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ОглавлениеKAPITEL 2
1967
DAS DUISBURGER MISSVERSTÄNDNIS
Eine Autobahn-Raststätte bei Bottrop. Hier verhökert der SC Preußen Münster einen Teil seiner Zukunft in ein paar Minuten an den MSV Duisburg. Notgedrungen. Natürlich ist der Klub in finanzieller Not, der dritte Anlauf zurück in die Bundesliga ist gescheitert, die Chance ist zwar besser als in den beiden Spielzeiten zuvor. Es klappt trotzdem nicht, der frühere Preußen-Torwart Herbert Eiteljörge kennt den entscheidenden Grund: „Der Verein hat sehr gute Spieler nach Münster geholt, mit der Verpflichtung des Trainers Povoslav Mihailović aber einen gravierenden Fehler gemacht.“ Der Trainer ist schuld. Im Winter verschickt der Verein Bittbriefe in der Stadt, wirtschaftlich geht es dem ambitionierten Regionalligisten nicht gut. Das Geld ist knapp, wie immer eigentlich, dabei braucht jeder Klub stabile Finanzen, eher sogar Risikokapital, um in die erste Liga zurückkehren zu können.
In Münster funktioniert das also auch im zunächst vielversprechend anmutenden dritten Anlauf nicht, Mihailović radebrecht allenfalls in Deutsch und will die überdurchschnittlichen Individualisten zum Aufstieg vor allem über Kampf und Laufstärke führen. Ein fataler Irrtum. Also müssen am Ende Spieler verkauft werden, ganz oben auf der Verkaufsliste steht im Sommer 1967 auch dieser unberechenbare junge Mann. Der gerade mal 21-jährige Erwin Kostedde ist ein Kicker mit Potenzial, aber auch einer, der nicht weiß, was er will – allerdings auf keinen Fall in eine Fußball-Dampframme der Sorte Mihailović zu integrieren ist. Zudem sind die Extratouren des Angreifers außerhalb von Training und Wettkampf zu viel, die erbrachten Leistungen können das nicht wirklich kompensieren. Es ist die Quadratur des Kreises. Mit diesem Spieler in einer dauerhaften Topverfassung hätten die Preußen einen Baustein für eine Zukunft in der Bundesliga. Aber nach zwei Saisons in der Regionalliga scheint Kostedde mehr Ballast als Leistungsträger zu sein, 35 Regionalliga-Partien mit 18 Toren sind eine gute Bilanz, gut genug für einen Transfer. Seine Ausbeute ist aber aus Sicht der Preußen in zwei Spielzeiten nicht ausreichend, um weiterhin mit dem jungen Quertreiber arbeiten zu wollen, die Fragezeichen und Ungewissheiten sind einfach unüberschaubar für die westfälische Provinz. So einen wie den hat es im Preußenstadion bisher noch nicht gegeben, da schwingt zu viel Abenteuer mit.
Von Münster nach Duisburg
Die maroden Finanzen treiben den SC Preußen zum Ausverkauf, neben Kostedde werden auch Klaus Ackermann (Borussia Mönchengladbach), Dieter Feller (VfB Stuttgart) oder Bernd Gerstner (Lüner SV) abgestoßen, einen vierten richtigen Anlauf auf ein Bundesliga-Comeback kann es so nicht geben, Münster verabschiedet sich in den Regionalliga-Tabellenkeller.
Kostedde hat derweil Fürsprecher an der Wedau. Bei den Divisionsmeisterschaften der Bundeswehr zum Beispiel hat er für Münster geglänzt, und die Duisburger Soldaten wie Rekruten am ersten Tag aussehen lassen. Der 2:0-Erfolg mit zwei Kostedde-Treffern hat Eindruck hinterlassen, der MSV will ihn, Duisburgs Stammkraft Horst „Pille“ Gecks weiß davon zu berichten.
