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Die Geschichte eines Mißverständnisses
ОглавлениеWie kam es zur Parallelisierung Endes mit dem Begründer der modernen Fantasy? Unter den ersten Rezensionen zur Unendlichen Geschichte finden wir jenen Artikel der Zeit über das Werk des »deutschen Tolkien«, in dem Jürgen Lodemann, offenbar vom eigenen Vergleich überwältigt, seiner Hochachtung »vor einem, der seinen Einfallsreichtum jederzeit […] diszipliniert in der Schreibhand hat und seine Geschichte folgerichtig zum offenen Schluß_bringt«,95 Ausdruck verleiht. Nicht zuletzt diese euphorische Kritik, die den Kern der Unendlichen Geschichte mit fast bewundernswerter Konsequenz verfehlt, verleitete offenbar Heerscharen späterer Interpreten, Endes Verwandtschaft mit Tolkien zu überschätzen und seinen Roman ebenso frag- wie nahtlos ins Genre der modernen Fantasy einzuordnen.96 Den Ansatz hierzu liefert indes die Unendliche Geschichte selbst, in der Tolkien (als einziger Dichter neben Shakespeare97) wiederholt und nicht ohne Augenzwinkern zitiert wird: Das schaurige Reich Morgul etwa finden wir im Herrn der Ringe als Stadt der Ringgeister wieder; sein Bewohner, der Drache Smärg (UG 266), ist offenbar ein naher Verwandter von Smaug aus dem Hobbit. Später war Ende hingegen merklich um Abgrenzung bemüht. So antwortete er bei einer Podiumsdiskussion mit Joseph Beuys auf dessen Frage, ob die Tolkien-Lektüre sein eigenes Werk beeinflußt habe:
»Tolkien nicht so sehr. Tolkien habe ich als Schmökervergnügen gelesen. Mit Vergnügen, wie ich zugeben will.«98
Diese Distanzierung änderte freilich nichts mehr daran, daß derselbe Vorwurf des Eskapismus, dem sich Tolkien jahrzehntelang ausgesetzt sah, nun auch Ende traf, wobei der spezifische Charakter seines Werkes schlichtweg übersehen wurde. Zwei Beispiele hierfür seien in aller gebotenen Kürze angeführt. Winfred Kaminski, der in seiner »Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur« (1987) fantastische Literatur ganz allgemein verdächtigt, sie bezwecke »nichts anderes […] als ein Einlullen in irrationale Traumwelten«,99 stellt unter dem Titel »Auswege in eine andere Wirklichkeit«100 Die unendliche Geschichte als einen besonders drastischen Fall solch literarischer Realitätsflucht dar. Sein Angriff auf Ende gipfelt in dem Urteil:
Endes Texte tendieren […] zur Stabilisation der Krisenlage, weil sie Kompensationsangebote machen. Seine Ideen sind nicht etwa Komplement der schlechten Wirklichkeit, sondern deren phantastische Fortsetzung.101
Vier Jahre später veröffentlicht Heidi Aschenberg im Rahmen einer Untersuchung von »Eigennamen im Kinderbuch« ihre persönliche Abrechnung mit der Unendlichen Geschichte. Abgesehen davon, daß sie hierbei nicht zwischen dem Roman selbst und der ihn grob verzerrenden filmischen Adaption unterscheidet, was ihrer Kritik polemische Züge verleiht,102 schlägt Aschenberg in eine ganz ähnliche Kerbe wie Kaminski: Endes Werk fördere ein »unbedingtes Akzeptieren des Status quo in der ›Versöhnung‹ von phantastischer und wirklicher Welt«,103 anstatt doch den Leser zur »Überwindung der Unzulänglichkeiten der letzteren durch bewußtes und selbstbewußtes Handeln«104 anzuhalten.
Diese und vergleichbare Kritiken sind insofern bemerkenswert, als sie einen prägnanten Beweis für die Macht des Vorurteils über das menschliche Denken erbringen. Verleitet vermutlich durch die Assoziationskette Tolkien – Fantasy – Eskapismus (sowie die Erinnerung daran, daß bereits Endes Erstlingswerk Jim Knopf ins Visier »realistischer« Kritiker geriet105), übersehen Kaminski und Aschenberg völlig, daß die Gefahren jenes »Auswegs in eine andere Wirklichkeit« ein zentrales Motiv des von ihnen gegeißelten Werkes darstellen: Thematisiert nicht Ende ganze vierzehn Kapitel lang (mehr als die Hälfte des Romans!) die trughafte Verlockung, sich in Phantásien zu verlieren, bis schließlich der Rückweg in die »Menschenwelt« für immer versperrt ist? Stellt nicht die Schilderung jener Geisteskranken in der »Alten Kaiser Stadt«, denen ebendies widerfahren ist, die mit Abstand bedrückendste, ja schaurigste Szene des gesamten Buches dar? Und »versöhnt« sich nicht der diesem Schicksal um Haaresbreite entkommene Bastian, ganz als habe er Aschenbergs Kritik bereits im vorhinein gelesen, mit seiner »wirklichen Welt« schließlich durch »bewußtes und selbstbewußtes Handeln«, das ihre »Unzulänglichkeiten überwindet«? Wer solcherart den reflexiven Charakter von Endes fantastischer Erzählung außer acht läßt, die ebenso nach den Gefahren jener »Flucht ins Fantastische« wie den Möglichkeiten der Befruchtung des »Realen« durch das Imaginäre, kurzum: nach der Stellung von »Phantasie« zu »Wirklichkeit« schlechthin fragt, dem entgeht der wesentliche Teil des Romans. So aber geraten nicht nur abwertende, sondern auch positive Rezensionen wie jene Lodemanns unweigerlich auf eine schiefe Ebene: Als bloßer Fantasyroman betrachtet, reichte Die unendliche Geschichte in Wahrheit ebensowenig an The Lord of the Rings heran, wie ein noch so liebevoll gezeichnetes Phantásien neben den elaborierten Feinstrukturen Mittelerdes bestehen könnte. Indes ist Endes Werk viel mehr als das, oder genauer gesagt: Es ist etwas völlig anderes.