Читать книгу LebensLust - Liebe das Leben ... - Alexa McNight - Страница 4
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Brandon Boyd hatte die süßeste Stimme, die Emma kannte. »7 am«, säuselte er in Emmas Ohr, und sie räkelte und streckte sich, drehte sich auf die andere Seite. Tatsächlich war es sieben Uhr am Morgen und Zeit aufzustehen, doch die Vorstellung, dass Brandon Boyd gar nicht für Incubus, seine Band, sang, sondern für sie, ließ sie noch ein wenig dösen. Als er bei »12 pm« angelangt war, warf Emma die Bettdecke zurück, stand auf und ging vor sich hin summend unter die Dusche. Im Anschluss grübelte sie vor ihrem Kleiderschrank darüber nach, welchen Rock sie heute tragen würde. Für andere sah es vielleicht so aus, als sei es ein und derselbe, schließlich war es immer ein schwarzer Bleistiftrock, aber Emma kannte die Unterschiede und Details natürlich. Und sie wusste auch, dass sie genau sechsundzwanzig solcher Röcke besaß. Wann immer sie einen fand, konnte sie einfach nicht widerstehen und musste ihn kaufen.
Sie entschied sich für ein Exemplar und wählte dazu ein leichtes Shirt ohne Ärmel. Es war Juni und brütend heiß in Chicago. Sie wollte nicht schon zerflossen sein, wenn sie aus der Bahn stieg. Das Shirt hatte den exakt gleichen Farbton wie Emmas Haare. Es war nicht nur rot, sondern knallrot. An ihre eigentliche Haarfarbe konnte Emma sich kaum erinnern. Ein Straßenköterblond war es wohl, das sie mit der leuchtenden Farbe aufpeppte, seit sie zwanzig war. Zwanzig – dieses Alter war schon anderthalb Jahrzehnte her und die Zeit gewesen, als sie vom Pummelchen zur Frau geworden war – ohne den Verlust ihrer Kurven. Einst hatte sie diese Kurven bedauert und verflucht, doch inzwischen waren ihr runder Hintern und die schmale Taille, natürlich verpackt in einem Bleistiftrock, so etwas wie ihr Markenzeichen. Zusammen mit dem leuchtend roten Haar. Mit ein paar geübten Handgriffen steckte sie es zurück, legte ein bisschen Make-up auf und wechselte in die Küche, um einen Bagel zu tosten und ihrem Kaffeeautomaten den ersten leckeren Latte Macchiato des Tages zu entlocken. Frühstück – das fand für Emma grundsätzlich zu Hause statt. Sie mochte es nicht, sich in der Redaktion schnell etwas zwischen die Zähne zu schieben und dabei auf der Tastatur herumzuklimpern. Das war sowas von unentspannt.
Die beiden Bagel-Hälften ploppten kross aus dem Toaster. Emma flippte sie auf einen Teller, nahm Kräuterstreichkäse aus dem Kühlschrank, schnappte sich auch ihren Kaffee und setzte sich an den Tresen, der ihre Küche vom Wohnzimmer trennte.
Während sie aß, dachte sie über die Geschichte nach, die sie am Vorabend gelesen hatte. Sie hatte sie kribbelig und so heiß gemacht, dass sie nicht hatte einschlafen können, ohne sich selbst mit dem Gedanken daran einen Orgasmus zu bescheren. Angetrieben von der verlockenden Vorstellung, an diesen Wasserspeier im Pool des Irrgartens gefesselt zu sein und mal eben aufs Feinste durchgevögelt zu werden.
Nicht irgendeine Porno-Geschichte hatte sie am Vorabend gelesen, sondern Der Irrgarten. Die siebenundachtzigste Geschichte, die einerseits nur für sie und andererseits doch für ein großes Publikum verfasst worden war.
Vor ungefähr zwei Jahren war Emma auf einen Chicagoer Blog aufmerksam geworden und dem Blogger, der sich TiWrites nannte, bald gefolgt. Seine Geschichten waren so real, so greifbar und keineswegs primitiv, aber dennoch höchst erotisch. Sie hatte ihm gemailt, ein paar komplimentgeladene Zeilen waren es gewesen, aus denen sich eine Konversation entwickelt hatte. In deren Verlauf hatte TiWrites sie aufgefordert, ihm drei Stichworte für den nächsten Blogbeitrag zu liefern. Emma hatte das gern getan, und tat es seither. Ihre letzten Stichworte waren »Irrgarten«, »Brunnen« und »Fesseln« gewesen.
