Читать книгу Lacroix und die stille Nacht von Montmartre - Alex Lépic - Страница 5

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Er hatte wieder den funiculaire genommen, doch der Schneefall war mittlerweile so dicht, dass er auf der Fahrt runter zur Rue Tardieu nichts sehen konnte. Unten angekommen, zog Lacroix den Hut tief ins Gesicht und nahm den Boulevard de Rochechouart, bevor er nach links in die Rue des Martyrs abbog. Es hätte keinen Sinn ergeben, in einen Bus zu steigen. Der Verkehr war nicht nur auf den großen Boulevards, sondern auch auf den Nebenstraßen schlicht zum Erliegen gekommen.

Die Pariser besaßen keine Winterreifen. Er sah während seines zwanzigminütigen Fußweges drei Auffahrunfälle und einen Gefriertransporter, der sich auf der Rue Laffitte quer gestellt hatte. Aus einem Taxi waren nicht nur die Fahrgäste, sondern auch der Fahrer schulterzuckend ausgestiegen, um in einem nahen Café zu verschwinden. Der Wagen blieb einfach führerlos auf der einspurigen Straße im Stau stehen.

Lacroix hatte es bisher vielleicht zehnmal in seinem Leben erlebt: Schnee in Paris. Die Stadt versank dann im Chaos – aber sie war auch wunderschön.

Am Opernhaus warf er einen Blick nach Norden: Da war die Opéra Garnier mit ihren Lichtern, Säulen und Rundbögen, vor ihren breiten Fenstern tanzten die Flocken, während der Vorplatz schon weiß gepudert war. Die Touristen blieben stehen und machten Fotos, Lacroix aber ging weiter, er hatte ein Ziel. Sie hatten sich schon am Morgen verabredet. Der Commissaire war davon ausgegangen, einen ruhigen Tag zu haben, während seine Frau an einer Bürgermeistertagung im Hotel Bristol teilnehmen musste, die aber um fünf zu Ende sein sollte. Die Uhr an der Straßenecke zeigte kurz vor fünf, er würde pünktlich sein. Auch die Straßen um Madeleine waren ein einziges Gedränge und Gehupe, niemand, der auf das Auto angewiesen war, würde heute pünktlich zu Hause sein. Freudig schritt er aus, nicht mehr lange, nur noch dort vorn an der großen Markthalle vorbei in die Rue du Marché Saint-Honoré, ein kleines Stück die schmale und dicht verschneite Straße herunter bis zur ersten Ecke. Dort, hinter den Weinfässern, auf denen Aschenbecher standen, um die sich die Banker von BNP Paribas in ihren feinen Anzügen versammelt hatten, war der Ort, an dem sie sich trafen, wenn sie mal jenseits der vertrauten Pfade einen apéro nehmen wollten: Le Rubis, die kleine Weinbar, die es schon seit hundert Jahren gab. Genauso alt waren auch der Tresen, die rot bespannten Holzstühle, die Karten an der Wand mit ihrer geschwungenen Schrift und die Gerichte, die aus einer anderen Zeit zu stammen schienen: andouillettes und rillettes. Er trat ein, sofort schlugen ihm Wärme und intensive Gerüche entgegen. Er fühlte sich, als würde er mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen. Ein Wunder, dass hier drinnen nicht mehr geraucht wurde. An der Decke über der Bar hingen luftgetrocknete Würste, die Wände waren mit Weinetiketten tapeziert, und es gab sogar noch eine Tür, auf der Telephone stand – nur das Telefon war nicht mehr da, sehr zu Lacroix’ Leidwesen. Er hatte sich in seinem Quartier ein System geschaffen, um auch ohne Handy immer erreichbar zu sein. So riefen seine Mitarbeiter oder seine Frau im Chai an oder in einer der anderen Bars, die Lacroix regelmäßig frequentierte. Irgendwo fand man ihn immer. Anders ging es gar nicht mehr, seitdem die Stadt fast alle öffentlichen Telefone abgebaut hatte.