Natürlich verspricht der neue Trainer Gyula Lóránt, dass er das Enfant terrible aus Westfalen in den Griff bekommen wird. Noch nie hat ein Chefcoach im Vorfeld die Waffen gestreckt. Diese Story ist so alt wie der Fußball, Trainer, die davon überzeugt sind, jeden Spieler in die Spur zu bekommen, sie entwickeln zu können, aus ihnen gestandene Männer, Fußballprofis zu machen. Kostedde ist doch noch jung, formbar, eine fußballerische Knetmasse, wie geschaffen für den MSV. Lóránt ist diese Denkweise nicht fremd, er, der Abwehrchef der ungarischen Wunderelf aus den 1950er-Jahren, kann auch mit den schwierigen Kandidaten arbeiten. Andererseits versteht Lóránt aber keinen Spaß, und dem neuen Angreifer will er die Flausen austreiben sowie schwerwiegende Details im Spielstil verbessern. Dass Povoslav Mihailović beim wankelmütigen Kostedde in der Vorsaison nichts Entscheidendes verbessern konnte, ist knapp 100 Kilometer weiter offenbar nicht angekommen.
Der strenge Lóránt will in Kostedde einen neuen Typ Angreifer erkennen. Aber er verzweifelt fast an ihm, ein neuer Typ Spieler, der unkontrollierbar ist. Lóránt spricht an schlechten Tagen wie ein wütender, hoffnungslos überforderter Vater über den Angreifer. Kostedde sei ein Bierfass, eine Dampfwalze, langsam und langweilig mit seinem Spiel, unerträglich. Selbst wenn Kostedde trifft, dann ist es nur Zufall. Er spürt allerdings auch, dass da was in dem jungen Kicker steckt, viel Talent, es muss geformt werden. Kostedde soll vor allem läuferisch noch besser werden, um dann auch weit auf die Flügel ausweichen zu können. Gepaart mit seiner Ballkontrolle und der Passqualität sowie dem ausgewiesenen Torinstinkt ist das der perfekte Mix, es fühlt sich ungarisch an. Feuer, Pfeffer, Marika Rökk. Unberechenbar für einen Gegner, was aus Lóránts Sicht auch dem unberechenbaren Charakter des Spielers entspricht, das will er zusammenfügen. „Der Lóránt wollte aus mir einen anderen machen. Aber ich bin kein Renner und dazu auch nicht geboren. Das hat er dann auch eingesehen“, glaubt Kostedde allen Ernstes. Die Hassliebe entflammt.
Der MSV Duisburg zahlt 30.000 Mark für Kostedde, doch beinahe platzt der Wechsel noch. Der SC Preußen hat es verpasst, den Spieler rechtzeitig auf die Transferliste zu setzen. Aber irgendwie bekommt man es in Münster Anfang Juni 1967 noch geregelt, obwohl die Frist am 31. Mai verstrichen ist. 30.000 Mark – ist das nun viel oder wenig Geld für den jungen Angreifer?
Bestaunt, begafft, beleidigt, geächtet und geachtet
Auf den ersten Blick scheint das in den 1960er Jahren erst einmal viel zu sein, den chronisch klammen Preußen hilft das auch weiter, dem MSV tut es aber nicht wirklich weh. Also ist es kein monströser Deal, beide Seiten sind zufrieden, in der Mitte hockt der junge Mann als dritte Figur in diesem Konstrukt. Er weiß zumindest, dass es für ihn in Münster so nicht weitergehen und er bei den Meiderichern auf einen Neuanfang hoffen kann. Im Kreis der erfahrenen Spieler wird Kostedde seinen Weg schon finden, die sollen ihn steuern, auch über das Training hinaus. Wer vermasselt schon die große Chance in einer Bundesliga-Mannschaft? „Schwarze Perle“ wird er mittlerweile genannt, manchmal auch der „deutsche Pelé“. Vorschusslorbeeren sind das, aber natürlich auch viel zu hoch ins Regal gegriffen für einen Akteur aus der zweiten Liga, der Regionalliga. Er ist nun ein Exot in der noch jungen deutschen Topliga, ausländische Spieler sind rar vertreten in der Bundesliga oder Regionalliga, schwarze überhaupt nicht – Kostedde ist ein Novum. Er wird bestaunt, begafft, beleidigt, geächtet und geachtet. Letzteres, weil seine Spielkunst aufblitzt. Nein, besonders schnell ist er selbst als junger Mann nicht, dafür aber ballsicher, kombinationsstark, und er kann uneigennützig den Mitspieler in Szene setzen. Es ist eine hervorstechende Qualität, dass er nicht immer bedingungslos den eigenen Vorteil sucht.
