Читать книгу Die Verwandlung - Alexander d. Kl. - Страница 8
ОглавлениеGroße Ferien
LANGSAM ERWACHTE ER. Nein, er fuhr nicht mehr mit dem schreckerfüllten Gedanken Oh Gott, ich komm zu spät zur Schule! hoch. Jetzt war schon der dritte Tag der großen Ferien – jetzt wußte er schon beim Erwachen, daß große Ferien waren. Sechs Wochen lang herrliche große Ferien – nicht mehr früh aufstehen müssen, keine Müdigkeit mehr, keine Hetze mehr morgens. In aller Ruhe ausschlafen können. Und nach den Ferien kam er schon in die zweite Klasse – er war jetzt schon bald ein richtig großer und starker Junge!
Eigentlich ging er nämlich gerne zur Schule. Endlich kein Kindergartenkind mehr, endlich ein richtiger Schüler! Und nach den Sommerferien würde er auch kein »I-Männchen« und kein »ABC-Schütze« mehr sein – die nahm man ja nicht recht für voll –, sondern schon ein richtiger Zweitkläßler! Und diesen eingebildeten Buben vom Nachbarhaus, die ihn immer hänselten, denen würde er es schon zeigen, daß er stärker war als sie …
Sein Mut sank, als er sich an die Hüfte griff und mit dem Finger an ein dickes Polster stieß. Plötzlich kamen ihm auch die Geräusche im Haus wieder zu Bewußtsein: Das Klopfen und Schieben, die Fußtritte und die tiefen Männerstimmen. Und da begann auch schon eine Bohrmaschine zu kreischen. Oder war es eine Schleifmaschine? Er wußte es nicht. Seit Beginn der Sommerferien – der ersten großen Ferien für ihn überhaupt! – herrschte Hochbetrieb im Hause. Das ganze Haus sollte renoviert werden, seine größere Schwester und er sollten schönere Zimmer bekommen, Bad, Dusche und Klo waren eine einzige Baustelle – und weil Mama nach der Scheidung von Papa nicht mehr so viel Geld hatte, mußte sie bei den ganzen Renovierungsarbeiten selber mit Hand anlegen, soweit es ging. Und es ging natürlich nur in den großen Ferien – Mami war nämlich Lehrerin an derselben Schule, die er jetzt als Schüler besuchte!
Die großen Ferien mußten gut ausgenutzt werden, wenn in sechs Wochen alles fertig sein sollte, hatte Mami gesagt. Und deshalb mußte er, klein Mäxchen, die ganzen Ferien über brav in seinem Zimmer bleiben und Windeln tragen, hatte sie gesagt! Die Wut stieg in ihm hoch, als er das dicke Windelpolster rund um seine Hüften betastete. Windeln tragen! Er, ein stolzer Erst-, ja fast schon Zweitkläßler!
Beschämt ließ er den Kopf sinken; seine frohe Stimmung war verflogen. Wenn das seine Klassenkameraden sehen könnten – vor allem die beiden doofen Jungs aus dem Nachbarhaus! Lebenslanger Spott wäre ihm sicher. – Solange Bad und Klo hier im Haus eine einzige Baustelle waren, mußten alle in der Familie über die Straße zu einem freundlichen Nachbarn gehen, einem viel netteren als dem mit den beiden spottlustigen Rotzbuben, und dort die Toilette aufsuchen. Für ihn, klein Rudi, allerdings sei es viel zu gefährlich, allein die verkehrsreiche Straße zu überqueren, da mußte er von einem Erwachsenen begleitet werden, und die waren alle bei den Renovierungsarbeiten unabkömmlich, jedenfalls vor fünf Uhr nachmittags. Oh ja, er kannte schon die Uhr! Er wußte, wie lange das dauerte, bis der kleine Zeiger auf fünf stand und der große auf zwölf! Den Kalender kannte er auch schon: Er wußte, wie lang die großen Ferien waren. – »Am besten ist’s, du bleibst den ganzen Tag hier drin im Zimmer und trägst eine Windel – und abends führen wir dich nach drüben, baden dich und machen uns einen richtig gemütlichen Abend, hm, was meinst du?« hatte Mami fröhlich gemeint; doch was von ihr als Freundlichkeit und als bedeutendes Zugeständnis gedacht war, hatte bei ihm nur einen Trotz- und Wutanfall ausgelöst. Windeln tragen! Die ganzen Sommerferien lang! Im Zimmer bleiben! Für war eine Welt untergegangen. Immer wieder hatte er genörgelt und geschrien, geklagt und geweint in den vergangenen zwei Ferientagen, weil er sich nicht damit abfinden wollte. Vergeblich. Er hatte es lediglich geschafft, wenigstens sein »großes Geschäft« bis abends zurückzuhalten und nicht in die Hose gehen zu lassen. Wenigstens das. Magenkrämpfe hatte es gekostet, aber die Windel war unbeschmutzt geblieben. Naß und schwer, aber unbeschmutzt. Er war stolz.
