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Kapitel 3 ICH WAR NOCH NIEMALS IN BERLIN
ОглавлениеDer Sommer 2005 fiel in Frankfurt ins Wasser. Jedenfalls für ein paar Minuten. Die allerdings gingen um die Welt, denn als es während des Endspiels im Confed Cup zwischen Brasilien und Argentinien heftig zu regnen begann, machte das Dach unseres neuen Stadions nicht mehr mit – eine ungeahnte Wasserflut ergoss sich aus einem Riss auf den Rasen. Der Begeisterung für unsere neue Spielstätte konnte das allerdings keinen Abbruch tun. 188 Millionen Euro hatte das Schmuckstück gekostet, 50 000 Zuschauer passten jetzt rein, 2000 Business-Plätze und 74 Logen sorgten für zusätzliche Einnahmen. Frisches Geld, das vor der neuen Spielzeit für Aufbruchstimmung sorgte. „Die Yankees vom Main“ titelte die Frankfurter Rundschau wenige Wochen vor dem Saisonstart und behauptete: „Kein Aufstieg war für Frankfurt so wichtig wie der jüngste.“ Womit die FR vermutlich sehr richtig lag. Denn nicht nur, dass wir dadurch finanziell wieder auf relativ sicheren Beinen standen, das sportliche Führungsduo Bruchhagen/Funkel brachte nach Jahren der Unbeständigkeit wieder Ruhe in den Verein, sodass wir Spieler uns voll und ganz auf das Projekt Klassenerhalt konzentrieren konnten.
Lange Zeit allerdings ein Projekt, an dem ich nicht beteiligt war. Jedenfalls nicht direkt. Meine ersten Minuten in der Ersten Bundesliga sollte ich erst am 26. Spieltag gegen Duisburg absolvieren. Die Monate vor meinem Debüt gehörte ich zwar offiziell zur Mannschaft, Spielpraxis durfte ich jedoch nur in der zweiten Mannschaft sammeln. Vielleicht denkt ja der ein oder andere, dass ich in all der Zeit ungeduldig mit meinen Hufen scharrte und nach jedem bundesligafreien Wochenende frustriert ins Bett ging. Aber so war es nicht. Ich glaube, einer meiner Hauptcharakterzüge war schon immer eine gesunde Selbsteinschätzung. Und die sagte mir im Sommer 2005, dass ich noch weit davon entfernt war, Ansprüche auf einen Stammplatz in der Bundesliga stellen zu können. Erstens war ich in Sachen erster Liga gänzlich unerfahren. Zweitens war ich körperlich noch gar nicht in der Lage, gegen die Topstürmer aus München, Dortmund oder Bremen zu bestehen. Und drittens fehlte es mir auch noch an taktischer Finesse. Gerade als Innenverteidiger braucht es ein sicheres Fundament, um in der Bundesliga mitzuhalten. In den Trainingsduellen gegen Arie van Lent hatte ich erlebt, was ein routinierter Mann wie er mit einem Rookie wie mir veranstaltete. Ich stellte mich klaglos hinten an und versuchte, mir den nötigen Schliff in der Oberliga zu holen.
Ein Lehrling ist nichts ohne anständige Meister. Meine waren Friedhelm Funkel, der mir immer das Gefühl vermittelte, Teil der Mannschaft zu sein, und meine Kollegen in der Defensive. An Erfahrung mangelte es den Herren nicht. Da war der Brasilianer Chris, der mit seinen 26 Jahren wahnsinnig abgezockt
agierte und auch körperlich eine ganz andere Härte und Robustheit besaß. Und außerdem die drei Neuzugänge Marko Rehmer, Benjamin Huggel und Christoph Spycher. Marko hatte 35 Länderspiele auf dem Buckel, war 2002 Vizeweltmeister geworden und hatte in der Bundesliga schon alles gesehen. Von wem, wenn nicht von einem Mann seines Kalibers konnte ich lernen, wie man auf Topniveau verteidigt? Die Schweizer Huggel und Spycher waren ebenfalls langjährige Nationalspieler und neben ihren sportlichen Fähigkeiten auch auf menschlicher Ebene ein absoluter Gewinn für unsere Mannschaft. Es dauerte nicht lange, da war vor allem Spycher zu einem absoluten Führungsspieler aufgestiegen.
Mit solchen Fußballern trainierte ich nun fast jeden Tag und sog begierig auf, was sie mir zeigten. Wie stellte sich Chris in den Zweikampf, wenn ein Gegenspieler von rechts nach innen zog? Welchen Schritt machte Huggel wann, um seinem Gegenüber den Laufweg zu verkürzen? Wie positionierte Spycher seinen Körper, damit sich sein Kontrahent nicht wegdrehen konnte?