Kostedde ist nicht der „Brecher“ im Angriff, die Tormaschine, eigentlich ist er mehr ein Kreativling in der Offensive. Wie im normalen Leben, Kostedde lässt sich gerne treiben, manches Mal landet er an der richtigen Stelle. Aber auch das meint er zu spüren, der neue Vertrag ist Ballast: „Die Leute haben gleich Wunderdinge von mir erwartet.“ Dabei will er einfach nur Spaß haben. Fußball, Alkohol, Streifzüge durch die Nacht. Spielen, trinken, rumziehen, das stetig zu wiederholen ist seine Idee vom Leben. Alkohol? Er verhehlt nicht, dass er richtig zulangen kann. Auf die Frage, ob er zehn Bier und Schnaps vertragen hätte zu dieser Zeit, sagt er lapidar: „Mehr. Ich konnte was vertragen.“ In Münster wird die Palette eine Anlaufstelle. In den Diskotheken in Duisburg ist er ebenfalls schnell bekannt, Barkeeper und DJ Horst wird zu einem guten Kumpel. Es ist kein Witz, aber Horst wird ihn nach dem Ende der kurzen Duisburger Episode bei Alemannia Aachen unterbringen.
Duisburg wird also die nächste Achterbahnfahrt. Dabei ist Kostedde, wie so häufig in seiner Karriere, sofort auf Betriebstemperatur. An einem Freitagabend im August 1967, das Flutlicht geht an im Wedaustadion, debütiert er in der Bundesliga. Es ist das Revierderby gegen Borussia Dortmund, der MSV ist lange auf der Siegerstraße, die Kritiken für Kostedde sind nach dem 2:2 überragend. Fast heben die Duisburger ab, wenn Kosteddes Kopfball ins Tor und nicht nur an die Latte geklatscht wäre. Dennoch, ein Traum wird wahr, es fühlt sich an wie ein Erweckungserlebnis. Das Band mit den Fans ist geknüpft, willkommen in der Bundesliga. Alles vergessen, natürlich auch, dass der Wechsel beinahe an der Schläfrigkeit seines alten Vereins geplatzt wäre. Die Frage, ob der Spieler Erstklassigkeit kann, ist praktisch mit dem ersten Auftritt grob beantwortet. Dass er am zweiten Spieltag in Karlsruhe in die Startelf gehört, ist für den „Pelé von der Wedau“ sonnenklar. Für Trainer Lóránt nicht, der Kosteddes sich bereits abzeichnende Abgehobenheit mit einem Platz auf der Reservebank abfedern will. Der Ungar wittert genau, dass sein Stürmer manches Mal Extraklasse sein kann und dann wieder Kreisklasse. Er sieht sich als Pädagoge der harten Schule, der Kostedde als Profi erziehen muss, daher der Platz auf der Reservebank. Erst nach der Pause darf der Angreifer ins Geschehen eingreifen, in der Schlussphase entscheiden die Meidericher mit ihm die Partie zum 2:0-Sieg. Kostedde: „Ich habe beide Tore vorbereitet.“ Ach, der Lóránt …
Auf den Höhenflug folgt der Absturz
Kostedde ist in bestechender Frühform, sein erstes Bundesliga-Tor spricht ebenfalls dafür. Helmer Boelsen, der große Fußball-Analyst der „Frankfurter Rundschau“, stellt dem Angreifer ein künstlerisches Zeugnis aus. Kostedde schießt keine Tore, er jongliert und balanciert die Kugel ins Tor, das ist meist etwas Besonderes, auf keinen Fall fade Bundesliga-Normalkost. Gegen Borussia Neunkirchen (3:1) trifft er mit einem Fallrückzieher. Einen Spieltag später teilt sich der MSV die Tabellenspitze nach dem 3:1-Auswärtssieg beim Hamburger SV punktgleich mit dem späteren Meister 1. FC Nürnberg und Borussia Mönchengladbach. Was für ein fantastischer Einstand für Erwin Kostedde: „Ich dachte, ich wäre der Größte und keiner hat was dagegen gesagt. Dann ging es auch schon wieder bergab.“ Nur Lóránt hat es geahnt.