Vor seiner Tür wurden Stimmen hörbar, und wenig später wurde sie aufgerissen. Rudi blieb der Mund offen stehen. »Was machst du denn hier, Tante Michaela?« rief er überrascht.
»Ja, da staunst du!« entgegnete die Angesprochene. »Deine Mama hat mich hergerufen, weil sie mit den Renovierungsarbeiten nicht allein fertig wird – und mit dir erst recht nicht!« Ihre Stimme wurde lauter. Drohend baute sie sich mit resolut vor der Brust verschränkten Armen vor ihm und seinem Bett auf. So bekamen sie sicher auch viele ihrer kleinen Patienten zu Gesicht, wenn sie renitent und widerborstig waren und den Betrieb aufhielten. Das war schließlich ihr Job als Kinderkrankenschwester im Kreiskrankenhaus, da Ordnung zu halten. Nett zu sein zu den Folgsamen und streng zu den Widerborstigen.
»Was glaubst du eigentlich, was du hier in den letzten Tagen angerichtet hast?« herrschte sie ihn vorwurfsvoll an. »Du undankbarer kleiner Fratz – das ist doch alles zu deinem Besten, die schöne Hausrenovierung hier! Du bekommst ein schönes, neu hergerichtetes Zimmer, und alles, was du tust, ist, deiner schwer arbeitenden Mutter das Leben noch zusätzlich schwer zu machen?!«
»Aber das ist so ekelhaft und nur für kleine Kinder, was Mami mit mir …«, murmelte Rudi verschüchtert, machte Michaela damit aber nur noch wütender.
»Du bekommst doch gerade ein neu eingerichtetes Zimmer, weil du jetzt ein größerer Junge wirst!« korrigierte Michaela unwirsch. »Und nur weil du mal ein paar Wochen in Windeln verbringen mußt, machst du hier so ein Riesentheater! Deine Mutter hat es nicht mehr ausgehalten, die hat mich zu Hilfe gerufen – und bevor ich ihr jetzt bei der Arbeit helfen werde, werde ich dich erst einmal gehörig zur Räson bringen – das kannst du mir glauben!«
»Will dieses Zeug nicht tragen!« klagte Rudi weinerlich und war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Papperlapapp!« wischte Michaela alle Einwände beiseite. »Ein wirklich großer und vernünftiger Junge würde einsehen, daß das alles sein muß; der würde nicht so einen Aufstand und solche Schwierigkeiten machen, sondern das alles durchstehen wie ein Mann!«
»Richtige Männer tragen auch keine Windeln!« Rudi war im Bett aufgesprungen und wollte vor Wut auf die Matratze trampeln.
»Natürlich tragen die auch Windeln!« erwiderte Michaela überraschend ruhig. »Du kleiner Stöpsel hast eben einfach keine Ahnung! Wenn strikte Bettruhe vorgeschrieben ist, werden auch die Erwachsenen im Krankenhaus oft einfach an die Betten gebunden. Die können dann nicht mehr aufs Klo und bekommen Windeln an den Popo.«
Völlig perplex starrte Rudi sie an.
»Es gibt also überhaupt keinen Grund, sich zu schämen. Was glaubst du denn, wie oft ich zehnjährigen Bübchen im Krankenhaus Windeln anlegen muß, weil der Arzt ihnen strenge Bettruhe verordnet hat? Und wie oft man sie dann festmachen muß mit so einem Brustgeschirr für Babies, weil sie sich schämen und trotz Verbot aufstehen und aufs Klo gehen wollen?«
»Zehnjährige Jungen? Das muß doch furchtbar für die sein!« rief Rudi entsetzt aus.
