Читать книгу DSA 128: Der Pfad des Wolfes - Alex Spohr - Страница 6

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Krallessa

Der Himmel über dem Moor war bereits dunkel, Sindarras goldstrahlendes Auge, das Dharra, hatte sich hinter den Horizont zurückgezogen und dem silbernen Auge Makkas Platz gemacht. Es war der Abend der Sommersonnenwende. Eine frische Kühle hatte sich langsam über das Land gelegt und schlich sich auch in die Glieder zweier Männer. Sie marschierten in Richtung des vor ihnen liegenden Hügels inmitten der sumpfigen Landschaft.

Der eine war ein alter Mann, sein Haar lang und verfilzt. Eigentlich war es bereits ergraut, doch heute hatte er es nach Art der Brenchi-Dûn weiß und rot gefärbt: rot für das Blut und das Opfer, weiß für den Pfad, dem sie folgten. Sein Bart war kurz und gänzlich mit Pflanzensaft und verkrustetem Blut rot gefärbt. Nur wenig trug er mit sich: einen Überwurf aus Fellen, eine Lederkette mit kleinen Steinen, Knochensplittern und Blättern, einen Trinkschlauch und an seinem Gürtel eine Knochenkeule aus dem Bein eines Wolfes sowie eine kleine Trommel.

Der andere war deutlich jünger, zählte vielleicht zwanzig Winter. Er war kräftig und sein Haar kürzer als das des Älteren. Auch war es nicht ergraut, sondern schwarz. Anstelle der Gewandung eines Schamanen trug er den gewickelten Rock eines Kriegers, an seinem Gürtel hing ein gjalskerländisches Schwert, und auf seinem Rücken pendelte ein Speerköcher mit sechs Wurfspeeren hin und her. Zudem hatte er eine Bakka dabei, eine rituelle Klaue, die aus Bein und Holz gefertigt war. In einer ledernen Tasche trug er ein zusammengewickeltes Fell. Nur ein einziges Thar’an Mór – ein Hautbild – zeichnete sich um seinen Bauchnabel herum ab: das Zeichen der Schlange auf dem Sonnenrund. Er befand sich noch in der Zeit der Blüte – kurz vor seiner Krallessa. Sein Blick war entschlossen, und seine Miene verriet große Anspannung.

Viele Jahre lang hatte Daragh, der klügste aller Brenchi-Dûn Mortakhs, seinen Freund und Schüler Druan auf diesen Tag vorbereitet. Heute sollte er endlich dem Pfad des Wolfes folgen und die Macht seines Odûn kennenlernen. Seine erste Reise stand kurz bevor, und Daragh hatte bereits alle Vorkehrungen getroffen, um ihm den Weg aufzuzeigen. Nur gehen musste er ihn allein. Lang war es her, dass Daragh Druans Bestimmung erkannt hatte. Wie durch ein Wunder hatte er als Kind den Angriff eines Ogers überlebt, aber auch nur, weil der Madadh selbst ihn beschützt hatte. Es war ein Wolf gewesen, der sein Leben für das des Kindes gegeben hatte. Seither wusste Daragh, dass in Druan ein Durro-Dûn heranreifte, ein Tierkrieger. Seit diesem Tag hatte er ihn in die Wildnis mitgenommen und ihn viel über das Wesen der Götter und der Natur gelehrt. Der wissbegierige Junge war ein gelehrsamer Schüler gewesen. Und nun war endlich die Zeit der Prüfung gekommen.

»Wann sind wir da?«, fragte der Jüngere.

»Bald schon. Komm«, antwortete ihm der Brenoch-Dûn.

Druan verspürte schon seit Tagen eine Anspannung, die er so bisher nicht gekannt hatte. Er malte sich seit Langem in seinen Träumen aus, was passieren würde an jenem Tag, wie es sein würde, in der Welt der Geister, der Heimat des Odûn, zu wandeln. Was würde er sagen, wenn er dem Madadh, dem Großen Wolf, begegnete? Und was würde geschehen, falls er bei dieser Prüfung versagte?

Druans Bedenken mehrten sich mit jedem Tag. Schon seit Wochen wälzte er sich nachts in seiner Schlafstätte hin und her, das kleinste Geräusch riss ihn aus den Träumen, wenn er denn überhaupt einmal Schlaf fand.

