Читать книгу Und dann noch die Liebe - Alexander Oetker - Страница 5
Bruxelles, Rue de la Loi
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Terrorwarnstufe 3.
Das heißt, dass ich hier draußen beim Mann von Securitas meinen Presseausweis zeigen muss. Der funkt dann nach drinnen. Und dann müssen wir beide warten, auf jemanden, der mich abholt, jemanden vom Presseteam, der zu Fuß hinauskommt. Persönlich. Das macht der Pressesprecher an ruhigen Tagen zwanzigmal. Wenn aber Sitzungswoche ist wie heute, dann kann es auch zweihundertfünfzigmal am Tag sein.
Der Rat hat mal wieder seine Sicherheitsvorkehrungen überprüft – und das ist das Ergebnis: Ich bin das Sicherheitsrisiko. Und mit mir etwa 249 andere Kollegen. Nur sind die alle schon drinnen. So stehen wir also hier draußen, der Sicherheitsmann in seinem schwarzen Anzug und ich. Neben den zwei belgischen Soldaten, die diese merkwürdig blassgrüne Tarnkleidung tragen, die stets so verwaschen aussieht, dass man sie nicht recht ernst nehmen kann. In den Händen halten sie ihre riesigen schwarzen Maschinenpistolen, die aussehen wie Maschinengewehre.
Ich habe gelernt, dass ich bei Liveschalten auf dem Sender nie Maschinengewehre sagen kann, ohne dass ein Zuschauer anruft und schreit: »Hat denn der Mann nicht gedient? Das sind Maschinenpistolen.«
Die Menschen haben gerade sehr viel Zeit zum Telefonieren, scheint es.
Wir ungedienten Reporter sind also dazu übergegangen zu erzählen, hier stünden überall Soldaten mit Maschinenpistolen herum.
Diese riesigen schwarzen Dinger jedenfalls baumeln um die Hälse der beiden Soldaten, der eine blond und leicht zerzaust, der andere ein Schwarzer, die Haare kurzgeschoren, beide kaum älter als 20. Sie gucken ganz ernst, das soll abgeklärt wirken, sieht bei ihnen aber nur angestrengt aus, weil sie dabei so jung und unbeholfen wirken, dass ich fragen will, ob ich ihnen beim Tragen helfen kann. Sie müssen hier so viel verteidigen: Brüssel, Belgien, die EU. Und, weil es so schön klingt: auch die Freiheit der zivilisierten Welt. Was, wenn die Innenminister es sagen, ja immer heißt: die westliche Welt. Klare Abgrenzung. So ist die Verkaufe. Und diese zivilisierte Welt, die muss aufstehen gegen den Terror und die Barbaren. Sie erklären uns auch immer, wie wir Europäer gegen die Barbaren aufstehen müssen. Dass wir weiter unbeirrt auf Weihnachtsmärkte gehen müssen, auf Oktoberfeste, in Cafés, auf Einkaufsstraßen. Sonst hätten die Terroristen ja gewonnen.
Selbst wenn wir gar keine Lust auf Weihnachtsmarkt haben, selbst wenn es kalt ist, friert und zieht – wir müssen unsere Freiheit verteidigen. Draußen auf der Straße. Nebenbei können wir ja auch gleich noch was einkaufen, damit die Krise schnell vorbei ist.
So stehen wir also da, auf der Rue de la Loi, und wer uns sieht, der findet bestimmt, dass wir ein merkwürdiges Quartett abgeben: die Soldaten, der Securitas-Mann, der sichtbar aus dem Maghreb stammt, und der junge Journalist, der ich bin. In ausgebeulten Jeans, abgeschabten Adidas-Turnschuhen, dazu aber das gute weiße Hemd und eine Krawatte. Die minzfarbene heute. Und das Sakko, ein gutes Teil, Hugo Boss. Es stammt aus dem Fundus des Senders.
Oben hui, unten pfui also. Es gilt eben nur, was auf dem Schirm zu sehen ist, und unterhalb des Sakkos bin ich nie zu sehen, für die Fernsehzuschauer jedenfalls. Den Kollegen ist es eh egal, Zeitungskollegen sind zumeist so nachlässig angezogen, als würden sie bloß Wert darauf legen, dass die Geschichte gut ist, so wie Russell Crowe in diesem Film, in dem er einen unbestechlichen Reporter spielt.