»Zut«, schimpfte er sich, er hatte wieder die Pfeife nicht ausgepackt, es war einfach zu nass und kalt gewesen. Er wollte wieder hinaus in den Schnee, genüsslich den Abend einläuten, doch sie war schon da, stand an der Bar, eben stellte der Wirt zwei Gläser Rotwein vor ihr ab. Lacroix besann sich und steuerte auf sie zu.

»Chérie«, begrüßte er sie und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange.

Sie strahlte ihn an und schob ihm sein Glas hin. »Ich habe uns einen Gigondas bestellt, die haben hier einen besonders feinen. Los, ich habe einen Bärenhunger. Was wollen wir essen? Ein confit de canard

»Ich hatte zum déjeuner Ente. Wollen wir lieber etwas Kaltes essen?«

Sie sahen sich an und lächelten, sie hatten dieselbe Idee. Er betrachtete sie und war sofort ganz ruhig und gleichzeitig voller Freude: Sie waren schon so lange verheiratet und trotzdem noch sehr glücklich miteinander. Er fand sie hinreißend – und er nahm sich vor, es ihr auch mal wieder zu sagen. In der letzten Zeit hatten sie sich wirklich zu wenig gesehen. Dominique Lacroix war die Bürgermeisterin des siebten Arrondissements auf der Südseite der Seine, ein gut situiertes Wohnviertel, in dem die Lacroix auch wohnten. Gerade vor Weihnachten hatte sie – anders als er in diesem Jahr – alle Hände voll zu tun. Deshalb kam dieses gemeinsame dîner gerade recht.

»Eine Platte mit charcuterie und die filets de hareng, s’il vous plaît«, bestellte Lacroix beim Wirt, der erwartungsvoll hinter dem Tresen stand.

»Sofort«, sagte der und verschwand.

»Ist es nicht kalt? Und dieser Schnee, ich finde das ja toll.«

»Wie war dein Tag, chérie? Die Sitzung?«

»Eine langweilige Nummer, der ich aber dank des Wetters entkommen bin.«

»Wie denn das?«

»Ich bin heute Morgen, als ich die Zeitungen gelesen habe, gleich ins Rathaus gefahren und habe mich sofort ans Telefon geklemmt, damit wir den Obdachlosen helfen. Es fahren schon Kältebusse durch die Straßen, die Suppe, Tee und warme Kleidung verteilen. Ganz besonders gefährdeten Clochards wird ein Bett für die Nacht angeboten. Ich habe auch mit der RATP gesprochen, damit die Metrobahnhöfe nachts wieder geöffnet bleiben.«

Lacroix kam nicht umhin, einmal mehr Bewunderung für seine Frau zu empfinden. Sie achtete auf all die Dinge, die den Bürgern manchmal entgingen. Auch in dem von ihr regierten Pariser Bezirk, dem siebten Arrondissement, das nach dem 16. sicher das reichste Quartier war, mit alten Bürgerhäusern, vielen Ministerien und Botschaften, gab es sehr arme und wohnungslose Menschen, die längst nicht mehr in einer Pariser Clochard-Romantik auf den Straßen hausten, weil sie das Leben unter freiem Himmel so schätzten, sondern die einfach so mittellos waren, dass ihnen nichts anderes übrig blieb.

»Und dann habe ich die Flussseite gewechselt, war eine Viertelstunde vor dir hier und konnte schon die Stimmung genießen. Draußen der Schnee, drinnen der Wein.«

Er nahm kurz ihre Hand und drückte sie.

»Wie war es bei dir? Du siehst reichlich verfroren aus, kommst du nicht aus dem Büro?«

»Nein, ich war auf dem Montmartre.«

Interessiert sah sie ihn an. Sie wusste, dass Lacroix die Quartiere rive gauche rund um den Boulevard Saint-Germain nur ungern verließ.