Sie brachten mir das kleine Einmaleins der Verteidiger bei, Rüstzeug für den wöchentlichen Zweikampf mit den Topstürmern der Bundesliga. Ich war bereit, alles zu geben, um meine Chance zu bekommen. Es klingt so abgedroschen, aber für Reservisten gibt es nur einen Weg, um dieses Ziel zu erreichen: sich jeden Tag voll reinhängen. Genau das tat ich – irgendwann würde ich zum Zuge kommen. Warum sonst hatte Friedhelm Funkel trotz der Aktion im Winter an mir festgehalten, wenn nicht aus dem Grund, dass er von meinen Fähigkeiten überzeugt war? Um ihm zu beweisen, dass sein Vertrauen gerechtfertigt war, schmiss ich mich im Training in jeden Zweikampf, drehte ohne zu murren jede Extrarunde und stand am Wochenende ohne zu klagen in der Oberliga auf dem Platz.
Was mich außerdem antrieb, war die innere Überzeugung, dass ich gut genug war, um mich auf diesem Topniveau durchzusetzen. Ich glaubte an mich, trotz der Zweifel nicht weniger sogenannter Experten. Aber ich kannte mich ja gut aus damit, eher unterschätzt zu werden. In der Jugend war ich lange von den Auswahltrainern ignoriert worden und hatte mich am Ende doch durchgesetzt. Nun war ich wieder auf der Hinterbank gelandet und arbeitete daran, bald auf der Bühne Bundesliga zu stehen. Diesem Ziel ordnete ich vieles, aber nicht alles unter. Wenn ich Lust hatte, nach Feierabend ein Bier mit meinen Freunden zu trinken, dann tat ich das. Und wenn ich am Abend nach dem Spiel zu einer Party eingeladen wurde, dann ging ich hin, wenn mir danach war. Was mich allerdings von meinem Umfeld unterschied: So richtig steil ging ich dann doch nicht. Wenn die anderen die Nacht zum Tag machten, lag ich schon im Bett. Und war damit auch total einverstanden.
Das Geheimnis des Erfolges in dieser Saison war der beeindruckende Zusammenhalt, der vom ersten Spieltag an spürbar war. Selbst Funkel, der ja nun auch schon viel gesehen hatte, schwärmte gegenüber den Medien: „Ein solch einmaliges Teamspirit habe ich meiner Karriere noch nicht erlebt.“ Für so einen Spirit brauchst du besondere Charaktere, die den Laden von
innen zusammenhalten, und diese Charaktere hatten wir. Regelmäßig trafen wir uns auch außerhalb des Trainingsplatzes, meistens bei unserem Stammitaliener, wo wir Champions League guckten. Nach gewonnenen Spielen kam es nicht selten vor, dass sich ein Teil der Mannschaft ins Nachtleben stürzte, und natürlich war ich als junger Spieler gerne dabei. Eine Freiheit, die heutige Spieler heute nicht mehr genießen können. In dieser Hinsicht würde ich nicht mit ihnen tauschen wollen.
Wir hatten ein Ritual, um die Neuzugänge zu begrüßen. Alle Rookies mussten zusammenlegen und die ganze Truppe einmal zum Essen einladen. Das schmerzte zwar den Geldbeutel, war für den Teamgeist aber von besonderer Bedeutung. Die gute Stimmung im Team tröstete mich darüber hinweg, dass ich auf mein Debüt im Oberhaus warten musste.
Einsatzminuten sammelte ich in der Winterpause. Seit der Jugend liebte ich Hallenfußball. Ob selbst auf dem Platz oder als Zuschauer. Die Hallenmasters in den 90er-Jahren fand ich überragend, großes Kino, wenn sich Mario Basler als Torwart den Ball schnappte und die Bälle von der Mittellinie in den Kasten knüppelte oder Jay-Jay Okocha für die Eintracht zauberte. Regelmäßig war auch Hanau Gastgeber hochkarätig besetzter Turniere. Wenn die Eintracht zum Indoor-Derby auf Offenbach traf, erreichte die Stimmung in der vollgepackten August-Schärttner-Halle ihren Siedepunkt. Als ich später selbst mit dem Adler auf der Brust gegen die Kickers antreten durfte, hinter mir die eine, vor mir die andere Fanszene, war das einfach eine geile Erfahrung. Als Spieler hattest du das Gefühl, dass die Fans gleich die Halle zum Einsturz bringen, so heißblütig ging es her. Und für mich als Reservisten bot die Hallensaison eine gute Gelegenheit, mich meinem Trainer im Wettkampfmodus zu präsentieren.