Nun hatten die Männer endlich das Moor erreicht. Hier lag der Zugang zu der Welt der Odûn.

Das Ugnarmoor war selbst am helllichten Tag ein unheimlicher Ort. Auch Daragh zog es vor, ihm fernzubleiben. Es waren nicht die wilden Tiere, die den Gjalskern Angst vor dem Sumpf machten. Mit Wölfen, Schlangen und dem Ungeziefer kannten sich Daragh und Druan gut aus und fürchteten höchstens die Schädeleulen, die von großem Hass auf alle Durro-Dûn und Brenchi-Dûn getrieben wurden. Sendboten der Mochûla nannte Daragh sie. Er trug am Hinterkopf die Narbe von einem Angriff einer Eule. Damals war er noch ein Kind gewesen und hatte einen großen Respekt, ja geradezu eine gewisse Furcht, vor den Schädeleulen zurückbehalten.

Doch dieser Sumpf war den Gjalskern deshalb unheimlich, weil sie hier ihre Toten aufbewahrten. Die Mortakher ließen die Überreste der Verstorbenen an einer bestimmten Stelle in ein Moorloch hinab, wo sie verharren konnten, bis die Zeit der Wanderung nach Amanma Rudh gekommen war. Dann brachte man sie zum Meer, damit sie ihren Flug in Zwanfirs Reich Marthyr vollziehen konnten. An drei dieser Wanderungen nach Amanma Rudh hatte Druan schon teilgenommen, doch noch immer war es für ihn ein unheimliches Ereignis. Wenn es etwas gab, vor dem er sich fürchtete, dann war es die Totenwelt Zwanfirs. Sein Schwert konnte Geistern nichts anhaben, und alles, was nicht bluten konnte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Das Ugnarmoor war ein Zugang zur Welt dieser Geister. Und das war es, was ihm und anderen Mortakhern Angst machte. Mit zehn Orks gleichzeitig hätte er es aufgenommen. Aber Geister …

Verkrüppelte Bäume markierten den Weg durch den Sumpf zu dem Geisterpfad, den sie suchten. Druan ging hinter Daragh her, der zielsicher auf einen heiligen und nur den Brenoch-Dûn bekannten Ort zusteuerte. Von dort aus sollte Druans eigentliche Reise beginnen, und je näher sie dieser Stelle kamen, desto nervöser wurde der junge Krieger.

Ich hoffe, ihr Götter steht mir bei. In vielen Nächten habe ich zu euch gebetet. Nun helft mir, meine Suche zu überstehen. Andernfalls kehre ich in Zwanfirs Reich ein, kann euch nicht mehr anbeten und auch keine Orks erschlagen. Also schenke mir Kraft, Natûru-Gon, und du mir Weisheit, Sindarra …

Trotz seines stummen Gebets war Druan nicht wohl bei dem Gedanken an das Moor und seine Prüfung. Nicht alle Tierkrieger schafften es, die Krallessa, die Prüfung, zu überleben.

Sie waren auf dem Pfad nicht allein. Während Daragh sich nichts anmerken ließ und dem Weg zielsicher folgte, ohne sich ablenken zu lassen, blickte sich der nervöse Druan ab und an um. So erblickte er zwei kleine Finken, die trotz der einbrechenden Dunkelheit ein fröhliches Lied angestimmt hatten, und einen Molch, der in einen Brackwassertümpel verschwand, als er die beiden Menschen bemerkte.

Stumm betete Druan weiter zu Natûru-Gon, dem großen Mammut, und zu Yurrga, auf dass sie ihn bei der bevorstehenden Aufgabe begleiteten und beschützten. Druans Glaube war wie immer von großer Zuversicht geprägt und so beruhigte ihn das Gebet. Er glaubte fest daran, dass die Götter auf seiner Seite stehen würden. Selbst der überraschende Ruf einer Eule erschreckte ihn nicht mehr sonderlich, sodass er nur kurz von seinem Gebet abließ und sich schnell wieder mehr auf seine Umgebung konzentrierte.