Wie jede andere besaß seine letzte Story einen wirklich speziellen Charakter. Dies nicht nur, weil TiWrites so gut schrieb, sondern auch, weil seine Story aus ihrer beider Gedanken entstanden war und weil sie beide zu den Akteuren geworden waren, mit denen er immer mehr Menschen begeisterte. Mehr als fünftausend Follower hatte er mit seinen erotischen Bedtime-Stories schon gewonnen. Pro Tag kam mindestens einer hinzu.
In ihren Mails gaben sie nie etwas Privates von sich preis oder erfuhren es vom anderen. Sie sprachen nie über ihren Alltag, nicht über ihre Jobs und tauschten ganz sicher keine Fotos aus. Sie blieben einander unbekannt – aber das eigenartige Vertrauen, das sich mit der Zeit doch entwickelt hatte, war faszinierend. Nicht einmal ihre echten Namen kannten sie, und TiWrites hatte nie gefragt. Für ihn war und blieb Emma die Muse, die sich LebensLust nannte.
Das zumindest war die offizielle Version. Es war das, was TiWrites glaubte und Emma ihn glauben ließ, weil sie die Illusion nicht gegen die Realität austauschen wollte. Noch nicht – kostete das auch Mühe. Nein, sie hatte nicht geschnüffelt oder recherchiert, wie es für jemanden, der in der Journalisten-Branche arbeitete, naheliegend war. Es war eine Äußerung gewesen, die sie hatte aufhorchen lassen, und die Erkenntnis war so prompt gekommen, dass Emma für einen Moment wie vor den Kopf gestoßen gewesen war.
Beinahe einen Monat war es nun her, dass Tom, der Fotograf von KINGz eines von Emmas Carbo-loading-Rezepte fotografiert hatte. Die Rezepte waren aufgrund ihres hohen Kohlenhydratgehaltes speziell auf die Bedürfnisse von Sportlern abgestimmt. Die Linguini waren echt lecker gewesen, wie auch Tom festgestellt hatte, als er sich nach dem Fotografieren, wie üblich, darüber hergemacht hatte. Während er aß, erwähnte er seinen Blog, schien das aber in derselben Sekunde für einen Fehler zu halten und wollte davon ablenken. In Emmas Kopf hatte ein Alarm geschrillt, denn zu TiWrites jüngstem Beitrag hatte sie die Stichworte »Pasta«, »Restaurant« und »Buffet« geliefert, woraufhin er eine Story geschrieben hatte, in der eine Frau ihren Körper zu einem Buffet dekorieren ließ, damit ein Mann Nudeln von ihr essen konnte. Auf Emmas Nachhaken, hatte Tom ihr zwar mit einem Augenzwinkern, aber sehr bestimmt gesagt, dass er nicht darüber sprechen wollte. Nichtsdestotrotz hatte es Emma immer mehr gedämmert: Tom hatte eine Schwäche für Sex und Frauen. Tom hatte einen Blog, verheimlichte dessen Thema, hatte sich aber wegen der Linguini daran erinnert. TiWrites – das konnte nur eine Abkürzung für Tom schreibt sein.
Nachdem Emmas Schock, der Tom aufgrund seiner Gaumenfreuden völlig entging, abgeklungen war, musste sie an sich halten, um ihm bloß nicht um den Hals zu fallen und ihn niederzuknutschen. Der Satz »Ich bin LebensLust!«, drängte sich unermüdlich auf ihre Zunge, und die Erkenntnis erfüllte sie mit so viel Freude, dass sie beinahe geheult hätte. Denn Tom war ein bisschen mehr als nur Emmas Fotograf; er war außerdem ein begnadet guter und ausdauernder Liebhaber. Bedauerlicherweise nicht nur ihrer. Während sie sich mit jedem Mal ein bisschen mehr an ihn verlor, lebte er seinen Sexualtrieb in vollen Zügen aus und ahnte nicht, wie sehr es sie wurmte, nicht die Einzige und Einzigartige zu sein.