»Ach was, das ist überhaupt nicht schlimm!« sagte Michaela resolut und raschelte mit einem Paket, das Rudi erst jetzt wahrnahm. Ein großes Paket voller Windeln, registrierte er erschrocken. Sein Herz klopfte immer heftiger. Michaela fuhr ungerührt mit ihrem Tun fort. »Zuerst heulen sie natürlich, plärren und klagen, aber wenn wir ihnen dann gezeigt haben, wo’s langgeht und daß es auf keinen Fall anders geht, ist Ruhe im Karton, und das geht so ganz nebenbei!«
»Was geht so nebenbei?« fragte Rudi verwirrt.
»Na, das In-die-Hose-machen natürlich!« antwortete Michaela in einem Tonfall, als wäre es das Natürlichste auf der Welt bei zehnjährigen Buben oder gar bei erwachsenen Männern – und für Michaela war es das wohl auch.
Raschelnd hatte sie eine große, dicke Windel aus dem riesigen Karton gefingert. «Nach ein paar Tagen pupsen die Jungs ganz normal und selbstverständlich ins Höschen, ob die Schwestern nun gerade da sind oder nicht, ob grad viel Betrieb ist im Zimmer oder nicht. Und wenn diese großen Jungs das können, dann kann es so ein kleiner Stöpsel wie du erst recht!«
Rudi empfand diese Worte als Beleidigung und erstarrte vor Ekel und innerer Ablehnung, als Michaela sich ihm mit der aufgefalteten Windel in der Hand näherte. Das riesige Stück Zellstoff kam ihm wie eine Drohung vor.
»Beine breit! Windelwechsel!«
Rudi schüttelte stumm den Kopf, schluckte trocken und preßte ängstlich die Beine zusammen.
Michaela ließ die Windel sinken. »Bitte, wie du willst. Dann bleibt die alte eben bis heute abend dran!«
Erschrocken machte Rudi augenblicklich die Beine breit. Michaelas kurzes, trockenes Auflachen hätte ihn fast wieder verschreckt, aber da war sie schon bei ihm mit ihren großen, gewandten Händen, gegen die Widerstand einfach albern und sinnlos war. In wenigen Sekunden hatte sie ihn auf ein rasch ausgebreitetes Gummilaken gesetzt, ihn von der Nachtwindel befreit und befühlte seinen Hintern. »Nur naß – nicht voll!« stellte sie nüchtern fest, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Weißt du eigentlich, daß du damit deiner Mutter noch zusätzlich Ärger machst?« wandte sie sich nun betont resolut an ihren neuen Zögling und stemmte energisch die Hände in die Hüften.
»Zusätzlich Ärger?« Rudis Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Ja klar – oder glaubst du, wir haben das nicht gemerkt, daß du in deinem albernen Stolz dein großes Geschäft krampfhaft bis zum Abend zurückhältst, bis zum Besuch auf der anderen Straßenseite?«
Vor Überraschung verschlug es Rudi die Sprache, was nicht oft vorkam.
Michaela weidete sich an seiner Sprachlosigkeit.
»Ja, da bist du baff, was?« Sie grinste, bückte sich und fischte nach kurzem Suchen zwei kleine Gegenstände aus dem Karton. »Und damit dieser erfreuliche Zustand so bleibt …« Blitzschnell hatte sie ihm einen Schnuller in den Mund gestopft. Wie eine riesige Pflaume fühlte sich der an – waren Schnuller für kleine Kinder wirklich so groß? Es fiel ihm schwer zu sprechen.