Daragh blieb unvermittelt stehen, und Druans Muskeln spannten sich intuitiv an, als ob eine Bedrohung genau vor ihnen läge. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihn ein Wildtier als lohnende Beute betrachtet hätte. Doch der Alte schien nicht deswegen angehalten zu haben. Offenbar hatte Druan sich geirrt. Vor den beiden Männern lag eine Lichtung im Moor. Alte, verkrüppelte Eichen umsäumten einen moosbewachsenen Boden, mehrere kleinere Felsen lagen verstreut umher. Sie stammten von den Vorfahren der Gjalsker, den Gajka, die überall im Land seltsame Bauwerke zurückgelassen hatten. Man erzählte sich, dass sie mächtige Zauberer gewesen seien und selbst ihre Hinterlassenschaften noch Magie in sich bargen.

»Wir sind da«, war die schlichte Bemerkung Daraghs, bevor er damit begann, den Inhalt seines Lederbeutels auf einem der Steine zu entleeren.

Der junge Durro-Dûn hatte noch nie verstanden, was es mit den Zauberutensilien Daraghs auf sich hatte. Die seltsamen Steine und Knochensplitter, die Kräuter und getrockneten Pflanzen, die der Alte mit sich führte, schienen je nach Situation eine andere Wirkung und Bedeutung zu haben. Mal konnte er damit Wunden heilen, mal böse Geister oder den Bhalur, den Nebel, vertreiben. Auch wenn er ihn schon viele Jahre sehr gut kannte, hatte er dennoch nicht viel von dem Wissen des alten Schamanen um die Kraft Makkas und der Geister erfahren.

Der Brenoch-Dûn schaute sich die hingeworfenen Gegenstände an, wischte sie mit der Hand mehrmals durcheinander, als ob sie ihm die Sicht versperrten.

»Es ist so weit. Lege die Haut des Wolfes an«, befahl der Schamane. Druan gehorchte und holte das einzige weitere Kleidungsstück hervor, das er dabeihatte. Vor einigen Tagen war er auf die Jagd gegangen und hatte einen einsamen Wolf erlegt. Er wusste, dass er dies tun musste, damit der Große Madadh ihn in sein Reich lassen würde. Ohne selbst ein Wolf zu werden, konnte er den Pfad des Wolfes nicht betreten. Dennoch hatte er großes Bedauern empfunden, als er das Tier erlegte. Niemals vorher hatte er das Blut von Wölfen vergossen. Und doch war es unvermeidlich.

Der Brenoch-Dûn hatte am Fuß eines Felsens Platz genommen und stellte seine kleine Trommel vor sich hin. Dann stand er wieder auf und ging zu Druan.

»Die Zeit ist gekommen. Sobald Makkas Auge den höchsten Punkt des Himmels erreicht hat, musst du dich der Krallessa stellen. Du wirst dort entlanggehen müssen. Fürchte dich vor nichts, denn die Furcht wird dein Tod sein. Und nun trink!«

Er hatte einen Wasserschlauch hervorgeholt. Druan hatte bereits von anderen Durro-Dûn gehört, dass dies das Getränk der Durro-Dûn war. Es machte einem Krieger Mut und zugleich beruhigte es ihn. Der Schamane reichte ihm den Schlauch und wiederholte noch einmal seine Worte: »Trink nun. Trink.«

Druan nahm einen tiefen Schluck von dem würzigen und scharfen Getränk, das nach einer Art Beeren- oder Kräutersaft schmeckte. Nachdem er den Schlauch ausgetrunken hatte, gab er ihn Daragh zurück, der sich wieder vor seine Trommel setzte. Mit beiden Händen schlug er abwechselnd auf die Trommel und stimmte dabei einen monotonen Gesang an, ein Gebet zu den Göttern und Ahnengeistern in der alten Sprache der Gajka.

Druan stand noch immer an der gleichen Stelle, doch in seinem Magen breitete sich ein unangenehmes Gefühl aus, als ob ihm schlecht werden würde.

Das Auge Makkas hatte den Zenit erreicht, und als er nun Daragh ansah, gab dieser ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass es Zeit war, zu gehen. Also machte er sich auf, den Pfad des Wolfes zu betreten, den einzigen anderen Weg, der zu dieser Lichtung führte, mitten durch das Moor. Die Schläge auf der Trommel hallten in seinen Ohren. Seine Haut war schweißnass, ein Zittern ging durch seinen Körper. Selbst seine Augenlider zuckten unablässig, begannen zu flattern. Fast schien es, als würde er einfach in sich zusammenfallen, doch er zwang sich, Schritt für Schritt weiterzugehen. Mühsam schaffte er es, vorwärtszukommen, doch es fiel ihm schwer.