»Sicher hast du es heute Morgen auch gelesen. Die Lichterketten wurden gestohlen.«

»Was? Lichterketten?«

»Na ja, vielleicht keine gewöhnlichen Lichterketten. Jemand hat die komplette Weihnachtsbeleuchtung auf der Place du Tertre abgebaut.«

»Du machst jetzt in Sachschäden?«, neckte sie ihn mit einem Augenzwinkern, doch Lacroix sah sie ernst an.

»Irgendetwas daran gefällt mir nicht.«

Mit wenigen Worten umriss er, was er zusammen mit Rose Violet auf dem Platz erlebt hatte. Bei der Erwähnung der Commissaire veränderte sich etwas in Dominiques Blick, ohne dass Lacroix es konkret hätte benennen können.

Er beendete gerade seinen letzten Satz, als der Wirt dem Küchenfahrstuhl ein Brett und einen Teller entnahm und beides vor ihnen auf den Tresen stellte. Vorher hatte er schon ihre Gläser aufgefüllt.

»Das sieht toll aus – was für eine schöne Idee«, sagte Dominique, reichte ihrem Mann eine Gabel und schob ihm den Teller ein Stück näher, den Lacroix schon sehnsüchtig angeschaut hatte. Die filets de hareng waren eine Spezialität des Hauses: lauwarme gekochte Kartoffeln, dazu grüner Salat, eingelegte Karotten und Zwiebeln und obenauf drei Heringsfilets, deren Haut hell schimmerte, von der Frische und vom herben Olivenöl. Lacroix liebte dieses einfache Gericht aus dem Norden. Währenddessen nahm seine Frau von dem krossen Brot und bestrich es mit der Schweinepaté. Auf dem Brett lagen außerdem noch dünn aufgeschnittener Knochenschinken und luftgetrocknete Salami aus den Savoyen.

Für einige Minuten aßen sie schweigend, genossen die würzigen Speisen und lauschten den lauten Gesprächen um sie herum und dem Klirren der Gläser.

Draußen fielen weiter die Flocken. Zwar waren es weniger geworden, doch auf den Straßen lag bereits eine geschlossene Schneedecke.

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Dominique, als sie den ersten Hunger gestillt hatten. »Du hast recht, es ist eine merkwürdige Geschichte. Vandalismus schön und gut – aber dafür ist das alles zu glattgegangen mit dem Diebstahl. Ich hoffe natürlich, du irrst dich. Aber wann hast du dich das letzte Mal …« Sie hielt inne, ihr Gesicht hellte sich auf. »Ich habe morgen Nachmittag meinen Kollegen aus dem 18. zu Gast im Rathaus! Wir haben eine kurze Sitzung zum Thema Klimaschutz. Du weißt, es ist Maire Dufour von den Sozialisten. Vielleicht hat er ja schon Neuigkeiten zu dem Fall.«

»Ich habe gehört, er hat überhaupt erst die Presse darauf angesetzt. Er soll außer sich gewesen sein!«

»Ich werde einfach mal nachfragen, was es Neues gibt. Er wird ohnehin darauf kommen, dass ich wegen dir frage. Er ist sehr intelligent, beinahe …«

»Beinahe was, chérie

»Beinahe gerissen, wollte ich sagen. Er ist erst seit einem knappen Jahr auf dem Posten, ich kenne ihn also längst nicht so gut wie die meisten anderen Kollegen. Aber er erscheint mir sehr karrieristisch, als habe er ein deutlich größeres Ziel vor Augen. Er war ein hoher Offizier, weißt du? Bevor er in die Politik ging.«

»Du traust ihm nicht …«

»Woher weißt du das? Er ist ein junger Politiker … ach herrje, immer musst du Commissaire sein.«

Sie mussten lachen, und Lacroix griff wieder zu seiner Gabel.

»Egal, vielleicht ist es ja auch wirklich nur eine einmalige Sache, dann brauche ich mich nicht zu kümmern, und wir können das alles vergessen.«

»Vielleicht«, sagte Dominique versonnen, als wäre sie in Gedanken, »ja, vielleicht …«

Lacroix und die stille Nacht von Montmartre

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