»Der bleibt drin, wenn du nicht willst, daß ich wirklich böse werde!« drohte ihm Michaela an. Rasch riß sie ein paar Blätter von der Zewa-Küchenrolle ab und tupfte Rudi routiniert zwischen den Beinen und am Po trocken. Mit einem resoluten »So!« schloß sie ihre Arbeit schon wieder ab. »Richtig gewaschen wirst du heute abend, fürs erste muß es mit Trockentupfen gehen!«
Vorwurfsvoll starrte Rudi sie an. Sie bemerkte es und entgegnete: »Schau mich nicht so an wie ein waidwundes Reh! Mami und wir Helfer haben es alle viiieeel schwerer als du, du kannst die Sommerferien hier bequem verbringen und wirst uns nicht weiter stören bei unserer anstrengenden Arbeit – haben wir uns verstanden?«
Resigniert wandte Rudi den Blick ab, sah dabei zufällig in die Zimmerecke neben die Tür. »Warum ist denn da die Tür von meinem Kleiderschrank mit so viel gelbem Klebeband verklebt?« fragte er erstaunt.
»Na weil der Schrank auch ’raus muß, wenn wir anfangen, das Zimmer hier zu renovieren.« Michaela schien erstaunt, daß Rudi nicht von selbst draufkam. »Den Kasten schleppen wir mit Inhalt ins Nachbarzimmer, und damit dabei die Türen nicht aufspringen und die ganzen Klamotten ’rausfliegen, haben wir die Türen nicht nur abgeschlossen, sondern auch noch mit gaaanz viel stabilem Klebeband zugeklebt. Da siehst, was hier alles für dich getan wird, du undankbarer, plärrender kleiner Stöpsel!« In einer Mischung aus Indignation und Belustigung zerstrubbelte Michaela Rudi das Haar, aber der entzog sich mit mürrischem Gesicht. »Aber wie komm ich denn dann an meine Sachen ’ran, wenn das alles zugeklebt ist?« fragte er beunruhigt.
Michaela lachte genüßlich. »Ach Junge, die Sachen brauchst du doch in den nächsten Wochen gar nicht.« Als ob damit alles gesagt sei, veranlaßte sie ihn durch einen Klaps auf den Po, den Hintern anzuheben. Als er ihn wieder sinken ließ, spürte er das dicke Vlies der Windel, in der er die nächsten Stunden verbringen würde, wahrscheinlich sogar den ganzen Tag. Doch anstatt die Windel über seinen Hüften zu schließen, griff sie zu dem zweiten kleinen Gegenstand, den sie aus dem großen Paket gekramt hatte: einem schmalen, silberglänzenden Streifen mit kleinen länglichen Ausbuchtungen. Rudi konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Soooo, mein kleiner ungezogener Rudi, nun woll’n wir mal sicherstellen, daß du nicht mehr so einen ungesunden Unfug treibst, nicht wahr?« Mit sichtlichem Genuß tauchte Michaela ihre Finger in die rasch geöffnete Nivea-Cremedose, pulte knisternd etwas Längliches aus dem Silberpapier, nahm es in ihre dick cremeverschmierten Finger und legte diese an Rudis Po. Rudi machte eine reflexartige Abwehrbewegung. »Kschsch! Gaaanz ruhig bleiben!« ermahnte sie ihn mit drohend erhobenem Zeigefinger. Rudi hielt erschrocken inne und spürte, wie sein Poloch eingecremt wurde und wenig später etwas in ihn eindrang. »Was machst du da?« fragte er seine Tante ängstlich. »Ich bin doch nicht krank!«
»Aber du wirst bald krank werden, wenn du dein A-a weiter so krampfhaft bis zum Abend zurückhältst!«
Rudi spürte, wie tief unten in seinem Darm etwas langsam schmolz und alles anfing zu rumoren – noch langsam, aber unaufhaltsam.
Michaela mußte lächeln angesichts seiner Leichenbittermiene.
»Nun guck doch nicht so böse! Ich mach das doch nicht, um dich zu quälen, sondern weil du wirklich nur Schaden anrichtest mit deinem Eigensinn – für dich und uns!« Wieder zerstrubbelte sie ihm das Haar, aber ihr etwas hintergründiges Lächeln verriet, daß es bei ihr jenseits der Verantwortung für ihn doch auch so etwas wie eine gewisse Lust am Bevormunden und Schurigeln gab …
Im Handumdrehen hatte sie die neue Windel straff um seine Hüften geschlungen und mit den seitlichen Klebestreifen verschlossen. »So – und weil’s hier in den nächsten paar Tagen ganz schön turbulent zugehen wird, müssen wir dich mal eben umquartieren.« Sie streckte Rudi ihre Rechte entgegen.