Sportlich erfolgreich sein, ein geordnetes Leben führen – das passt nicht zu Kostedde: In guten Phasen ist der Absturz bereits vorgezeichnet. Ohne einen erkennbaren Grund. Klar, die Zusammenarbeit mit dem Trainer funktioniert nicht reibungslos, aber Fans und Medien umgarnen ihn, das Gehalt stimmt. Duisburg ist unglaublich, toll, ein Traum – anfangs. Der Selbstzerstörungsmodus hat unterdessen bereits eingesetzt. „Ich hatte immer Theater mit Lóránt. Immer. Wenn wir verloren haben, machte er mich gerne zum Sündenbock.“ Aber er gesteht auch ein: „Ich hätte nie der Trainer von mir sein wollen.“
Wenn Trainer und Spieler nicht zusammenkommen, ständig Differenzen haben, keinen Konsens finden, reicht das eigentlich schon, noch mehr Probleme bedarf es dann nicht. Doch bei Kostedde laufen zudem außerhalb des Platzes die Dinge aus dem Ruder. In Duisburg wohnt der 21-Jährige in einer besonderen Wohngemeinschaft mit vier Frauen zusammen, der Erwin im Korb. Aber sein Weg führt vor allem abends oft für einen Kurztrip nach Münster. Der Tagesablauf hilft, trainiert wird tagsüber eigentlich nie, eher am späten Nachmittag oder frühen Abend, das reicht für Rückkehr und Teil-Ausnüchterung. Der Warsteiner Hof in Münster löst die Palette als ersten Anlaufpunkt ab, die falschen Freunde bleiben ihm erhalten. Die Kneipe ist nicht weit vom Bahnhof gelegen. Das ist wichtig, denn im Oktober verliert Kostedde den Führerschein und sein Auto. Ein Polizist hält den Spieler nach dem Training in der Dämmerung an, die Scheinwerfer sind gestohlen worden, vielleicht auch aus Spaß von Teamkollegen abmontiert worden, so oder so, der Wagen ist fahruntüchtig. Der Halter auch, denn Kostedde hat Alkohol im Blut, 1,3 Promille. Dafür gibt es 500 Mark Strafe vom Verein, 1200 Mark vom Gericht, und der Führerschein wird für ein Jahr einkassiert. Den Wagen, den er jetzt nicht mehr braucht, verhökert er bei einem Händler nahe des Duisburger Zoos, natürlich weit unter Wert. Er erhält 3000 Mark bar auf die Hand, eigentlich müsste die Karosse noch 8000 Mark oder mehr einbringen. Verhandlungsgeschick ist etwas anderes, aber Kostedde ist das egal. Weihnachten trampt er nach Münster. Dass ihn Vereinsvertreter dabei sehen? Auch das ist ihm egal.
Tresen statt Training
In Duisburg wird die Raubritterburg zum Fluchtpunkt, der Absturz scheint nur eine Frage der Zeit. Er kennt jede weitere Kaschemme im Hafengebiet. Tresen statt Training lautet oft die Devise. In der Sommerpause zuvor hat Kostedde einen Unfall mit einem Kumpel aus der Bundeswehrzeit, er überschlägt sich mit dem Auto auf einer Landstraße in Westfalen, beide bleiben unversehrt. Der Unfall wird vertuscht, mit einem Trecker wird der demolierte Wagen in eine Scheune transportiert, die Polizei bleibt außen vor, vom Verein bekommt das keiner mit. Aber deshalb muss Kostedde auch zunächst mit der Bahn nach Duisburg reisen, bevor er eine Unterkunft und einen neuen Wagen findet. Der Verein hilft weiter, er wohnt von da an in dieser Fünfzimmerwohnung, Toilette auf dem Flur, mit vier alleinstehenden Frauen zusammen. Er muss ein Glücksritter sein. Oder ein Raubritter. Oder auch gar nichts von beidem.