Vorwärts! Ich schaffe das. Ich bin Druan bren Anargh vom Stamme Mortakh. Das Zittern wird mich nicht aufhalten, die Schwäche auch nicht. Der Geist des Wolfes ist stark, und Yurrga und Natûru-Gon beschützen mich! Weiter. Weiter!

Die Schläge von Daraghs Trommel wurden immer lauter und fraßen sich in Druans Schädel. Er konnte den rhythmischen Klang des Instrumentes kaum noch ertragen. So hielt er sich beide Ohren zu und begann lauthals zu schreien. Schmerzen und Krämpfe begannen ihn heimzusuchen, er bekam kaum noch Luft. Zwei weitere Schritte schaffte er, bis er auf die Knie sank. Er krümmte sich vor Schmerz und Übelkeit, seine Nägel bohrten sich in die Haut seiner Schläfen, bis Blut hervorquoll. Doch selbst seine Götter schienen ihn verlassen zu haben, denn die Tortur hörte nicht auf, sie wurde noch schlimmer. Er versuchte, aufzustehen, fiel jedoch auf den sumpfigen Boden und bemerkte nicht, dass das Schwert aus seinem Gürtel rutschte. Wie ein Schwein wälzte er sich im Schlamm, zwang sich mit schierer Willenskraft, aufzustehen.

Lasst es aufhören, o Götter, bitte. Ich halte es nicht mehr aus!

Der Klang der Trommel war so laut geworden, dass selbst seine Schreie die Geräusche nicht mehr verdrängen konnten. Er gab auf, und sein Bewusstsein schien ihn zu verlassen. Wieder fiel er auf den Boden, fast wie ein gefällter Baum. Als er sich nicht mehr rührte, wurden die Klänge der Trommel wieder leiser und langsamer. Schließlich war alles ruhig, und nur noch das Summen einiger Grillen war zu hören.

Und dann der Ruf eines Wolfes.

Als Druan die Augen aufschlug, sah er um sich herum aufgezogene Nebelschwaden. Trotz der leichten Schmerzen in seinem Schädel versuchte er schnell aufzustehen und hob sein Schwert auf, das ganz in der Nähe lag.

Der Bhalur sorgte dafür, dass Druans Angst wuchs. Jeder Gjalskerländer fürchtete den Nebel. In ihm lauerten die Geister des Bösen, der Verräter und der Feiglinge.

»Daragh, warum hast du aufgehört?«, rief er in die Schwaden hinein. Doch der Brenoch-Dûn gab keine Antwort.

Druan kehrte die etwa fünfzig Schritt bis zur Lichtung langsam und bedächtig zurück. Unsicher sah er in den Nebel, immer auf den Angriff eines Geistes gefasst. Doch dort, wo noch vor ein paar Augenblicken Daragh gesessen hatte, war er nicht mehr zu finden. Der kleine Felsen lag unberührt vor Druan, keine Spur von dem Alten. Beunruhigt sah er sich genauer um. Keine Fußspuren, weder von Daragh noch von ihm selbst!

Wie kann das sein? Niemand kann einen Weg gehen, ohne Spuren zu hinterlassen!

Etwas stimmte nicht, doch er konnte nicht sagen, was es war. Als er nachdachte, was er tun sollte, hörte er wieder den Ruf eines Wolfes, doch diesmal viel näher als zuvor.

Plötzlich bewegte sich etwas zwischen den Schwaden des Bhalur. Druan sprang zur Seite und hob sein Schwert.

Ein dunkler Schatten war mitten zwischen den Bäumen aufgetaucht. Zwei Augenpaare, rotglühende Schlitze, durchdrangen die Dunstschwaden und fokussierten Druan. Ohne zu zögern, schrie er auf und rannte mit erhobenem Schwert auf das Wesen zu, das jedoch schnell in den Nebel zurücksprang. Druans Sinne waren von jahrelanger Jagd im Dunkeln geübt, und so konnte er hören, wohin es rannte, ohne es genau zu sehen. Dort, wo es über den Boden sprang, splitterte das Holz der Bäume, und der weiche Boden gab schmatzende Geräusche von sich.