Rudi erstarrte. Sein Herz machte einen Sprung. »Aber ich kann doch nicht so ’rausgehen! Dann sehen mich doch die Handwerker so! Die werden mich doch alle auslachen, wenn sie mich in der Windel sehen!«
»Im Moment sind sie gerade in der Frühstückspause. Die sind ja auch nicht solche Schlafmützen wie du; die werden schon das erste Mal müde, wenn du dich noch verschlafen von einer Seite auf die andere drehst!« Sie nickte bekräftigend und steckte ihm den riesigen Schnuller wieder in den Mund, der ihm herausgefallen war. »Und jetzt auf! Keine Zicken mehr, wenn ich bitten darf!«
Ihr Tonfall war jetzt so entschieden, daß Rudi es für ratsam hielt, folgsam ihre ihm erneut entgegengestreckte Rechte zu ergreifen. Mit festem Griff zog sie ihn aus dem Zimmer, die Stiege herunter und in ein kleines Zimmer im Erdgeschoß: das ehemalige Kleinkindzimmer seiner großen Schwester, das jetzt zu einem kleinen Gästezimmer umgebaut werden sollte.
»Warum sind denn da die Gardinen weg?« schrie er entsetzt beim Eintreten, und wieder rutschte ihm sein Schnuller aus dem Mund und fiel zu Boden. Michaela hob ihn auf, und KLATSCH! hatte er eine Ohrfeige weg. Erschrocken starrte er sie an, während sie ihm das pflaumenförmige, riesige Ding wieder in sein Mündchen stopfte und ihm die ersten Tränen in die Augen schossen. Sie zwang ihn, ihr ins Gesicht zu schauen, das er durch einen leichten Tränenschleier wahrnahm. »Wenn das noch ein einziges Mal vorkommt«, ermahnte sie ihn mit drohend erhobenem Zeigefinger, »dann ist was mit dem Kochlöffel fällig – klar!?« Erschrocken nickte Rudi und ließ sich gehorsam von Michaela in das alte, große Gitterbett seiner großen Schwester führen, die im Augenblick zum Glück zwei Wochen bei Verwandten verbrachte, welche aber leider nur ein Kind bei sich aufnehmen konnten. Die hätte ihn schön ausgelacht!
Ängstlich war er bemüht, nicht in die Nähe des Fensters zu geraten. Michaela lachte unverschämt. »Warum sind die Gardinen da weg?« fragte er sie noch einmal, diesmal aber deutlich sanfter; schließlich wollte er nicht noch einmal den Schnuller verlieren! Michaela registrierte es mit sichtlicher Genugtuung.
»Nun, diese Gardinen müssen auch endlich einmal gewaschen werden; das war schon längst einmal überfällig!« Als wäre damit alles erklärt, wandte sie sich dem Kleiderschrank zu, in dem die längst nicht mehr benutzten Kleinmädchensachen seiner mittlerweile zwölf Jahre alten Schwester hingen. Nach einigem Suchen rief sie erfreut: »Das wäre doch das Richtige, solange deine andere Klamotten unbenutzbar sind, oder nicht?« Strahlend hob sie ein altes Sonntagskleidchen von Rudis großer Schwester in die Höhe, ein rüschenbesetztes, altmodisches, weit geschnittenes »Hängerchen«, das sie wohl im Alter von vier, fünf Jahren für Sonntagsbesuche getragen haben mochte – süß, mädchenhaft und niedlich. Aber er war doch kein Mädchen! Vor Empörung spürte er einen Kloß in der Kehle, und sein Tränenfluß verstärkte sich. »Du willst mich doch nicht im Ernst in dieses Ding da stecken?« mummelte er halb erstickt und leise, bemüht, seinen Schnuller nicht zu verlieren.
»Warum denn nicht? Ist doch süß, das Kleidchen, nicht?« Sie lachte gemein. Dann wurde sie wieder ernst. »Nein, aber mal im Ernst: Irgendwie müssen wir ja sichergehen, daß wir ungestört arbeiten können – und dein Schlafzimmer muß ja wirklich ausgeräumt werden. Und nackt und nur in Windeln kannst und willst du ja nicht ’rumlaufen – also kriegst du die nächsten Wochen die alten Sachen deiner Schwester an. Ist doch eigentlich ganz logisch, oder?«
Sein Herz wurde immer schwerer und trauriger, während er ihrem hämischen Blick auswich und ängstlich zum Fenster hinstarrte. Wenn hier die Gardinen fehlten, hatte man nämlich vom Nachbarhaus ungehinderten Einblick – das Zimmer dieser ekelhaften spottlustigen Nachbarsbuben war genau gegenüber.