Mein Sakko bekommt erste Tropfen ab. Natürlich nieselt es. Es nieselt oft in Belgien. Steter Nieselregen mit kleinen Tempowechseln ist für Belgien so charakteristisch wie der leicht grau verhangene Himmel für Paris oder der krass blaue Himmel für mein Berlin im Mai.
Die Rue de la Loi rauscht auf der Höhe des Europäischen Rates aus dem Tunnel unterm Jubelpark. Das ist keine Straße mehr, es ist eine Autobahn, sechs Spuren in Richtung Innenstadt, dichtgepackt mit Autos, morgens im Stillstand, jetzt am Mittag immerhin in zähem Fluss. Gegenüber steht die Kommission, diese gläserne Niere von einem Gebäude. Nebenan bauen sie auf einem riesigen Areal am neuen Europäischen Rat, es wird ein Konstrukt aus Holz und Glas. Der Sitzungssaal wird einen ganz bunten Teppich bekommen, so habe ich es auf den Plänen gesehen, das wird herrlich: graue Herren vor pink-türkisfarbener Auslegeware, mein Kameramann wird es lieben.
Immer wieder gehen Männer und Frauen am Securitas-Mann vorbei und zeigen ihren Badge. Laissez-passer steht darauf und ihr Name, ihre Abteilung, dazu ihr Foto. Auch sie sind Journalisten, festakkreditierte Journalisten mit Wohnsitz in Brüssel, die dürfen einfach so durch. Die dürfen ohnehin viel. Sie dürfen sogar gratis Zug fahren in ganz Belgien, das ist was. Mir wäre zwar nicht eingefallen, wo ich in Belgien hätte hinfahren wollen, aber die Möglichkeit hat doch was, oder?
Auch die Angestellten des Rates rasen vorbei. Und die Angestellten der Kantine des Rates. Ich aber muss hier warten, auf den Mann aus der Pressestelle. Der Weg ist weit. Das ist der Preis für den Kampf gegen den Terror im EU-Viertel. Zumindest drinnen hinter diesen Mauern.
Die Menschen draußen auf der Straße, der Blumenhändler, die wild diskutierenden Taxifahrer, die schwarze Putzfrau mit ihrem Eimer unterm Arm, sie dagegen sehen ganz schön ungeschützt aus, wie sie durch das riesige leere Quartier eilen, dieses Raumschiff, das hier eines Tages gelandet ist, am Rande von Brüssel, zwischen Flughafen und Königspalast.
Und da sind die Menschen unter uns, in der U-Bahn, die gerade aus dem Bahnhof Schuman abfährt in Richtung Maelbeek, sie sind auch ungeschützt. Was das bedeuten kann, ahnen sie in diesen Tagen noch nicht. Die Anschläge vom März liegen noch vor uns.
Endlich öffnet sich die elektrische Schiebetür und spuckt Davide aus, den kleinen alten Italiener mit dem schütteren Haupthaar, den ich so gerne mag. Er ist also dran heute, die beinahe 500 Meter Fußweg zu bewältigen, und weil Sitzungswoche ist, eben eher zweihundertfünfzig- als zwanzigmal. Ich lache ihn an, er lacht zurück.
»Ciao, come va?«
»Bene«, antwortet er. »Ça va être une longue journée«, fügt er auf Französisch hinzu, er spricht, wie alle, die seit gefühlten 100 Jahren in Brüssel wohnen, alle Sprachen, die es gibt. Er zieht das Gesicht in Falten.
Eine lange Sitzung. Wenn Davide das schon am Beginn eines Tages ankündigt, dann wird es nicht nur eine lange, sondern eine schier endlose Sitzung, die bis morgen früh dauert.
»Na, aber mit deinem Transferdienst heute wird es dir wenigstens nicht langweilig.«
Er grinst, rollt mit den Augen.