So schnell wie niemals zuvor rannte Druan hinter der Bestie her. Wie lange die Verfolgung währte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, doch nach zahlreichen Sprüngen über Steine, Pfützen und Äste fand die Jagd ein jähes Ende.

Direkt auf einem gewaltigen Felsen inmitten des Sumpfes hatte das Ungeheuer Platz genommen. Der Nebel umrahmte es, doch die Schwaden waren hier weniger dicht. So sah Druan eine Bestie von der Größe eines jungen Mammuts, mit messerscharfen Krallen und dolchähnlichen Zähnen. Die roten Augen musterten ihn, während der Leib des riesigen Wolfes angespannt blieb, angespannt, um jederzeit bereit zu sein, sich von dem Felsen auf Druan zu stürzen.

Fast bewegungslos starrte Druan das Ungetüm an. Er überlegte, wie er es schaffen könnte, die Bestie zu töten, ohne dabei als Mahlzeit für sie zu enden. Umso überraschter war er, als sich der Riesenwolf plötzlich friedfertig auf den Felsen legte und Druan eine kehlige Stimme in seinem Kopf hörte: »Bist du Druan bren Anargh?«

Druan war davon so verwirrt, dass er nach kurzem Zögern mit der üblichen Vorstellung der Gjalsker begann. »Ich bin Druan bren Anargh vom Haerad Mortakh, geboren am zweiten Tag der Welke im Ahnenmond des Jahres …«, antwortete er, bevor er unterbrochen wurde.

»Das reicht. Ich wollte nur deinen Namen wissen, nicht alles, was du in deinem Leben getan hast. Das weiß ich schon.«

»Wer … was bist du?«

»Ich bin der, nach dem du gesucht hast.«

Druan musste schwer schlucken. Nun verstand er, dass diese Bestie der Große Madadh, sein Odûn, war. Doch hatte er sich ihn immer anders, friedlicher, kleiner vorgestellt.

»Wenn du der Madadh bist, dann sage mir, was ich tun muss. Ich folge deinem Ruf schon seit meiner Kindheit, als dein Diener mich rettete.«

Es verging ein Augenblick, bis die Stimme des Wolfes wieder in seinem Kopf ertönte: »Heute gibt es nichts, was du für mich tun kannst. Du bist hierhergekommen, um mich zu finden, und du hast mich gefunden. Das Band zwischen uns wird heute bekräftigt, und für immer werden wir verbunden sein, du und ich. Meine Stärke soll in dir sein, wenn du oder dein Rudel sie benötigen. Vergiss nie, dass du auf dich selbst vertrauen musst. Die Geister des Bösen, die Diener der Mutter der Dämonen, die Calyach’an Mochûla, sind stärker geworden in den letzten Wintern. Sie werden dich herausfordern, und du musst diese Herausforderung annehmen. Bestehe deine eigene Prüfung, dann werden wir uns wiedersehen – denn so, wie du mich brauchst, werde auch ich dich brauchen. Die Dunkelheit wird stärker werden. Niemand wird sie allein bezwingen können.«

Druan spürte gegenüber dem Wolf eine Vertrautheit, die über die Bande der Familie, des Haerads oder seiner Freunde hinausging.

Der Wolf schien Druans innere Ruhe zu bemerken. »Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir uns sehen. Nein, wir werden uns, so die Götter und das Schicksal keine anderen Pläne mit dir haben, noch oft sehen. In deinen Träumen werde ich dir folgen. Doch nun ist die Zeit gekommen, dass du meinen Hauch empfängst, meine Stärke, meine Weisheit.«

Druan hatte noch viele Fragen, doch alles ging so schnell.

Er spürte, wie sich neben ihm ein rötlicher Nebel bildete und ihn nach wenigen Augenblicken vollständig umgab. Als das rote Schimmern vollständig von ihm aufgesogen worden war, fühlte er sich erschöpft. Ihm war zumute, als habe er eine ganze Nacht lang gekämpft oder sei bis nach Amanma Rudh gerannt, ohne eine Pause einzulegen. Und zugleich fühlte er sich auch mit dem Großen Madadh verbunden, als könne er dessen Gefühle spüren, als seien sie beide eins. Dieses Gefühl war ungemein beruhigend für Druan, der letzte Rest von Angst vor seinem Odûn wich, und eine innere Ruhe breitete sich in ihm aus.