„Der kleinste Widerstand konnte mich aus der Bahn werfen, mir fehlte jedes Selbstvertrauen“, lautet eine seiner Erklärungen. Sieben Spieltage sind vorbei, als der MSV das Heimspiel gegen Braunschweig verliert, als Kostedde abtaucht, er verschwindet einfach für acht Tage. Keiner weiß, wo er steckt. Es ist zwar nicht seine erste Geldstrafe, aber sie hat es in sich: 4000 Mark sind ein Vielfaches seines Monatsgehalts, zudem wird er für vier Wochen suspendiert.
Die Lage ist ernst, Kostedde taucht in Hamburg auf, in Münster, dann auch wieder beim Training. Während der zwei oder drei Tage in Hamburg, Kostedde weiß das nicht mehr genau, fragt er bei einer Reederei nach einem Platz in einer Kajüte für die Reise in die USA. „Der Kapitän war zufällig da. Er hat mich gefragt, was ich in den USA wolle. Er meinte nur, nachdem ich ihm etwas aus meinem Leben erzählt habe, dass ich da vollkommen verloren wäre. Die Überfahrt in die USA war mir einfach in den Sinn gekommen.“ Nun kommt ihm in den Sinn, über Münster nach Duisburg zurückzukehren. Beim Zwischenstopp in der Heimat besucht er die Familie, sein Halbbruder bringt ihn schließlich nach Duisburg, keiner soll ihn sehen, Kostedde liegt auf dem Rücksitz, eine Decke über ihm.
Lóránt lässt ihn nach Ablauf der vereinsinternen Sperre wieder mitmachen, das hat er bereits gesagt, er will das hinbekommen, der Junge ist eigentlich zu gut, aber auch schräg. Torwart Dietmar Linders holt den Angreifer am Montag zum Training ab, nachdem Kostedde in einer Klinik in Duisburg-Buchholz kurzzeitig behandelt wird, sein Alkoholproblem ist schon bekannt. „Meine Mitspieler haben kurz geflachst, der Trainer nicht mit mir gesprochen, am Freitag stand ich in der Startelf“, umschreibt er sein Comeback nach einmonatiger Abstinenz. Fünf Tage nach Wiederaufnahme der Übungseinheiten spielt er 90 durchwachsene Minuten gegen Werder Bremen beim 1:1, 8500 Zuschauer sehen das, die Journalisten sind eingeweiht in die Hintergründe und halten still. Alles für Erwin, fast jeder will ihm helfen. Ihm bleiben jetzt noch zehn weitere Spieltage beim MSV.
„Am liebsten würde ich nur noch an der Theke stehen und saufen“
„Ich habe mich immer abgesondert. Kleinigkeiten haben mich fertig gemacht“, erzählt Kostedde. Er lässt sich zu einem Spruch hinreißen, als das Kapitel Duisburg geschlossen wird, der ihn sein Leben lang begleiten wird: „Ich will nicht mehr Fußball spielen. Am liebsten würde ich nur noch an der Theke stehen und saufen.“ Dieses Zitat ist in der Welt, es wird ihn verfolgen und sich nicht mehr abschütteln lassen. Seine zukünftige Ehefrau Monika ignoriert ihn zu dieser Zeit, obwohl er Stammgast in der Wirtschaft ist, in der sie hinter dem Tresen steht – vermutlich auch gerade deshalb, weil er Stammgast ist. „Ich wollte sie nur sehen, wollte eigentlich nichts trinken. Aber wenn sie mich so gar nicht angeguckt hat, bekam ich regelmäßig einen Wutanfall.“ Und Wut ertränkt er mit Schnaps und Bier. Er sagt, nach einer Stunde wäre er dann bereits volltrunken gewesen: „Und Monika hat nur den Kopf geschüttelt.“
Noch einmal versuchen es alle miteinander. Lóránts verspätete Gardinenpredigt versteht Kostedde, er will sich bessern. Mutter Maria wohnt sogar vier Wochen in der WG, damit Sohn Erwin vernünftig isst und Regelmäßigkeiten in sein Leben einbaut.