Die Hinrunde der Saison 2005/06 beendeten wir auf einem sehr respektablen neunten Platz. Prompt träumten unsere Fans vom UEFA-Cup, doch leider vergeigten wir den Rückrundenstart und holten in acht Spielen nur fünf Punkte. Umso erleichterter waren wir, dass wir am 26. Spieltag im Kellerduell gegen Duisburg bereits nach 13 Minuten mit 3:0 führten. Eine knappe Viertelstunde vor dem Abpfiff verletzte sich Chris und musste ausgewechselt werden. Beim Stand von 4:2 für uns entschied Funkel, dass es nun an der Zeit sei, mich ins nun nicht mehr ganz so kalte Wasser zu schmeißen. Es war der perfekte Zeitpunkt für mich. Das Spiel war durch, die Chance, jetzt noch etwas falsch zu machen, eher gering. Mega aufgeregt stand ich an der Seitenlinie, ehe mich Schiedsrichter Markus Merk auf den Rasen ließ. Aufgedreht wie ich war, sprintete ich zweimal den Platz rauf und runter – und war schon nach wenigen Minuten total erledigt. Auch das musste ich erst noch lernen: mir die Kraft auf diesem Niveau richtig einzuteilen. Aber alles ging gut und Francisco Copado – mein Angstgegner aus der Zweiten Liga, der inzwischen für uns spielte – erhöhte sogar noch auf 5:2. Erschöpft, aber glücklich genoss ich den ersten Bundesliga-Abpfiff meines Lebens.
Die Verletzung von Chris stellte sich als schwerwiegender heraus als zunächst gedacht. Funkel entschied sich, die Lücke in der Hintermannschaft mit mir zu füllen. Ich fasste das als verdienten Lohn meiner guten Leistungen in der Oberliga auf. Schon im nächsten Spiel sollte ich es mit einem Hauptdarsteller im deutschen Spitzenfußball zu tun bekommen. Lukas Podolski kannte ich bereits aus der Jugend, da hatte er oft alle überragt und mit seinem genialen linken Fuß die krassesten Dinge veranstaltet. Auch in der Halle war er eine Waffe. Kaum über der Mittellinie, zog er auch schon ab. Was bei seinem Huf mehr als verständlich war. Ich wusste also ungefähr, was da im Spiel gegen Köln auf mich zukommen würde.
Ich nahm mir vor, so einfach und schnörkellos wie möglich zu spielen. Keine Überdinge, keine gewagten Sturmläufe, keine riskanten Steilpässe. Erst mal gut ins Spiel kommen, ein paar gelungene Aktionen für die Sicherheit und schauen, was passiert. Aber schon nach zwei Minuten stand es 0:1. Mit so einem frühen Rückstand musste ich jetzt irgendwie klarkommen. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. 48 000 Zuschauer sorgten für eine Gänsehautatmosphäre, die ich in dieser Form nur in wenigen Stadien erlebt habe. Allein die Hymne vor dem Spiel der Rheinländer fand ich spektakulär. Im Spiel konzentrierte ich mich natürlich lieber auf Podolski & Co., und das gelang mir überraschenderweise recht gut. Am Ende holten wir einen Punkt gegen den Tabellenletzten, ich war mit meiner Leistung zufrieden und fühlte mich angekommen in der Bundesliga. Und sofort spürte ich jenen speziellen Erwartungsdruck, der mich von da an zeit meiner Karriere begleiten sollte. Denn wer einmal in der Startelf steht, der will seine Position auch unbedingt verteidigen, und dazu muss man Leistung bringen, jede Woche neu. Ich empfand diesen Druck nicht unbedingt als Belastung, er gehörte zum Job dazu und war Teil meines selbstgewählten Lebens. Aber er war eben ständig vorhanden.
Was dazukam, war das Gefühl, jede Woche gegen den Abstieg zu spielen. Denn nach dem 5:2 gegen Duisburg gewannen wir nur noch ein einziges Ligaspiel: 2:0 gegen den VfB Stuttgart. Dass Duisburg, Köln und Kaiserslautern noch weniger Punkte als wir holten, war pures Glück. Am Ende reichte es für den 15. Tabellenplatz. Die letzten Wochen der Spielzeit erlebte ich wie im Traum. Stars wie Roy Makaay, Jan Koller, Johan Micoud oder Miroslav Klose steuerte ich zu Hause auf der Playstation, jetzt musste ich gegen sie unser Tor verteidigen.