»Höre mir nun genau zu. Von nun an, Druan, Sohn des Anargh, kannst du meine Kraft und Geschicklichkeit in dich rufen. Schnell wie ein Wolf wirst du sein, wenn du es willst, die Ausdauer eines Rudels wirst du haben. Und du kannst dich an deine Beute anschleichen, ohne dass sie dich hört. Ich werde weiter über dich wachen. Doch nun ist die Zeit gekommen, den Pfad des Wolfes wieder zu verlassen.«

Gänzlich ergriffen und immer noch verwirrt, wollte Druan noch etwas fragen, doch da spürte er wieder den seltsamen Schmerz an seiner Schläfe. Die Trommelgeräusche waren zurückgekehrt und wurden immer lauter. Abermals sank er zusammen, und der Wolf vor ihm wurde immer undeutlicher, bis Druan schließlich wieder das Bewusstsein verlor.

Als er aufwachte, lag er auf dem Rücken in der Nähe der Lichtung, wo er Daragh das letzte Mal gesehen hatte. Das Gefühl der Verbundenheit mit seinem Odûn, dieses mächtige, kaum zu beschreibende Gefühl war noch immer da, doch er spürte, dass alles um ihn herum fremder war, als habe er seine Heimat, den Pfad des Wolfes, verlassen und sei in die Ferne gezogen. Doch er war daheim. Er war noch immer im Ugnarmoor.

Er war geradezu erschrocken, als er den Brenoch-Dûn vor sich sah, der aufgehört hatte, auf der Trommel zu spielen.

»Daragh, wo warst du? Was ist geschehen? Wie bin ich hierher zurückgekehrt?«

»So weit war es gar nicht, ich habe dich von dort, wo du hingefallen bist, ein paar Schritte hierhergezogen, mehr nicht«, antwortete der Schamane mit einem verschmitzten Lächeln.

Druan stand auf. Ihm war übel, und er verspürte großen Durst. Sein Mund war ausgetrocknet. »Wie lange war ich ohne Bewusstsein?«

»Zwei Tage lang. Aber mach dir keine Sorgen. Das ist durchaus üblich bei der Krallessa eines Durro-Dûn. Manche waren sogar länger als du in Marthyr, der Geisterwelt. Du bist niemals mit deinem Körper von hier fortgegangen. Nur dein Geist wechselte dorthin. Deshalb hattest du auch ein anderes Gespür für Ort und Zeit. Beides wiegt anders in der Geisterwelt als hier bei uns.«

Druan war überrascht. Was Daragh erzählte, stimmte nicht mit dem überein, was er erlebt hatte. Die Reise in die Geisterwelt hatte sich real angefühlt, und sie hatte höchstens Minuten gedauert, nicht Stunden oder gar Tage. Als er in sich hineinhorchte, bemerkte er ein seltsames neues Gefühl – es war, als sei der Große Madadh immer noch bei ihm. »Ich spüre seine Kraft ihn mir. Es ist ein seltsames Gefühl.«

»Habe keine Furcht davor. Du wirst bald lernen, die Kräfte, die dir der Madadh gegeben hat, zu nutzen. Ganz von allein wirst du sie meistern.«

Druan, der sich immer noch in einem entrückten Zustand befand, nickte.

»Lass uns nun nach Hause gehen«, sagte Daragh, nahm seine Trommel und ging voran.

***

»Was hast du nun vor?«, fragte der alte Durro-Dûn auf dem Weg zum Haerad. Während sie weitermarschierten, dachte Druan lange Zeit über diese Frage nach. Wenn er ehrlich war, so musste er zugeben, dass er darauf keine Antwort wusste. Jahrelang hatte er sich darauf vorbereitet, endlich seinem Odûn zu begegnen. Ein größeres Ziel hatte er nicht vor Augen gehabt. Sicherlich, er wollte für sein Haerad da sein, er wollte seinem Rudel so gut es ging dienen, die Götter ehren und seinen Körper und Geist stählen, um Ruhm zu erlangen.