Nun hatte sich herausgestellt, dass Tom TiWrites war. Und für den war sie ohne Zweifel die Einzige und Einzigartige, wenn auch auf außergewöhnliche Weise. Emma hatte im Stillen triumphiert und sich ein bisschen ausgelacht, weil sie sich monatelang gegrämt und darauf gewartet hatte, dass Tom verstand, dass sie nicht wie alle anderen war. Sie wollte, dass er sich endlich eingestand, dass er und sie zusammengehörten und dass er alle anderen für immer von seiner Bettkante schubste. Einen Wink mit dem Zaunpfahl brauchte er oder auch einen Wink des Schicksals. An diesem Nachmittag hatte das Schicksal sehr heftig Winke-Winke gemacht, und Emma war klar geworden, dass Tom schon bald begreifen würde, was TiWrites längst wusste ...
Zum ersten Mal im Bett gelandet waren sie beide als Kumpels, die sich sexuell anziehend fanden. Es hatte nicht mehr werden sollen – war es prinzipiell auch nicht. Ein Fakt, den bislang nur Emma bedauerte, denn sie war der Macht der Biologie unterlegen. Sex ohne Gefühle? Wieder und wieder? Das funktionierte nicht. Nicht für sie und nicht für die meisten anderen. Was sie an Tom so mochte, mit Ausnahme seiner sexuellen Fähigkeiten? Das konnte sie nicht einmal sagen. Sie hatte ihn einfach echt gern. Ihr Herz schlug schneller, wenn sie ihn sah. Und die Schmetterlinge im Bauch, die waren ein wirklich unmissverständliches Zeichen.
Ohne Zweifel, Tom war gutaussehend. Verdammt gut aussehend. Mit seiner hellbraunen Surfer-Frisur, den beinahe femininen Gesichtszügen und den von dichten Wimpern gerahmten, mandelförmigen Augen hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Brandon Boyd. Sah Emma Tom tief in die Augen – und das hatte sie öfter getan, in allen möglichen Stellungen – dann las sie darin allerdings eine klare Botschaft: Baby, tu dir einen Gefallen und lass uns bloß Spaß haben!
Anders als Brandon Boyd säuselte er ihr nicht allmorgendlich ein »7 am« ins Ohr. Er wachte nicht einmal mit ihr auf. Weil er gar nicht erst mit ihr einschlief. Das war eine der Sachen, die Emma ändern würde! Sie wollte Tom! Für sich allein! Und sie würde ihn bekommen!
***
In der Redaktion war Emma an jedem Morgen eine der Ersten. Sie lebte im Stadtteil Buena Park, der weit im Norden Chicagos lag. Auch verkehrsbedingte Verzögerungen, deren Wahrscheinlichkeit auf der längeren Strecke höher war, galten bei KINGs nicht als Entschuldigung. Hier kam man einfach nicht zu spät. Auf dem Weg durch das Großraumbüro warf sie den schon an den Schreibtischen sitzenden, Kaffee trinkenden Kollegen einen Gruß zu, sprach kurz mit einer Redakteurin aus dem Motorsport-Bereich und ging dann zu ihrem eigenen Arbeitsplatz. Sie fuhr den PC hoch, setzte sich und erschrak, weil Tom mit fröhlich-lautem »Guten Morgen« praktisch aus dem Nichts heraus neben ihr auftauchte. Er hockte sich auf ihren Schreibtisch und trank aus seiner rosaroten Kaffeetasse. Dass ihn alle deshalb neckten, störte ihn nicht. Im Gegenteil, er machte sich seinen eigenen Spaß daraus.
»Habe ich schon erwähnt, dass dir Rot ausgezeichnet steht?«, sagte er.
Emma starrte ihn an. Sein Blick, der macht sie ... grr! Seine dreckigen Gedanken sprangen sie geradezu an und projizierten ihr die Bilder der Story ins Hirn. In ihren Gedanken zog er den Gürtel aus den Schlaufen seiner Jeans, ließ das Leder schnalzen und fesselte sie dann an den Wasserspeier eines Brunnens, um ihr die Klamotten vom Leib zu reißen, seine Hüfte zwischen ihre Beine zu schieben und sie zu ...
»Verdammt ...«, murrte sie, blinzelte und beeilte sich ein: »... oft hast du das erwähnt«, anzufügen.
»Aber das war auf deine Haare bezogen. Heute meine ich dein Shirt. Außerdem mag ich, wie knapp es sitzt. Das lässt viel Raum für ...«
»Apropos Raum ...« Emma warf einen Blick über die Schulter auf die anderen Kollegen. Da sie und Tom häufig zusammenarbeiteten, schenkte ihnen niemand Beachtung. Daran sollte sich erst einmal nichts ändern. »Der ist sehr hellhörig, dieser Raum.«
Tom wiederholte seine Worte im Flüsterton, doch Emma machte eine verscheuchende Handbewegung.