Michaela hatte seinen Blick bemerkt. »Tja, davor wirst du dich halt in acht nehmen müssen, daß man dich von drüben sieht«, bemerkte sie ungerührt, »und die Handwerker sind hier im Erdgeschoß gleich draußen vor der Zimmertür, das weißt du ja.« Sie trat mit dem Kleid in der Hand an ihn heran und begann es ihm über den Kopf zu ziehen. »Schön aufstehen – Arme hoch!« kommandierte sie, und er ließ es voller Wut und Trauer, aber wortlos mit sich geschehen – er mußte durch kräftiges Beißen den Schnuller festhalten, während sein Kopf durch die enge Halsöffnung gezwängt wurde.
»So, laß dich anschauen!« sagte Michaela schließlich. Auch ohne vor einen Spiegel gestellt zu werden, erkannte Rudi, daß das kurze rüschenbedeckte Blümchenkleid ihm nur gerade bis zum Hintern reichte. Die dicke Windel ragte sichtbar darunter hervor, für jeden Betrachter auf den ersten Blick zu erkennen. Inzwischen spürte er auch immer deutlicher das Rumoren und Grollen in seinem Bauch. Als eine erste Welle von Krämpfen ihn durchschüttelte, hatte er Mühe, die Beine zusammenzukneifen und den Schnuller im Mund zu behalten.
Michaela bemerkte es. »Na, bald hast du’s überstanden«, tröstete sie Rudi, herzte und tätschelte seinen Kopf. »Nächstes Mal kämpfst du nicht mehr dagegen an, hmm? Es hat sowieso keinen Zweck – und du wirst sehen, du fühlst dich danach ganz entspannt, und du kannst ganz normal dein Nickerchen machen!«
»Das geht bestimmt nicht! Das ist so ekelhaft!«
Michaela lachte nur, und diesmal klang es nicht gemein, einfach nur selbstbewußt und überlegen. »Glaubst du im Ernst, daß du das besser weißt als ich? Ich hab das doch oft genug gesehen! Nach kurzer Zeit schlafen die wie die Engelchen – leicht stinkige Engelchen« – sie lachte kurz auf – »aber sie schliefen – genauso wie du jetzt artig und lieb schlafen wirst, um deine Tante und deine Mutter nicht zu enttäuschen, nicht waaaahhr?« Mit diesen letzten, lauten Worten gab sie ihm einen Klaps auf seinen dick gewindelten Po und klappte das Seitengitter des alten Bettchens hoch. Zärtlich hob sie sein Kinn an. »Hör zu, Rudi: Ich bin sehr nett zu dir – du wirst hier nicht angeschnallt« – sie deutete mit einem Nicken auf das verstaubte Ledergeschirr am Kopfende – »aber ich werde ab und zu nach dir schauen, damit dir nichts fehlt. Und sollte ich feststellen, daß du versuchst, das Kleid auszuziehen oder den Schnuller auszuspucken, dann fände ich das gar nicht nett – hast du verstanden?«
Rudi nickte artig. Er wußte aus Erfahrung, daß mit Tante Michaela nicht zu spaßen war, wenn sie so scheinbar sanft sprach. Und wenn sie plötzlich die Tür aufriß und ins Zimmer trat, wäre es auch zu spät, den Schnuller schnell wieder in den Mund zu stopfen. Er mußte ihn also im Mund behalten. Ein Grollen aus seinem Magen war jetzt deutlich zu hören, sogar für Michaela. Rudi verzog das Gesicht und spannte alle Muskeln an. »Oh je oh je, da muß aber einer mal!« neckte Michaela ihn. »Nun ja – der Morgenschiß kommt ganz gewiß, und wenn es auch am Mittag ist. Und bei dir ein bißchen schneller.« Sie kraulte ihn zärtlich am Kopf. »Immer daran denken: Entspann dich, tu, was wir dir sagen, dann hast du es gut, und alles ist ganz leicht und einfach.«
»Krieg ich wenigstens vor dem Mittagessen eine neue Windel?« mummelte Rudi verzweifelt durch seinen dicken Schnuller.