Doch wie sein weiterer Weg nun aussah, darüber hatte er sich bislang noch keine Gedanken gemacht. »Ich weiß es nicht. Eigentlich habe ich gehofft, dass der Madadh mir sagen würde, was er von mir erwartet.«

»Der Große Wolf wird dir gewiss noch sagen, was er von dir will. Heute jedoch solltest du dich freuen, dass er dich akzeptiert hat.«

Als sie die Stelle erreichten, von der aus sie das Moor betreten hatten, stand das Auge Makkas gut sichtbar am Himmel, kein Strahl von Sindarras Auge war mehr zu sehen. Die Zeit der nächtlichen Räuber war angebrochen. Doch an der Rundung von Makkas Auge konnte Druan erkennen, dass wirklich mehrere Tage seit ihrem Aufbruch vergangen waren. Das Heulen eines Wolfsrudels erklang von weit jenseits des Moores, als wollten die Wölfe ein neues Mitglied willkommen heißen.

»In zwei Tagen findet das Palenkel statt. Du hast dich noch nicht entschieden, ob du daran teilnimmst?« Daragh blickte ihn bei seiner Frage, die mehr eine Feststellung war, nicht an.

»Die Teilnahme am Palenkel ist eine große Ehre für jeden Gjalsker. Doch ich glaube nicht, dass ich diesmal schon daran teilnehmen werde.«

»Du hast doch nicht etwa Angst?«

»Druan bren Anargh fürchtet sich vor niemandem. Ich war in der Geisterwelt, dort, wo der Nebel herrscht. Dies hätte das Herz jedes Krieges mit Furcht erfüllt, doch nicht meines. Aber ich spüre eine Müdigkeit, eine Erschöpfung, in mir. Die Reise in die Geisterwelt hat mich mehr mitgenommen, als ich erwartet habe. Nein, ich werde nur zuschauen und zu den Göttern beten, dass Savia gewinnt.«

»Ahhh«, war das Einzige, was Daragh dazu äußerte. Druan hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Savia mochte. Sie war eine gutaussehende Frau, etwa in seinem Alter, und außerdem eine ausgezeichnete Jägerin. Sie war ehrgeizig und hatte schon als kleines Mädchen ihre Spielkameraden angestachelt, sich auf gewagte Mutproben einzulassen. Ja, sie wäre eine gute Frau, aber Savia hatte einige Verehrer, und darunter auch Kazan, den Sohn des Yalding.

Druan war kein Frauenschwarm. Es war ihm bewusst, dass er kaum eine Chance hatte, mit ihr einen Herzensbund einzugehen. Sie waren zu verschieden. Sie war eine gute Kriegerin und Heilerin, eingebunden im Haerad, während er abseits des Dorfes in der Wildnis lebte und nur alle paar Tage das Haerad sah. Doch sie verstanden sich ausgezeichnet, und er gönnte ihr den Sieg. Der Favorit des Palenkels war hingegen Bartakh bren Yuchdan.

Bartakh … der größte Krieger des Haerad Mortakh. Ein Durro-Dammagon-Dûn, ein Wollnashorn-Tierkrieger, der erste seiner Art seit vielen Jahren. Gon Bartakh bren Yuchdan, Sieger des Gon’da-Gon-Palenkels.

Und dennoch mochte Druan ihn nicht. Er war kaltherzig und überheblich zu den Schwächeren. Wollnashörner waren Einzelgänger. Wölfe waren Rudeltiere. So wie Druan jeden im Haerad schätzte und respektvoll behandelte, so arrogant verhielt sich Bartakh. Er hielt sich für den besten Krieger, den es gab und jemals gegeben hatte. Auch wenn Druan ihn respektierte, so wollte er mit ihm doch so wenig wie möglich zu tun haben. Schon ein paar Mal hatte es Streit zwischen ihnen gegeben.

Als sie das Moor hinter sich ließen, tauchten bald die Lichter Mortakhs auf. Nur wenige zwar, aber in der Dunkelheit, in die das Land getaucht war, konnte man sie gut ausmachen. Druan und Daragh beschleunigten ihre Schritte. Der junge Mann fühlte sich frisch und voller Freude, gestärkt durch das Erlebte. Der Alte konnte bald kaum noch Schritt halten und geriet außer Puste.

DSA 128: Der Pfad des Wolfes

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