Nun machen wir den restlichen Weg zusammen. Die Soldaten und der Securitas-Mann treten auf die Seite, die elektrische Schiebetür surrt, und dann höre ich schon das Piepen der Metalldetektoren und der Röntgenmaschinen. Sicherheitsschleuse. Davide schlüpft durch die Tür, er muss diese Prozedur nicht mitmachen.
»Bonjour«, begrüße ich die beiden Sicherheitsmänner an der Schleuse und lasse mich durchleuchten. Nach weiteren zwei Minuten – mein Schlüsselbund steckte doch noch in der Jeans – betrete ich die große Halle mit dem gläsernen Dach, ein leeres Ungetüm, das wie das Innere dieses Raumschiffs aussieht, das Europa ist.
Roter Stein, der aussieht wie blutender Marmor, braune, riesige Fliesen auf dem Boden und Balkone rund um die Halle, noch sind sie leer, noch stehen da keine Reporter, keine Kameras, sind da keine Lichter. Nur die Eurovision hat für die Kollegen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen schon ihre Schaltposition aufgebaut.
Wir laufen in Richtung Haupttür. Darüber die Fahnen aller europäischen Mitgliedsstaaten und das spezielle Logo des Staates, der in diesem Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Derzeit ist das Lettland, ein recht einfallsloses Logo aus zusammengesetzten Buchstaben. Zypern hatte mal eine stilisierte Kogge aufgebaut, und irgendein Land hatte den Boden beklebt mit illustrierten Füßen, auf die man die eigenen setzen konnte und dann wie auf dem Schulhof hin- und herspringen. Das war lustig, es hatte nur nichts mit dem Land zu tun, für das das Logo stand, weswegen ich vergessen habe, welches es war.
Wieder surrt eine Tür, diesmal eine Drehtür, wir treten hindurch, dann winkt mir Davide zu, ruft »Ciao, caro«, bis später, ein kurzer Abschied, man grinst sich wissend an, wir werden einander noch oft sehen an diesem Tag. Oft und lange. Bis morgen früh wahrscheinlich. So ist das, wenn sich die EU-Finanzminister treffen. Es geht um Griechenland. Wieder einmal. Wie seit mittlerweile so vielen Jahren.
Im Atrium ein Glaskasten. So unwirklich, dieser Glanz des Goldes. So ungewöhnlich wie die Umgebung. Ich stehe vorm Friedensnobelpreis. Genauer: der Medaille des Nobelpreiskomitees für die Europäische Union. Der Rat hat sie hier in den Flur stellen lassen, in diesen zugigen Durchgang, in einen Glaskasten, der, so scheint es, als einziges Objekt im ganzen Gebäude regelmäßig geputzt wird. Daneben stehen der Geldautomat und der Infopoint.
Da liegt sie nun auf einem roten Kissen, diese goldene Münze, umgeben von Sicherheitsglas. Der weltwichtigste Preis für Frieden und Verständigung. Der eine Anerkennung sein soll, aber irgendwie immer mehr zur Bürde wird. So wie bei Obama. Der konnte nach dem Preis auch nichts mehr richtig machen. Bisschen Krieg hier, mal schnell Bin Laden umlegen. Und Guantánamo ist immer noch da.
Ja, Europa ist der Garant für Frieden auf dem Kontinent. Nun schon so viele Jahre. Doch mittlerweile ist es eine Union, in der sich viele alte Männer und wenige junge Frauen die Köpfe einschlagen, heute Abend wird es wieder so sein, auf dieser Sitzung, der Anlass ist die Frage, ob ein Land seinen Rentnern nochmals die Notrente kürzen kann. Eine Union, die es vermeidet, den Schwachen Kohle zu leihen, weil die Reichen, die ständig von den Schwachen profitieren, die Kohle nicht rausrücken wollen. Eine Union, die dafür den Banken Milliardenbürgschaften gibt, weil die ja systemrelevant sind. Eine Union, die ein Gesetz verabschiedet, das alle Flüchtlinge da lassen will, wo sie anlanden, in zweien der ärmsten Länder der EU. Eine Union, die sich gegen Terror schützt, indem ein Italiener einen Deutsch-Franzosen zu Fuß abholt, um ihn ins Ratsgebäude zu lassen.
Das ist mein Alltag. Das ist Bruxelles.