»Hau schon ab! Ich will arbeiten.«
»Du hast noch zwanzig Minuten Zeit. Entspann dich!«
»Ich bin hier, also will ich auch arbeiten.«
»Streber!« Mit einem Zwinkern verdrückte er sich zu seinem eigenen Arbeitsplatz.
Emma schnaubte. Eine Streberin war sie sicher nicht, aber es war ein wichtiger Tag. Donnerstag nämlich. Der Wochentag der Redaktionssitzung bei KINGz, und im Unterschied zu anderen Donnerstagen, die sie relaxt anging, barg dieser Tag eine Chance, die sie nicht versemmeln wollte.
Seit Emma bei KINGz begonnen hatte, schrieb sie eine Kolumne über gesunde Ernährung und wählte monatlich neue Rezepte, mit denen die Leser des He-Magazins für ihr eigenes Wohl oder das ihrer Liebsten sorgen konnten. Längst war das nicht mehr wirklich interessant, sondern nur noch bequem. Sah man von den Launen des Herausgebers ab, so war es leicht verdientes Geld. Emma tat, was sie gewohnt war und worin sie so gut war, wie kein anderer in der Redaktion. Für die Ewigkeit wollte sie diese Themen aber nicht bedienen und hatte sich schon einige Male auf die bei KINGz ausgeschriebenen Stellen beworben. Bislang hatte Leander, der Herausgeber, allerdings immer jemanden Neues eingestellt und Emma weiter die Ernährungstante sein lassen, deren Zuverlässigkeit garantiert war. Völlig überraschend war er jetzt, nach beinahe fünf Jahren, von allein auf sie zugekommen. Eine Kollegin aus dem Lifestyle-Bereich hatte gekündigt und Leander wollte Emma diese Stelle geben, vorausgesetzt, sie meisterte eine Aufgabe, die er ihr gestellt hatte: Für die Ausgaben Juli und August sollte sie die sechs erotischsten Locations in Chicago finden und vorstellen.
In den vergangenen Tagen hatte Emma also recherchiert und sich für sechs Locations entschieden. Da sie in der Redaktionssitzung sagen würde, welche das waren, war es nur logisch, dass ihr der Sinn nicht nach einer Plauderei stand. Tom hatte sie ihre Ideen bereits gezeigt, und er fand sie sehr gut. Er freute sich darauf, mit ihr zu diesen Terminen unterwegs zu sein. Natürlich tat er das, aber Emmas Vorfreude war genauso groß. Sie würde nicht nur schreiben, und er würde nicht nur fotografieren.
Während sie ihre Notizen sichtete, warf sie immer wieder einen Blick auf die Uhr. Aus reiner Gewohnheit fanden sich alle Redakteure fünf Minuten vor neun an ihren Schreibtischen ein und begannen zu arbeiten. Es war nicht auszuschließen, dass Leander pünktlich um eine Minute vor neun eintraf, und dann wollte man sich nicht gleich ein paar harsche Worte einfangen. Aber an diesem Tag ließ er sich Zeit. Erst um Viertel nach neun trudelten er und Muriel, Emmas Freundin und die Lebensgefährtin des Herausgebers, in der Redaktion ein. Wie ein eisiger Wind wehte Leander an den Schreibtischen vorbei, grummelte auf jedem Meter ein »Hey«, statt eines »Guten Morgen« und ließ seine Sekretärin mit einer Geste wissen, dass er sie in seinem Büro, das alle den Glaskasten nannten, sprechen wollte. Einen solchen Auftritt hatte es seit Längerem nicht gegeben, und Emma befürchtete, dass Leander jeden ihrer Vorschläge abschmettern würde.
Sie sah zu Muriel hinüber. Die schien nicht besser gelaunt, fuhr sich immer wieder genervt durch die dunklen Locken und mied ihren Blick. Es hatte offenbar gescheppert zwischen den beiden. Nach einiger Zeit, in der alles Friede-Freude-Eierkuchen gewesen war, hätten sie sich keinen besseren Tag aussuchen können. Emma konzentrierte sich auf ihre Notizen und war froh, als es endlich so weit war. Sie wollte es nur noch hinter sich bringen.
Leander sprach zuerst alle anderen Redakteure auf ihre aktuelle Arbeit an und wandte sich zum Schluss an Emma. Von Muriel, die für den Fall, dass alles nach Wunsch verlief, ihre direkte Kollegin sein würde, hörte sie ein leises: »Schnapp dir den Auftrag, deine Ideen sind super.«
Emma atmete durch und präsentierte ihre Locations.