Michaela schüttelte unmerklich den Kopf. »Die Zeit, die die Handwerker da sind, müssen wir so gut wie möglich ausnutzen. Für so einen Luxus wie einen Windelwechsel haben wir erst am Abend Zeit.«
Wieder durchfuhr ein deutlich wahrnehmbares Grollen Rudis Gedärme; er verkrampfte sich, und sein Gesicht verzerrte sich. Michaela streichelte ihn tröstend: »Ja, ja, ich weiß, wie schwer das am Anfang ist! Am besten gar nicht daran denken … Heut nachmittag kannst du in den Laufstall da drüben; den kann man durchs Fenster auch nicht sehen. Da geb ich dir dann deine Schulhefte und deine Lesefibeln, da kannst du ein bißchen üben, damit du was Nützliches zu tun hast und in der Schule noch besser wirst.«
Rudi stellte sich vor, wie er den ganzen Nachmittag in vollen Hosen Schularbeiten machen mußte, statt fröhlich draußen mit Freunden in der Sonne zu spielen oder schwimmen zu gehen, und wieder strömten ihm neue Tränen in die Augen. Das waren ja schöne Aussichten für seine allerersten großen Ferien!
Michaela schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Es ist ja nur dieses eine Mal«, tröstete sie ihn. »Da muß man halt auch einmal zurückstehen können. Und abends gehen wir dann ’rüber zu unseren netten Nachbarn, und dann wirst du gesäubert und frisch gewindelt, und wenn du artig warst, darfst du hier vielleicht noch ein bißchen fernsehen vor dem Schlafengehen.«
»Fernsehen in Windeln!« klagte Rudi.
»Pschscht!« sagte Michaela begütigend. »Ich sagte doch, da hast du dich ganz schnell dran gewöhnt, und bald wirst du es ganz normal finden, wenn dir beim Sandmännchen oder der Sendung mit der Maus die Windel naß wird. Und wenn deine Schwester wieder da ist, wird sie an meiner Stelle ein bißchen auf dich aufpassen.«
Rudi erschrak so sehr, daß Michaela seinen Schnuller festhalten mußte, sonst hätte er ihn wieder verloren. »Na na na – wer wird sich denn so aufregen? Wenn deine Schwester dich beaufsichtigt, hab ich noch mehr Zeit zum Arbeiten, und um so schneller wird das neue, schöne Heim Wirklichkeit.«
Rudi wollte sich der Magen umdrehen, wenn er an seine ewig spottlustige Schwester dachte – noch zusätzlich zu dem immer stärkeren Grummeln und Grollen, das seinen Magen ohnehin schon durchzog.
»Tja, Rudi, da mußt du wohl oder übel durch. Wir können von diesen dicken, großen, teuren Windeln auch nicht mehr kaufen als unbedingt nötig. Wir haben jetzt noch 42 Tag- und 42 Nachtwindeln, das reicht genau bis zum Ende der Ferien – nicht mehr und nicht weniger.«
Draußen wurde es laut. Männerstimmen. Geschäftiges Hin- und Hereilen bedrohlich nah vor der Zimmertür. Irgend jemand ließ Bohrmaschinen kurz aufheulen, fast wie beim Stimmen der Instrumente, bevor das eigentliche Konzert begann.
»Ach, siehst du, jetzt ist die Frühstückspause der Handwerker zu Ende, und ich muß dich jetzt allein lassen«, sagte Michaela beinahe entschuldigend, während sie schon aufstand. »Und bei der ganzen Aufregung bist du noch gar nicht zu deinem Frühstück gekommen! Paß auf«, sagte sie aufmunternd, »ich helfe jetzt kurz deiner Mama und den Männern, und wenn so in einer halben oder ganzen Stunde etwas Luft ist, dann komm ich mit einem Tablett zurück und bring dir was, Milch und Hörnchen mit Honig, hm, ist das nicht toll?« Und fort war sie mit einem letzten gutgemeinten kurzen Haarekraulen.
