohne Unterlass, zog bei jedem zweiten Schritt an ihrer Zigarette. Lacroix fiel erst jetzt auf, dass er vergessen hatte, seine Pfeife anzuzünden. Er war wirklich in Gedanken gewesen. Er nahm sie aus der Tasche, überlegte es sich dann aber anders und steckte sie wieder ein. Dann standen sie voreinander, und sie zog ihn unumwunden an sich, um ihm Wangenküsse zu geben. Keine Chance auf Gegenwehr. Warum auch?

»Rose«, sagte er, ehrlich erfreut.

»Mein lieber Lacroix, eine Freude«, sagte sie. »Das ist Brigadier Castraux, einer der wenigen fähigen Leute, die sie einem heute von der Akademie schicken.« Sie wies auf einen jungen Mann, den der Commissaire bislang gar nicht wahrgenommen hatte, so konzentriert war er auf Rose gewesen. Der Brigadier war klein und schlaksig, dünn gar, er steckte in der Uniform der jungen Leute: Jeans, Poloshirt, dazu diese scheußlichen Turnschuhe. Sie gingen doch nicht joggen, herrje.

»Sehr erfreut«, sagte Lacroix, und der junge Mann schüttelte ihm ehrfurchtsvoll die Hand.

»Ich frage dich nicht, was das soll, Lacroix«, sagte Rose mit einem Stirnrunzeln, »noch nicht. Denn dass du mich aus dem warmen Büro holst, das werde ich dir nur verzeihen, wenn du mich zum apéro einlädst. Aber wenn wir schon hier sind, dann sehen wir es uns auch an.« Sie wies einmal um sich. »Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.«

»Es ist lange her, dass ich das letzte Mal im Advent hier oben war«, sagte Lacroix. »Wie sah es denn vorher aus?«

Castraux nahm sein Telefon aus der Hosentasche – was denn auch sonst? – und wischte mit dem Finger über den Bildschirm.

»Hier, bitte …«

Lacroix griff nach dem Gerät, als würde er sich daran verbrennen, und besah sich die gestochen scharfen Aufnahmen. Er schnalzte mit der Zunge.

»Wie auf einem Rummel«, sagte er.

»Oh ja, Électricité de France hat keine Kosten und Mühen gescheut, und der Bürgermeister hat das Sponsoring mit Freuden begrüßt«, bestätigte Violet.

Die Sophoras, die japanischen Bäume mit ihren lichten Zweigen, die den Platz säumten, waren über und über mit goldenen Lichtern geschmückt, die in Form von Weihnachtssternen, Sternschnuppen und Rentieren erstrahlten. Über den Lampen wehten kleine Banderolen mit dem Logo des Energiekonzerns. Nicht mal an Weihnachten gab es etwas geschenkt. Er ließ das Telefon sinken und betrachtete die graue Realität. Die Bäume waren noch da. Die Beleuchtung aber fehlte.

»Es ist …«

»… ja, es ist sehr merkwürdig«, sagte Commissaire Violet. »Wer klaut denn Glitzerzeugs? Das habe ich meine Jungs gefragt. Sie hatten auch keine Antwort. Vor allem so viel auf einmal. Das kann sich ja auch niemand zu Hause hinhängen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Wie ist es denn passiert?«

»Nun, es war ein ganz normaler Abend, vorgestern, meine ich. Die Beleuchtung war eingeschaltet, sagten die Maler, die mein Kollege vernommen hat. Doch es hat geregnet, scheußlicher Nieselregen. Deshalb hatten die Restaurants früher geschlossen als sonst. Ideale Bedingungen für einen Dieb. Obwohl, es ist die Place du Tertre, hier ist immer ein knutschendes Pärchen unterwegs. Ach, diese verliebten Paare. Siehst du denen auch immer so sehnsüchtig nach, Lacroix? Wo sind nur die Jahre geblieben.« Sie sah wehmütig in die Ferne, besann sich dann aber. »Der Straßenkehrer war am nächsten Morgen der Erste hier, zumindest der Erste, dem aufgefallen ist, dass etwas nicht stimmt. Er sagte aber, dass er erst nach zwanzig Minuten in die Bäume gesehen hat. Alles war weg, alles, selbst der letzte Weihnachtsstern. Alle Kabel. Der Aufbau hat zwei Tage gedauert, sagt der maire. Das muss eine Heidenarbeit gewesen sein, das alles in nur einer Nacht abzubauen. Wer macht so etwas?«

»Hat der Bürgermeister Anzeige erstattet?«

»Brauchte er nicht. Öffentliches Interesse. Aber er hat gleich mal Le Parisien eingeladen. Offenbar war er fuchsteufelswild und erwartet, dass wir uns ordentlich anstrengen, um den Diebstahl aufzuklären. Aber, Herrgott, es sind Lichterketten.«

Lacroix betrachtete die Bäume, sie waren leer und karg. »Hier hing alles voll?«

Rose nickte. »Es ist nichts übrig geblieben, nicht mal die Kabeltrommeln oder etwas von der Stromversorgung.«

»Die Diebe haben ganze Arbeit geleistet. Gibt es eine Videoüberwachung?«

»Nicht auf der Place du Tertre. Die Anwohner haben sie abgelehnt. Datenschutz.« Rose lachte bitter.

»Ich würde gern mit den Malern sprechen«, sagte Lacroix.

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

»Kannst du mich begleiten? Dich kennt man hier.«

»Du bist Lacroix. Ganz Paris kennt dich!«

»Rose …«

»Es ist so kalt.« Sie rang mit sich, warf dann aber die aufgerauchte Zigarette weg. »Na gut. Aber dafür gibst du mir gleich einen Wein aus.«

»Einverstanden.«

Lacroix und die stille Nacht von Montmartre

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