Den ersten Termin plante sie im LiveAct, einem Fotostudio, das Paare während des Aktes stilvoll fotografierte. Zum Zweiten wäre das Euphoria an der Reihe, bei dem es sich um ein ganz besonderes SM-Appartement handelte. Als Nächstes würde sie das Aquarium vorstellen, eine Art Bordell, das speziell auf die Wünsche von Frauen ausgerichtet war und in dem sie selbst schon gewesen war. Der vierte Termin würde im Fucking Drama stattfinden, einem Theater, das klassische Bühnenstücke um Sex bereicherte. Die vorletzte Location war das Sin City, ein Swingerclub. Zuletzt wollte sie das Sex Come True besuchen, eine Agentur, die Sexträume wahr werden ließ, indem sie die Möglichkeit bot, sie nachzuspielen.
Emma spürte, dass ihre Ohren vor Aufregung rot geworden waren. Sie schob ihre Notizen zusammen und sah auf. Ein paar Sekunden lang betrachtete Leander sie mit regloser Miene und schwang dabei in seinem Stuhl hin und her.
Zerrupfen würde er all ihre Ideen, in der Luft zerreißen und danach würde er sagen ...
»Gut.«
Emma kräuselte die Stirn.
»Das klingt spannend«, sagte Leander weiter. »Du hast den ersten Termin für morgen Nachmittag geplant? Ist das noch so?«
»Ja, morgen bin ich im LiveAct. Das Shooting findet auf einer Terrasse ...«
»Gut«, hörte sie wieder. Die Einzelheiten schienen Leander nicht zu interessieren. Er setzte sich im Stuhl auf, wodurch er das Schaukeln endlich sein lassen musste. »Ich habe einen Fotografen kontaktiert, der dich auf deinen Touren begleiten wird.«
Emma nickte, noch immer überrascht, dass er nicht einen Einwand hatte, nicht einen einzigen Vorschlag anmeckerte. Da hatte sie sich sonst was an Argumenten zurechtgelegt, und nun brauchte sie nicht ein einziges? Das war ja absolut ... Moooment! Aus dem hinteren Teil ihres Hirns zerrte sie eine Information, die ihr beinahe entschlüpft wäre, und warf Tom, der ihr gegenüber saß, einen Blick zu. Er wirkte verwirrt.
»Ich dachte, dass Tom, wie bisher ...«
»Oh nein.« Leander hob die Hände und wandte sich an den Fotografen von KINGz. »Das ist absolut nichts gegen dich, Tom, aber ich denke, diese Fotos sind eine Herausforderung, für die wir einen Spezialisten auf dem Gebiet der erotischen Fotografie benötigen. Ich habe mit Tristan Kennedy gesprochen, und er hat sich kurzfristig Zeit genommen.«
Einige Redakteure murmelten oder raunten. Emma begann sich zu ärgern. Sie wollte mit keinem Unbekannten arbeiten. Erst recht nicht bei diesem Auftrag. Sie wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren und sich nicht auch noch an irgendeinen Menschen gewöhnen müssen. Und sie hatte sich verdammt noch mal gefreut, mit Tom unterwegs zu sein! Das konnte sie bloß nicht als Argument anbringen.
»Tom und ich sind ein echt gutes Team«, warf sie ein. »Wir sind eingespielt, arbeiten perfekt miteinander. Und er hat Portraits ...«
»Du hast schon mal von Tristan Kennedy gehört?«, unterbrach Leander sie abrupt genervt.
Das hatte Emma verdammt noch mal nicht! Und ausschlaggebend war für sie nicht, dass sie es mit einem offenbar besonderen Namen der Branche zu tun haben sollte. Für KINGz hingegen schien es eine Rolle zu spielen.
»Ich bin echt froh, dass er das mit uns durchziehen will«, erklärte Leander weiter. Sein Ton hatte noch mehr Schärfe gewonnen. »Wenn du meinst, dass er eine Nummer zu groß für dich ist, dann macht das jemand anderes, der mit ihm klarkommt.«
Eine Nummer zu groß für sie? Emmas Ärger schlug in Empörung um. Es ging vorrangig darum, dass sie aus heiterem Himmel mit Fakten konfrontiert wurde. Mit dem neuen Auftrag hatte Leander sie ins kalte Wasser geworfen und von ihr innerhalb kürzester Zeit Vorschläge gefordert. Damit, dass er ihr eine Minute vor dem Start einen Fremden als Partner zur Seite stellte, übertrieb er irgendwie. Emma biss die Zähne aufeinander. Aber wenn Tristan Kennedy der Fotograf dieses Auftrags war, dann war das eben so.