Rudi konnte es nicht fassen. Sollte er tatsächlich so ein leckeres Frühstück mit verschissenen Hosen einnehmen? Anscheinend meinte Michaela es wirklich ernst mit dem »Selbstverständlichen«. Ihm zogen sich alle Innereien zusammen, wenn er nur daran dachte. Oder war das dieses vermaledeite Zäpfchen? Er konnte es nicht unterscheiden. Es fühlte sich jedenfalls gräßlich an, was da in seinem Bauch rumorte.
Er schaute um sich. Er war in einem reinen Kleinkindzimmer gefangen: auf der einen Seite ein großes Laufställchen, an der Wand ein abgestellter Hochstuhl und eine alte Wickelkommode, auf seiner Seite das Gitterbett und ein kleiner Kleiderschrank. Der Bettbezug zeigte lauter Kindermotive, und die dämliche Uhr an der Wand und der Kalender daneben waren mit albernen Disneyfigürchen verziert – wo er doch so viel lieber den starken He-Man gehabt hätte. Pah – Mädchen!
Er saß jetzt halb zurückgelehnt, halb aufrecht am hinteren Rand des umgitterten Bettes, im Rücken gestützt durch die üppigen Kopfkissen, weit mehr, als eigentlich zum Schlafen nötig gewesen wären – eine »Rücksichtnahme« von Michaela? Das geblümte Rüschenkleidchen breitete sich um ihn herum aus, darunter war alles durch die Daunendecke und die üppige Windel weich und gut gepolstert.
Wieder einmal krampften sich seine Gedärme zusammen – ganz ruhig und entspannt bleiben, hat Tante Michaela gesagt … Er spreizte ein wenig die Beine, biß auf den Schnuller und erwartete den nächsten Krampf. Da kam er schon; er entspannte seinen Hintern, und mit einigen halblauten Fürzen und einem leisen Quackern quoll das reichlich bemessene leckere Mittagessen von gestern in seine Windel, die sich sofort spannte und dehnte und ihn einen prallen, warmen, klebrigen Knödel spüren ließ. Vorne wurde die Windel feucht und warm.
Wenn ich mich nicht bewege, verschmiert sich der widerliche Knödel nicht. Aber ich kann ja nicht bis zum Abend still dasitzen und mich nicht rühren, dachte er, das wäre ja noch fürchterlicher.
Ist ja eh alles egal, dachte er, entspannte sich weiter, ließ sich tiefer in die Kissen rutschen und spürte sofort, wie sich der Inhalt seiner Windel zu verteilen und zu verschmieren begann. Wieder begannen seine Tränen heftiger zu fließen. Wie durch einen wässrigen Schleier hindurch sah er auf die Uhr. Halb zehn. In zehn Minuten oder so würde Michaela mit seinem Frühstück hier erscheinen – er mußte einen aufkeimenden Brechreiz unterdrücken, wenn er daran dachte. Nie würde er sich daran gewöhnen, nie! Sollten seine ganzen Sommerferien so vergehen? Was hatte ihn seine Mutter gelobt, daß er den Kalender und die Uhr schon so gut beherrschte! Jetzt würde er all das am liebsten vergessen. Halb zehn erst – und die Handwerker blieben bis fünf Uhr Nachmittag oder so! Wann sie genau gingen, hatte ihn bisher nicht gekümmert – aber jetzt würde es sich ihm bald intensiv einprägen … Jeden Abend würde er herbeisehnen … Wie viele Abende? Auf dem großen Wandkalender umrahmte das bewegliche kleine rote Plastikrähmchen den 30. Juli – das Datum von heute. Viel weiter unten war der 11. September mit einem schwarzen Bleistiftstrich markiert; auch ohne die kleine Handschrift genau erkennen zu können, wußte er, was dort stand: »Schulbeginn«.
42 Tage! Mit einem resignierten Schniefen schloß er die tränenumflorten Augen, mummelte sich warm in die Decken ein und spürte beim Eindösen, wie sich große Teile des Knödels in seiner Windel klebrig über seine Arschbacken verteilten und langsam, aber sicher der typische »Kleinkindergeruch«, diese eigentümlich Mischung aus Puder, Plastik und A-a, im Zimmer aufstieg und sich ausbreitete.