„Und was mache ich? Ich lasse sie da allein sitzen und ziehe um die Häuser.“ Das Resozialisierungsprogramm funktioniert nur oberflächlich, das Sorgenkind gibt sich nach außen hin einsichtig, macht aber weiterhin im Wesentlichen das, was es will. Sportlich reicht es nur noch für einen Doppelpack beim 3:0-Heimsieg über Alemannia Aachen. Wenig später, Maria Kostedde ist längst wieder in Münster und Weihnachten ist vorbei, taucht Kostedde in Amsterdam ab. Bereits bei der Weihnachtsfeier des MSV ist die Stimmung im Keller, Kostedde erscheint angetrunken und verspätet. Sein Platz ist am Tisch des Trainers, der ihn fragt, ob er schon geschlafen habe und wo die „Kellnerstimme“ herkomme. Das reicht, Kostedde haut ab, die kleinen Zwischenhochs können die wahre Krise nicht kaschieren.
„Ich musste immer weg.“
Karriereende mit 22 Jahren?
Fernweh. Flucht. 19 Bundesliga-Einsätze und fünf Tore stehen in seiner frischen Bundesliga-Vita. Hiermit endet das Projekt. Noch einmal folgt eine Strafe des Klubs, dieses Mal 2000 Mark und erneut vier Wochen Sperre. Vor der Saison war ein monatliches Gehalt von 1200 Mark vereinbart worden, dazu Prämien sowie ein einmaliges Handgeld von 15.000 Mark. Davon bleibt nicht mehr viel übrig. Nach neun Monaten ist alles vorbei, der Traum von der großen Karriere beerdigt. Kostedde ist einsichtig, die fristlose Kündigung des MSV nimmt er hin, er wolle den Schaden begleichen. In diesem einen Moment hört er sich so vernünftig an. Ja, er hat verstanden. Und nie wieder will er Fußball spielen, das bedeutet ihm alles nichts. Das Ende einer hoffnungsvollen Karriere mit 22 Jahren.
Eine Sport-Illustrierte stellt zudem die Frage: „Müssen Ausländer im deutschen Fußball sein?“ Bebildert wird der Artikel unter anderem mit einem Foto von Erwin Kostedde. Er fragt: „Können Sie verstehen, warum ich mich immer schuldig gefühlt habe?“ Es hätte ihn, der immer auf der Suche ist, gespalten. Denn: „Ich wollte immer gerade sein, das ging dann auch ein paar Tage. Das andere war, dass ich immer ein schräger Typ war. Man konnte sich einfach nicht auf mich verlassen.“
In den „Westfälischen Nachrichten“ steht: „Vielleicht sollte man ihn menschlich bedauern, denn er ist ein Fußballer, der mit 30 Jahren Häuser besitzen könnte, wenn es ihm nicht an Disziplin und Zielstrebigkeit mangeln würde.“ Die Zeitung stellt ihn in eine Reihe mit dem Schalker Willi Kraus, der als Bankräuber überführt wird, oder Egon Horst vom Hamburger SV, der einen Mitspieler im Training zusammengeschlagen hat. Profifußballer müssen keine hehren ethischen Ansätze erfüllen, außer, wenn sie am Boden liegen – könnte man meinen. Doch gerade dann kommt der moralische Appell oben drauf, der Anspruch an die wankelmütigen Kandidaten wird potenziert, wächst ins Übergroße.
Kosteddes Abschied vom Fußball wird angezweifelt, er kann sich trotz aller Eskapaden immer noch Vereine aussuchen, vielleicht keine Topvereine in der Bundesliga, Regionalliga geht auch so, notfalls reicht es immer noch für die neue amerikanische Operetten-Liga, Dollar statt Mark. Der Fußball verzeiht alles, gerade den unsteten Talenten wird immer wieder Kredit eingeräumt.
Erwin wird also wiederkommen, er ist zu gut als Kicker, zu jung, und Fehltritte sind dazu da, verziehen zu werden, im Fußball gibt es sowieso kein Langzeitgedächtnis. In Aachen bekommt man vom wilden Leben des Erwin K. offenbar gar nichts mit – oder hat es schon wieder vergessen.