Mein persönliches Highlight und erster Höhepunkt meiner Karriere war im DFB-Pokal. Von der ersten Runde bis ins Viertelfinale hatte ich die Spiele von der Bank aus angeschaut, doch im Halbfinale gegen Bielefeld stand ich von Beginn an auf dem Platz. Vor dem Spiel gab es einen denkwürdigen Auftritt unseres Trainers. Der hatte 1985 als Spieler in Berlin triumphiert und wollte uns an diesem Triumphgefühl teilhaben lassen, damit einen zusätzlichen Motivationsschub verpassen. Schließlich würde man im Endspiel aller Voraussicht nach auf den FC Bayern treffen. Die Finalteilnahme hätte uns für den UEFA-Cup qualifiziert. Während der letzten Mannschaftssitzung packte Funkel also eine Replika des DFB-Pokals aus und ließ den Pokal durch die Reihen gehen. „Hier ist er“, sagte er, „den können wir holen, wenn wir heute gewinnen.“ Ehrlich gesagt verstand ich diese Aktion zunächst gar nicht, schließlich waren wir noch ein Spiel vom Finale entfernt. Aber als ich das 5,7 Kilogramm schwere Teil in der Hand hatte und die eingravierten Namen las, entfaltete der Pokal auch bei mir die gewünschte Wirkung. Ich dachte an 1988, das Jahr, in dem die Eintracht zuletzt den DFB-Pokal gewonnen hatte. Drei Jahre war ich damals alt gewesen. Seit 18 Jahren wartete Frankfurt auf den nächsten Titel. Und wir waren nur noch zwei Siege davon entfernt. Bielefeld konnte kommen. Es wurde ein enges Match, doch letztlich reichte ein frühes Tor von Amanatidis, damit wir nach Berlin fahren konnten. Und am 29. April 2006 war es dann so weit. Wir, die wir zu diesem Zeitpunkt gegen den Abstieg kämpften, gegen den großen FC Bayern, der sich gerade anschickte, mal wieder Deutscher Meister zu werden. Damals waren wir von den Bayern noch weiter entfernt als heute und wirklich krasser Außenseiter. Bayern verfügte über eine unglaubliche Truppe mit Granaten wie Mehmet Scholl, Zé Roberto, Bastian Schweinsteiger und Bixente Lizarazu – auf der Bank! Bayern hatte Kahn, hatte Lucio, hatte Ballack, hatte Makaay, wir hatten Nikolov, Russ, Lexa und Amanatidis. Als Ausgleich schrien 90 Prozent des Olympiastadions für uns. Die Performance der Fans beflügelte uns, von einem Qualitätsunterschied konnte während des Spieles keine Rede sein. Bitter, dass Patrick Ochs und ich in der 59. Minute am Ball vorbeiflogen und stattdessen Claudio Pizarro das 1:0 erzielen konnte. Doch nur fünf Minuten später sprintete Benny Köhler allein auf Oliver Kahn zu und wurde von Willy Sagnol im Strafraum gefoult. Ich sah die Szene aus der eigenen Hälfte und dachte sofort: „Rot für Sagnol und Elfmeter für uns.“ Doch Schiedsrichter Herbert Fandel sah das offenbar anders und ließ einfach weiterspielen. Kurz vor dem Abpfiff hatte Amanatidis den Ausgleich auf dem Fuß, doch Olli Kahn packte einen dieser irren Reflexe aus, die ihn zum besten Torhüter der Welt machten, und verhinderte den Treffer. Wir hatten die große Chance, dem FC Bayern eine historische Niederlage beizubringen und uns zum Pokalsieger zu machen, gehabt, aber vertan. Im ersten Moment ein lähmendes, beschissenes Gefühl. Aber später am Abend, als ich das Erlebte nach ein, zwei Bierchen verarbeitet hatte, konnte ich den Abend doch sehr genießen. Ich war gerade mal 20, hatte im Pokalfinale in Berlin gestanden, erfolgreich gegen den Weltklassemann Roy Makaay verteidigt und der Bundeskanzlerin die Hand geschüttelt. Nicht schlecht für ein erstes Jahr in der Bundesliga.
Das wurde mir wenige Wochen später, als die Saison endgültig beendet war, wir nicht nur die Klasse gehalten hatten, sondern uns auch für den Europapokal qualifiziert waren, richtig bewusst. Bundesligadebüt, Stammspieler, Einzug ins Pokalendspiel – wer hätte das noch in der Winterpause für möglich gehalten? Ich jedenfalls nicht.