»Ich glaube nicht, dass irgendwer eine Nummer zu groß für mich ist«, antwortete sie.
Leander nickte und stand auf. »Er wird morgen Nachmittag hierher kommen, und dann könnt ihr im LiveAct durchstarten.«
Nachdem er die Tür des Konferenzraumes hinter sich zugezogen hatte, hörte Emma Muriel neben sich aufatmen.
»Für einen Moment habe ich befürchtet, dass du es vergeigst.«
Emma wartete, dass die anderen Redakteure den Raum verließen. Als Muriel sich dessen bewusst wurde, blieb sie ebenfalls, wechselte noch ein paar Worte mit einem Kollegen, schloss dann die Tür und lehnte sich dagegen.
»Wer zur Hölle ist Tristan Kennedy?« Emma feuerte ihren Stift auf den Tisch. »Und wieso muss ich mit ihm arbeiten, statt wie gewohnt mit Tom? Seit wann engagieren wir Externe, wenn wir eigene Fotografen haben? Soll meine Arbeit durch seinen Namen aufgewertet werden oder was ist hier los?«
Muriel runzelte die Stirn. »Mit den meisten Fragen adressierst du die falsche Person. Aber ich glaube, dass Leander nur an die Fotos dachte, als er Tristan Kennedy kontaktierte. Wieso regst du dich so auf?«
»Es ärgert mich, dass ich erst jetzt davon erfahre und schon morgen mit dem Typen losziehe. Ich habe das geplant, in der Annahme, dass Tom fotografiert.«
»Wo ist der Unterschied? Mal ehrlich, Tom ist grandios, wenn es darum geht, Zucchini & Co. zu knipsen, aber Menschen, die vögeln? Und wieso willst du ihn unbedingt dabei haben? Ich frage mich ja schon eine Weile, ob da was zwischen euch läuft. Falls ja, sei bloß vorsichtig! Tom ist kein Unschuldslamm und ...«
»Da läuft nichts«, knurrte Emma und war froh, dass sie Muriel nie etwas erzählt hatte. Ein paar Mal war sie kurz davor gewesen, hatte sich aber immer, wie sich nun herausstellte glücklicherweise, zum Schweigen verdonnert.
»Besser ist das.« Muriel schlenderte zu einem der Fenster. »Was genau ist also dein Problem? Hätte Leander dich um Erlaubnis bitten sollen? Hätte er fragen sollen, ob du was gegen die Zusammenarbeit mit einem der bekanntesten Erotik-Fotografen bei einem für deine Karriere enorm wichtigen Projekt hast?«
Emma stand auf und brachte ihre Nase direkt vor Muriels. »Ich habe ein Problem damit, so kurzfristig mit Fakten abgespeist zu werden ... Bei einem für meine Karriere enorm wichtigen Projekt.« Letzteres fügte sie besonders betont an. »Und außerdem nervt es, dass du ständig in ein Horn mit Leander bläst.«
Emma bereute den Satz, kaum dass er ihren Mund verlassen hatte. Erst recht, als sie Muriels kühle Miene sah.
»Du weißt, dass das nicht so ist. Genau genommen haben wir uns heute Morgen gestritten, weil ich meine Bedenken wegen Tristan Kennedy geäußert habe. Nicht wegen seiner Arbeit, sondern wegen seines Charakters.« Ein Lächeln, das keins war, verzerrte ihren Mund. »Es ist toll, sich zu Hause wegen des Jobs zu zoffen und jetzt sowas von der besten Freundin zu hören.«
Muriel ging zur Tür, riss sie auf und donnerte sie hinter sich zu.
Emma fühlte sich wie geohrfeigt ... und wie ein dummes Schaf. Ein feines Fettnäpfchen hatte sie sich da wieder ausgesucht! Mit ihren letzten Worten hatte sie prinzipiell nichts anderes bekundet, als gar nicht mal vorhandenen Neid auf Leander und Muriel.
Interessant wäre außerdem gewesen, warum Tristan Kennedys Charakter so bedenklich war, aber diese Frage würde sie heute nicht mehr beantwortet bekommen.